Litauische Großflotten Massenschlaflager

Foto: Julian Hoffmann, Montage Oswin Zebrowski
Meinung

Sozialbetrug in Germersheim? Nein, nur ein Beleg, wie litauische Großflotten die unpraktikablen Vorgaben des EU-Mobilitätspaketes praktisch umsetzen.

Die Aufregung in Germersheim, einer Stadt mit rund 21.000 Einwohnern an der B 9 zwischen Speyer und Wörth, hat sich mittlerweile wieder gelegt. Die Bild hatte früh über einen möglichen Sozialbetrug in einem ehemaligen Hotel mit lediglich acht Zimmern, aber 120 Namen an drei Briefkästen spekuliert. Die lokale Zeitung Pfalz-Express hatte die tatsächlichen Hintergründe zuletzt etwas geradegerückt.

Eine reine Unterkunft für Fahrer

Das umgebaute und unter der Woche oft verwaiste Haus diene als Unterkunft für die Fahrer einer Spedition, stellte der Bürgermeister Marcus Schaile klar. Die Fahrer seien alle korrekt angemeldet. Keiner beziehe ungerechtfertigt etwaige Sozialleistungen. Das ist derzeit gerade in Deutschland ein heißes Thema. Vor allem in den sozialen Medien. Das Gebäude, das schon als Hotel nicht zu den ersten Adressen der Stadt zählte, sei lediglich ein „Massenschlaflager“, und das eigentliche Problem der Lärm, den die ständig wechselnden Fahrer verursachen, wenn sie mit Sprintern zur Verbringung ihrer Ruhezeiten dorthin gebracht und wieder abgeholt werden.

Mittlerweile sind nur noch 77 Fahrer dort offiziell angemeldet. Ihre Namen sind, nach Alphabet sortiert, in einen großen Kasten für jedermann ersichtlich. Eine Verpflichtung dazu gibt es nicht. Auch keine nachweisbare Überbelegung bei einer wohl rotierenden Nutzung der Betten. Aber es dient den Behörden als schneller Überblick – und beruhigt vor allem die Gemüter in Germersheim.

Briefkasten mit bekanntem Logo

Insider haben natürlich auf den veröffentlichen Bildern der alten Briefkästen das Logo der litauischen Hegelmann-Gruppe entdeckt, die auf ihrer Homepage von über 5.500 eigenen Lkw spricht und in Deutschland in einem alleinstehenden Bürokomplex ohne Lkw-Parkplätze an der A 5 bei Bruchsal residiert. Dort ist nach eigenen Angaben seit 1998 der Sitz des familiengeführten Unternehmens. Das ist verwirrend. Denn dort sitzt auch die Hegelmann Express GmbH, die auf Anfrage mit deutschem Verkaufspersonal Transporte anbietet. Durchgeführt wurden sie bislang vor allem durch die in Litauen zugelassenen Fahrzeuge der Hegelmann-Gruppe.

Mit deutschen Nummern und deutscher Flagge

Besetzt sind diese litauischen Lkw, wie mittlerweile bei allen Großflotten aus diesem Land, meist mit Fahrern aus Belarus, der Ukraine und auf Grund des bekannten europaweiten Fahrermangels und des Ukraine-Krieges immer öfter aus den ehemaligen GUS-Staaten oder aus Zentralasien. Die Fahrer allerdings, die in dem wohl von der Hegelmann Express GmbH gemieteten Gebäude in Germersheim wohnen, tragen überwiegend rumänische Namen. Das wirft natürlich Fragen auf. Auch, wie viele Lkw mit deutschen Nummernschildern und teilweise deutscher Flagge von Hegelmann-Express mittlerweile tatsächlich in Deutschland eingesetzt werden. Die wiederum in der Zentrale in Litauen ansässige Compliance-Abteilung der Hegelmann-Gruppe wollte die Fragen entsprechend intern weiterleiten – eine Antwort ist trotz dreier Rückfragen mit Frist am vergangenen Freitag nicht erfolgt.

Foto: Julian Hoffmann

Keine Antwort von Transalbert

Das Unternehmen Transalbert aus Südtirol wollte sich selbst ebenfalls nicht zu dem ursprünglichen Vorwurf der Bild äußern. Dabei parken deren Auflieger mit dem noch bekannten Logo zusammen mit einigen in Deutschland zugelassenen neuen Fahrzeugen von Hegelmann auf einem der eigenen Hegelmann-Gelände im Umfeld von Bruchsal und Karlsdorf-Neuthard – hier konkret in Philippsburg-Huttenheim an der B 35 auf der anderen Rheinseite von Germersheim.

Transalbert wurde bereits 2021 von der Hegelmann-Gruppe übernommen, sollte aber komplett eigenständig bleiben. „Wie bei anderen Aufkäufen“, so heißt es, „ist jedoch auch hier bereits klar, dass etwa durch Ersatzbeschaffungen der Name Transalbert nach und nach von der Bildfläche verschwinden wird.“ Nach Angaben der Bild sind nun zunächst die Namen der Fahrer der Transalbert Deutschland GmbH mit den Briefkästen vom Hotel in Germersheim komplett verschwunden. Das ist zumindest intransparent.

Die Folgen des EU-Mobilitätspaketes

Illegal ist es wahrscheinlich nicht. Auch wenn Transalbert/Hegelmann keine Antwort gibt, wo diese Fahrer nun alternativ ihre Ruhezeiten verbringen. Bereits im Oktober 2020 hatte Siegfried Hegelmann persönlich in der Fachpresse beklagt, dass das im August 2020 unter anderem in Kraft getretene Verbot, die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit ab der 45. Stunde nicht mehr im Lkw sondern in einer geeigneten alternativen Unterkunft, etwa einem Hotel, zu verbringen, nicht praktikabel sei.

In der Tat, wie ich es im Blog-Artikel „Total verfahren“ beschrieben habe, gibt es für die konsequente Umsetzung der geänderten EU-Verordnung 561/2006 gerade in Deutschland nicht die verfügbaren Hotelkapazitäten, die für die Fahrer von schweren Lkw erreichbar sind. Andererseits ist die schiere Masse der Fahrzeuge aus Osteuropa vor allem in den deutschen Terminals des Kombinierten Verkehrs und den Binnenhäfen mittlerweile so groß geworden, dass es selbst beim sofortigen Neubau von Hotels an nicht vorhandenen Standorten keine ausreichenden Kapazitäten geben würde. Die „gute alte Zeit“, dass die meisten Lkw-Fahrer jedes Wochenende daheim sind oder bei einer längeren internationalen Tour ein Wochenende im Lkw verkürzen können, ist vorbei.

Ein schlecht verhandelter Kompromiss

So ist es auch bekannt, dass Hegelmann in Deutschland und in Österreich Hotels gekauft oder gemietet hat. Doch eins ist klar: in diesem aus westeuropäischer Warte schlecht verhandelten Kompromiss des Mobilitätspakets gibt es zwar eine komplexe Regelung, die es – hier vor allem den Fahrern auf in Osteuropa zugelassenen Lkw – erlaubt, im grenzüberschreitenden Güterverkehr zweimal hintereinander eine reduzierte wöchentliche Ruhezeit einzulegen. Die dafür nötigen ganz bestimmten Bedingungen habe ich in diesem Blog-Artikel genau erläutert. Diese reduzierte wöchentliche Ruhezeit kann dann im Prinzip auch im Lkw verbracht werden. Das gilt aber grundsätzlich nicht für rumänische oder polnische Fahrer, die offiziell in Deutschland gemeldet sind und auf deutschen Lkw nur nationale Transporte durchführen. Eine Kontrolle hat die EU-Kommission bereits 2019 maximal erschwert, da die Behörden, wie ich es im Blog-Artikel BALM-Sonntag beschrieben habe, einen Beleg – selbst einen möglicherweise gefälschten – für eine Übernachtung in einem Hotel oder einer alternativen Unterkunft gar nicht einfordern dürfen.

Die deutschen GmbHs der Litauer

Wer die Branche aufmerksam verfolgt, stellt fest, dass vor allem die litauischen Großflotten mit Inkrafttreten der einzelnen Stufen des Mobilitätspakets gerade im nach wie vor lukrativen Frachtmarkt Deutschland eigene GmbHs meistens in reinen Bürokomplexen gegründet haben. Dafür suchen sie „deutschsprachige Fahrer“, deren meist immer noch aus Litauen kommende Lkw nutzen aber weiter den knappen öffentlichen Parkraum. Auch an den Wochenenden. „Deutschsprachig“ klingt nach Qualität für die deutsche Kundschaft. Heißt aber oft, dass diesen Fahrern dann auch nur der deutsche Mindestlohn gezahlt wird. Neben dem Thema der Kabotage fällt bei einer deutschen GmbH auch die Rückkehrpflicht der Fahrzeuge nach acht Wochen an den Standort weg, gegen die unter anderem Litauen aktuell vor dem EuGH klagt.

Ein stumpfes Schwert

Auch die einst von der EU-Politik in Brüssel vollmundig versprochene Rückkehrpflicht der Fahrer nach drei Wochen ist praktisch nur ein Recht. Ein „Stumpfes Schwert“. „Es ist rechtlich so konstruiert, dass sich die Verpflichtung, die Rückkehrmöglichkeit zu realisieren, an den Arbeitgeber des Fahrers richtet“, so der Stuttgarter Experte für alle Fragen zu den europäischen Sozialvorschriften, Götz Bopp: „Das ist aus Sicht des Fahrers insoweit vorteilhaft, als er sich auf Basis dieser Formulierungen gar nicht aktiv um seine Rückkehr an seinen Wohnort oder die Betriebsstätte des Unternehmens kümmern muss, da das Unternehmen ja in der Pflicht ist, die Einhaltung der Vorgabe sicherzustellen.“

In der Tat führt es zu den bekannten Aussagen litauischer und auch polnischer Unternehmen, dass ihre Fahrer ja „freiwillig“ gleich mehrere Wochen auf Tour sind. Gerade für die Gewerkschaften, die sich aktuell um die auf der Raststätte Gräfenhausen seit nunmehr über sieben Wochen ausharrenden Fahrer der polnischen Mazur-Gruppe kümmern, ist das kaum zu ertragen. Allein dieser Fall entlarvt die tragische Sinnlosigkeit sich widersprechender europäischer Schutzvorschriften für Lkw-Fahrer.

Zahnlose Rahmenbedingungen

Am Ende fragt sich der österreichische Anwalt für Transportrecht, Dominik Schärmer, der derzeit mit dem Niederländer Edwin Atema für die Auftraggeber aus dem Alpenland verhandelt, deren Waren auf den Lkw in Gräfenhausen feststecken, auf LinkedIn: „Wofür die neuen komplizierten Regelungen des Mobilitätspaketes eingeführt wurden? Die Tragödie in Gräfenhausen zeigt, dass die Rahmenbedingungen des Mobilitätspaketes völlig zahnlos sind. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland wird an den falschen Stellen kontrolliert! Vorzeigespeditionen werden auseinandergenommen wegen nichts. Die richtig schwarzen Schafe bleiben unbehelligt, weil die Exekutive einfach an den falschen Stellen oder gar nicht kontrolliert. Das Problem ist, dass dieses Behördenversagen zu derartigen Tragödien führt und unvertretbare Wettbewerbsverzerrungen im Transportgeschäft verursacht.“

Die Einwendungen seitens des polnischen Frachtführers, die streikenden Fahrer wären selbstständig, seien haarsträubend, so Schärmer. „Auch wenn ein derartiges Gewerbe nach dem polnischen Recht existiert, widerspricht diese Auslegung dem europäischen Rechtsverständnis. Schließlich werden die Lkw-Fahrer vom polnischen Frachtführer disponiert und verwenden seine Betriebsmittel.“

Das Wahlrecht der Fahrer

Diese Fahrer aus Georgien und Usbekistan sind ebenfalls oft monatelang auf Tour. „Wie auch die EU-Kommission in ihrem Fragen-Antworten-Katalog betont, ergibt sich das Wahlrecht des Fahrers, wohin er zurückkehrt, jedoch nicht aus dem Verordnungstext der VO (EG) 561/2006 selbst, sondern nur aus den Erwägungsgründen, in denen der EU-Gesetzgeber zum Ausdruck bringt, was er mit seinen Regelungen bezweckt. Dort ist festgehalten, dass allein der Fahrer entscheiden können soll, ob er an seinen Wohnort oder die Betriebsstätte des Unternehmers zurückkehrt oder seine Wochenruhezeit an einem anderen Ort etwa in einem Hotel auf Basis eines Containers verbringt. „Und natürlich kann er sich in einer freiheitlichen Grundordnung auf dieser Basis auch dafür entscheiden, nicht zurückzukehren“, so Bopp. „Um sich bei Kontrollen der Aufsichtsbehörden im Niederlassungsmitgliedstaat abzusichern, müsste das Unternehmen vom Fahrer in jedem Einzelfall, in dem der Fahrer weder nach Hause noch an die Betriebsstätte zurückgekehrt ist, eine dokumentierte Willenserklärung verlangen, aus der sich dessen Verzicht auf das Rückkehrrecht ergibt.“

Ein Dorn im Auge

Noch ein weiterer Wettbewerbsvorteil der litauischen und einiger polnischen Großflotten, hier nicht nur der Hegelmann-Gruppe, ist den mittelständischen deutschen Speditionen schon lange ein Dorn im Auge. Wie ich es bereits 2021 in meiner Reportage über den „litauischen Umschlagplatz in Niederzissen“ beschrieben habe, sind die großen Flotten aus Litauen und teilweise aus Polen mittlerweile so groß, dass sie von der europäischen Nutzfahrzeugindustrie bei ihren Großeinkäufen praktisch subventioniert werden. Derzeit sollen etwa zwei Jahre alte Actros aus der Hegelmann-Flotte für 65.000 Euro auf dem Markt sein.

Natürlich äußert sich die Nutzfahrzugindustrie grundsätzlich nicht zu ihren Konditionen für Großkunden, aber das soll laut eines litauischen Branchenkenners eben auch in etwa der Preis für die Neufahrzeuge sein. Während deutsche Kunden etwa 120.000 Euro bezahlen, fahren litauische Großflotten ihre Neufahrzeuge zwei Jahre lang mehr oder weniger zu den anfallenden reinen Verbrauchskosten. Oftmals auch mit geleasten Fahrzeugen. Beschwerden deutscher Unternehmen prallen nach deren Schilderungen einfach ab. Der uneingeschränkte Markt der Lkw- und Trailer-Produzenten liegt eben schon lange unabhängig des eigenen Standorts in Europa.

Wettbewerbsverzerrung

Das wirtschaftliche Nachsehen zunehmend auch im nationalen Transport haben die kleinen und mittelständischen deutschen Unternehmen, die ihren Fahrern tarifliche oder übertarifliche Löhne bezahlen, eigene Gelände mit ordentlichen Lkw-Stellplätzen vorhalten, für ihre Fahrer aus Osteuropa tatsächlich geeignete Wohnungen bereithalten, sich auch um deren Gesundheit kümmern und hohe Sozialabgaben schultern müssen. Sie sehen sich nun ab dem 1. Dezember auch noch einer drastischen Erhöhung der Maut gegenüber. Freikaufen von diesem CO 2-Aufschlag zum geplanten Ausbau des Güterverkehrs auf der Schiene von 17 auf angestrebte 25 Prozent in den nächsten Jahren können sie sich durch die Anschaffung etwa von E-Lkw. Die es zu Beginn der Mauterhöhung leider nicht in ausreichendem Maße gibt. Das sollte der deutschen Verkehrspolitik, die entscheidende Maßnahmen aus dem EU-Mobilitätspaket immer noch nicht ins deutsche Fahrpersonalrecht und Gütertaftverkehrsgesetz umgesetzt hat, vielleicht langsam einmal auffallen.

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