Lkw-Abbiegeunfälle Die Frage der richtigen Reaktion

Foto: picture alliance/dpa - Jonas Walzberg
Meinung

Ein tragischer Abbiegeunfall in der Hamburger Hafen-City zeigt, wie dogmatisch die Aussagen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) mittlerweile geworden sind.

Ab dem 30. Januar berichten die meisten Hamburger Medien so wie hier der NDR über einen auf den ersten Blick typischen Rechtsabbiegeunfall, der sich am Montagnachmittag in der Hafen-City ereignet hat. „Der Lkw-Fahrer war nach Angaben der Polizei gegen 15 Uhr mit seinem Fahrzeug auf der Überseeallee unterwegs. Als er mit seinem Muldenkipper nach rechts in die Osakaallee abbiegen wollte, übersah der 56-Jährige offenbar die Radfahrerin und erfasste sie. Die 34-Jährige wurde unter dem Lkw eingeklemmt. Kurze Zeit später traf der Rettungsdienst ein. Die Sanitäter konnten aber nichts mehr für die Frau tun. Sie war schon tot. Passanten, die den Unfall beobachtet hatten sowie der Lkw-Fahrer wurden von Seelsorgern betreut.“

Bald kommt die Frage auf, ob der MAN TGS der jüngsten Generation eines regionalen Unternehmens bereits mit einem Abbiegeassistenten ausgestattet war, was der beauftragte Sachverständige der Presse wohl bestätigt haben muss. Für die Transportbranche zunächst eine gute Nachricht. Denn in der Tat verweigern viele Firmen ihren Fahrern, leider wohl auch aus Kostengründen, nach wie vor den immer noch optionalen Einbau der Technik, die unter idealen Umständen solche Unfälle verhindern kann. Selbst wenn es, wie 2021 in Goch, dafür keine Garantie gibt. Sofort gibt es jedoch Zweifel der Medien, ob der Fahrer auch entsprechend reagiert habe.

Spurensuche

Die junge Frau jedenfalls, so steht schnell fest, war mit ihrem Trekkingrad auf dem Weg, um ihr vierjähriges Kind in der „Kita am Großbrookpark“ abzuholen. So wie jeden Werktag. So wie jeden Werktag in der Hafen-City weiterhin Lkw unterwegs sind. „Europas größtes innerstädtisches Stadtentwicklungsvorhaben als Modell für die neue nachhaltige europäische City am Wasser“, so heißt es auf deren Homepage, schließt die Elbphilharmonie und die Speicherstadt mit ein. Damit die „lebendige Stadt mit maritimem Flair“, die auch ein großer Anziehungspunkt für Touristen ist, fertiggestellt wird, liefern Lkw immer noch werktäglich Baumaterial an. Ein oft genutzter Weg führt über die Überseeallee und die Magdeburger Brücke. Über Google Street View lässt sich die Verkehrsführung an einem normalen Tag im Sommer nachvollziehen.

Zwischen der doppelten Fachwerkbrücke über den Magdeburger Hafen gibt es jeweils eine Spur geradeaus und eine eindeutig gekennzeichnete Rechtsabbiegespur. Direkt daneben ist ein 1,50 Meter breiter weiß aufgemalter Schutzstreifen für Radfahrer eingerichtet, so wie es ihn mittlerweile in vielen Städten gibt, dessen Haltelinie vor der Haltelinie für Pkw und Lkw angelegt ist. Er soll dafür sorgen, dass abbiegende Fahrzeuge erkennen können, wenn bei einer roten Ampel Radfahrer vor ihnen stehen, die weiter geradeaus fahren wollen. In einem weiten Bogen führt eine weitere durchgehende weiße Linie den rechts abbiegenden Verkehr wie am Schnürchen in die Osakaallee und überquert den nun gestrichelten Schutzstreifen.

Erbitterte Stellungnahme des ADFC

Die rechtliche Grundlage, basierend auf Paragraf 9, Absatz 3 der Straßenverkehrsverordnung (StVO), ist eindeutig: „Wer abbiegen will, muss entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen, Schienenfahrzeuge, Fahrräder mit Hilfsmotor, Fahrräder und Elektrokleinstfahrzeuge auch dann, wenn sie auf oder neben der Fahrbahn in der gleichen Richtung fahren.“ Eines der Grundprinzipien im Straßenverkehr ist aber auch die gegenseitige Rücksichtnahme. Selbst wenn der Radverkehr an innerstädtischen Kreuzungen meist Vorfahrt hat: solange es keine getrennte Ampelschaltung gibt, ist es quasi eine Lebensversicherung, sich zu vergewissern, was der jeweils andere Verkehrsteilnehmer macht.

„Immer wieder sind es rechtsabbiegende Lkw-Fahrer, die Radfahrer*innen im Straßenverkehr töten“, heißt es in einer Pressemitteilung des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) in Hamburg. So als würde ein Wolf in eine Herde hilfloser Schafe einbrechen. Die allerdings immer größer wird. „In diesem Fall schockiert uns der Tod der Radfahrerin auch deshalb besonders und macht uns auch wütend, weil Anwohner*innen die Verkehrsbehörde und die Polizei bereits genau auf diese gefährliche Kreuzung in der Hafencity hingewiesen und dort eine Verbesserung der Verkehrssicherheit eingefordert hatten.” Dies wurde, so schreibt es der ADFC allerdings sogar selbst, jedoch von der Polizei mit der Begründung abgelehnt, dass es dort noch keine schweren Unfälle gegeben habe.

Keine Reaktionszeit auf dem Schutzstreifen

Dennoch dringt in der Folge das mittlerweile verkehrspolitisch gewollte und geförderte Anspruchsdenken der Radfahrerlobby in die Berichterstattung. Sat1 etwa lässt in einem Regionalbericht zur Mahnwache mit 200 Teilnehmern am folgenden Wochenende an der Unfallstelle auch Thomas Lütke, den stellvertretenden Landesvorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) in Hamburg, recht erbittert zur Wort kommen. Dass die Verkehrsführung auch für Radfahrer an diesem Tag bereits geändert ist, was auf Fotos an den rot-weißen Warnbaken zu erkennen ist, verwirrt ihn nur kurz.

Foto: Jan Bergrath
Laut einem Bericht von SAT1 Regional musste der Lkw-Fahrer am Tag des Unfalls eindeutig rechts abbiegen - für die Radfahrerin war es ebenfalls verboten, geradeaus zu fahren.

„Das Hauptproblem ist eben der Platz“, sagt Lütke. „Dem Radverkehr wird halt viel zu wenig Platz gegeben, und wenn man halt zwei Zentimeter neben einem großen Lkw steht, und der Lkw-Fahrer macht etwas, womit man halt nicht gerechnet hat, dann hat man halt keinerlei Zeit mehr zu reagieren.“ Im ähnlichen Bericht des NDR zur Mahnwache klingt er noch drastischer: „Es gibt keine Reaktionszeit für den Radverkehr. Der Lkw fährt dann direkt daneben, zuckt am Steuer und schon liegt der Radfahrer unter dem Lkw. Das kann so nicht weitergehen. Wir brauchen dringend Platz fürs Rad.“ Beim NDR gibt man sich alle Mühe, das Verkehrszeichen mit dem weißen Pfeil auf blauem Grund möglichst auszublenden.

Verleugnung der Tatsache

Vor allem der Bericht auf Sat1 zeigt deutlich, dass die Situation in der Hafen-City an diesem Wintertag Ende Januar nicht normal war. Auch nach einer Antwort der Pressestelle der Polizei Hamburg „war die Geradeaus-Fahrbahn durch Warnbaken gesperrt sowie ein Verkehrszeichen (VZ 209-20) hierzu aufgestellt. Es war somit nicht erlaubt, an der Stelle geradeaus zu fahren.“ Auch nicht für die Radfahrerin. Damit wird die Behauptung des ADFC-Sprechers zur Farce. Mit einem Blick auf die neue und eindeutige Beschilderung wäre die hier vorhersehbare Reaktion des Lkw-Fahrers für eine mündige Radfahrerin sehr wohl abschätzbar gewesen. Noch sind die Ermittlungen der Polizei nicht abgeschlossen, aber die Hamburger Medien, die dieser entscheidenden Frage bislang nicht weiter nachgegangen sind, haben mit dem Unfall längst abgeschlossen. Auf Nachfrage hat der stellvertretende Chefredakteur der MOPO bislang gar nicht reagiert. Was nicht wirklich objektiv ist – viele Großstadtjournalisten sind halt ebenfalls begeisterte Radfahrer.

„Auch in diesem Fall wird die Staatsanwaltschaft zunächst wegen einer fahrlässigen Tötung anklagen“, schätzt daher der Fachanwalt für Verkehrsrecht, Matthias Pfitzenmaier. „Hier ist rechts neben dem Lkw ein Schutzstreifen für Radfahrer vorhanden, so dass vom Lkw-Fahrer grundsätzlich eine erhöhte Aufmerksamkeit zu erwarten ist. Außerdem darf er nur mit maximal Schrittgeschwindigkeit (7 bis 11 km/h) abbiegen. Es wird also für die Frage, ob eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Lkw-Fahrers vorliegt, wie meist in solchen Fällen, darauf ankommen, ob der Lkw-Fahrer die Radfahrerin hat sehen können. Meines Erachtens auch, wenn die Radfahrerin verbotswidriger Weise geradeaus gefahren ist.“

Und wenn am Ende alles ganz anders war?

Es ist in der Tat auf der Magdeburger Brücke, an der die Lkw, wie es etwa die Hamburger Morgenpost (MOPO) unter dem reißerischen Titel „Entschärft die Todeskreuzung!“ auf einer gedruckten Doppelseite zeigt, auch auf Grund der an diesem Tag gesperrten Geradeauspur nicht ganz ungefährlich, den vorgeschriebenen Schutzstreifen zu nutzen. Wobei dessen Überfahren laut StVO sogar erlaubt ist, wenn dort offensichtlich keine Radfahrer unterwegs sind. Daher hat sich der Berliner Kfz-Sachverständige für Verkehrsunfallrekonstruktion, Dipl.-Phys. Ing. Andreas Wendt, anhand der vorliegenden Bilder diesen Unfall angesehen. Wie bereits zu einem Unfall in Berlin aus dem Jahr 2018 hat er berechtigte Zweifel. „Es ist natürlich immer schwer, solche Unfälle anhand der Bilder genau zu rekonstruieren, da meist durch die Erste-Hilfe-Maßnahmen und Bergungsarbeiten die Unfallstelle anders gestaltet wird. Auch die Reporter fotografieren auf ihre Art und Weise und meist auch aus einer unterschiedlichen Perspektive.“

Fest steht für Wendt: „Der Lkw steht mit der Front fast an der Mittelinsel der Osakaallee. Das Fahrrad liegt auf einigen Bilder unterhalb der rechten Vorderachse. Es sieht für mich danach aus, als wäre die Radfahrerin gar nicht auf dem schmalen Radweg gefahren, sondern vom Fußgängerüberweg auf dem dann besseren Radweg auf der Überseeallee. Vorher ist der Radweg sehr schmal und führt am Metallbrückengeländer vorbei. Dort hätte der Lkw die Radfahrerin nicht überholen können. Fährt sie jedoch hinter dem Brückengeländer, um dann vom Fußweg auf den kommenden Radweg der Überseeallee zu fahren, dann kommt es zu einem nahezu rechtwinkligen Anstoßwinkel, der erforderlich ist, um den Radfahrer umzustoßen und dann zu überrollen.“

Für das Assistenzsystem nicht zu erkennen

Der MAN war mit einem modernen Kamera-Abbiegeassistenzsystem an der A-Säule ausgestattet, das den Fahrer optisch und akustisch warnt. „Natürlich ist es immer schwierig, aus der Ferne und anhand von Fotos auf den Hergang zu schließen“, antwortet Siegfried Brockmann, Leiter Unfallforschung der Versicherer im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V., aus Berlin, ebenfalls auf Anfrage. „Allerdings hätte der bei diesem Modell verbaute Abbiegeassistent das Fahrrad auf dem Schutzstreifen erkennen müssen. Der Abbiegeprozess war ja schon weitgehend abgeschlossen. Dass ein Fahrer auf die Warnung erst mit so großer Verzögerung reagiert, halte ich für faktisch ausgeschlossen.“

Also bleiben für Brockmann noch folgende Möglichkeiten: „Entweder war das System abgeschaltet oder das Fahrrad war weit abgesetzt auf dem Gehweg unterwegs und damit für das Assistenzsystem nicht erkennbar. Die ADFC-Forderungen für diese Unfallstelle halte ich übrigens nicht für zielführend. Wir wollen getrennte Ampelphasen, wo immer es geht. Dafür müsste die Rechtsabbiegespur erhalten bleiben. Da mehr Platz nicht da ist, würde damit auch der schmale Schutzstreifen erhalten bleiben. Bei getrennten Phasen halte ich das aber für hinnehmbar.“

Radfahrstreifen auf der Magdeburger Brücke

Ein breiter (geschützter) Radfahrstreifen auf der Magdeburger Brücke statt des bisherigen schmalen „Schutzstreifens“ ist auch eine weitere Forderung des ADFC. Was also, wenn die Radfahrerin angesichts der durchaus plausiblen Gefahr tatsächlich diesen, eigentlich nicht erlaubten Weg gewählt hat und vom Fußweg aus vor dem rechtsabbiegenden Lkw auf die Straße gefahren ist? Mit einem Trekkingrad ist, je nach Geschwindigkeit, sogar ein Anhalteweg bis zu elf Metern möglich. Hätte der Lkw-Fahrer bei einem vor ihm womöglich gar nicht befahrenen Schutzstreifen auch damit rechnen müssen? Auf Rückfrage wollte sich der Pressesprecher der Hamburger Polizei dazu nicht äußern. „Sehen Sie es mir bitte nach, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt der Ermittlungen keine Einschätzung vornehmen können. Das ist letztlich auch unter dem Vorbehalt der Staatsanwaltschaft und des Gerichts zu sehen!“

Foto: Jan Bergrath
Eine getrennte Ampelschaltung, so wie hier im Kölner Westen an der Dürener Straße, ist laut Unfallforschern die sicherste Möglichkeit, Rechtsabbiegeunfälle mit Lkw zu vermeiden.

Bis schlussendlich die Wahrheit über diesen Unfall bekannt wird, kann es allerdings noch etwas dauern. So hart es klingt. „Ein Mitverschulden der Radfahrerin wird aber in jedem Fall in Betracht kommen und die Strafe des Lkw-Fahrers entsprechend angepasst und reduziert werden“, so Pfitzenmaier aus Erfahrung. „Je nach Gewichtung des Mitverschuldens der Radfahrerin könnte von einer Verurteilung des Fahrers wegen fahrlässiger Tötung – in der Regel Freiheitsstrafe zur Bewährung oder Geldstrafe – bis hin zu einer Einstellung des Verfahrens mit einer Geldauflage (§ 153a StPO) alles in Betracht kommen.“

Die Dynamik der beiderseitigen Annäherung

„Es ist einfach die Dynamik der beiderseitigen Annäherung, die zu solchen Unfällen führt“, erläutert der Unfallanalytiker Wendt. „Man kann dem Lkw-Fahrer aber auch nicht dauerhaft unterstellen, dass er den Radfahrer nicht sehen möchte, da Lkw-Fahrer unaufmerksam sind. Wäre dem so, dann würde es mehr Abbiegeunfälle auch mit Fußgängern geben. In der Dynamik der Annäherung des Radfahrers an den Lkw gibt es gewisse Punkte, welche nicht wahrnehmbar sind. Für beide kommt dann aber die Komponente unverhofft – und dann ist es auch schon geschehen.“

Ein Ghostbike als Mahnung

An der Unfallstelle in der Hafen-City steht jetzt ein weißes Ghostbike. Nach der Deutung des ADFC soll es an die permanente Unfallgefahr durch rechtsabbiegende Lkw mahnen. Für die Hinterbliebenen ist dieser tragische Unfall, der eine junge Familie auseinandergerissen hat, sicher ein schwer zu verkraftendes traumatisches Ereignis. Trotz der vielen Spenden, die bereits eingegangen sind. Auch Lkw-Fahrer, das wird selten erwähnt, leiden oft ein Leben lang an den Folgen, die, wenn unbehandelt, unbemerkt in Depressionen und Suchtkrankheiten übergehen. Es wäre daher wünschenswert, wenn der ADFC endlich einmal mahnt, dass sich Radfahrerinnen und Radfahrer trotz Vorfahrt in jeder Sekunde im Straßenverkehr darüber versichern sollten, wie Lkw-Fahrer an einer Kreuzung reagieren können. Und aus reinem Selbstschutz dann lieber einmal vorausschauend stehen bleiben. Der eigene Tod ist letzten Endes die finale Antwort auf das Recht auf Vorfahrt.

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
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