Die etwas andere Girteka-Geschichte Der schweigsame Riese

Daimler Foto: Daimler
Meinung

Mit über 5.000 eigenen Lkw und nunmehr 10.000 Fahrern ist Girteka aus Litauen wohl das größte Transportunternehmen Europas mit starkem Hang zur positiven Selbstdarstellung. Auf zehn konkrete Fragen zum Fuhrpark- und Personalmanagement antwortet das Unternehmen allerdings schmallippig bis gar nicht. Auch nicht zu einem tragischen Unfall in Deutschland.

Es lässt sich nicht anders sagen: Girteka, das mittlerweile wohl größte Logistikunternehmen Europas mit einer Flotte von nunmehr 5.000 weißen Sattelzügen, jedenfalls nach eigener Angabe, fällt auf. Nicht nur auf der Straße sondern auch im fachmedialen Blätterwald. Kein Wunder, denn wer, wie nun überall zu lesen war, trotz eines europaweiten Mangels an qualifizierten Lkw-Fahrern plötzlich verkündet, 10.000 Fahrer zu beschäftigen, der weckt natürlich Neugier. Zumal beim deutschen Mittelstand, der in manchen Segmenten der Logistik, etwa bei der Kühlfracht, gerade durch den massiven Wettbewerb der Flotten aus Mittel- und Südosteuropa im internationalen Transport gebeutelt ist.

Litauische Flotten mit starkem Wachstum

Denn, auch darüber berichtet die Fachpresse, bei der ständigen Zunahme der Flotten aus Osteuropa hat das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) anhand der Mautdaten berichtet, dass besonders die Lkw aus Litauen starke Zuwächse aufweisen.

Allerdings betont das BAG auf Anfrage, „dass die Mautstatistik des Bundesamtes die Fahrleistungen von Mautfahrzeugen auf mautpflichtigen Straßen ausweist. Diese sind nicht gleichzusetzen mit Marktanteilen. Selbstredend können Fahrleistungsanteile einzelner Nationalitäten bei insgesamt steigenden Fahrleistungen sinken.“ Denn das BAG kann nicht zwischen nationalem und internationalem Gütertransport im Transitverkehr unterscheiden. Der ist allerdings gewaltig. Und somit belief sich der leicht gesunkene Anteil der deutschen Fahrleistung im ersten Halbjahr 2018 auf 55,8 Prozent, gegenüber 57,3 Prozent im Vorjahreszeitraum.

Hauptuntersuchung in Deutschland

Als kleine Randnotiz zu diesem Wachstum litauischer Flotten möchte ich hier noch einmal hervorheben, dass Litauen – neben dem erwiesenen Logistikriesen Zypern, bekannt für einige gescheiterte deutsche Versuche, die eigenen Lkw dorthin auszuflaggen – das einzige Land ist, das, nach einer legalen EU-Richtlinie, den TÜV-Süd beauftragt hat, die Hauptuntersuchung bei litauischen Lkw durchführen zu können. Herausgefunden habe ich das bereits vor zwei Jahren bei einer Lkw-Kontrolle in Belgien.

Die nächste Hürde fällt“ habe ich damals meinen Blog betitelt – und womöglich Recht behalten, denn litauische Lkw müssen nun nicht mehr den Umweg über den Heimatstandort machen, wenn ihre Fahrzeuge dauerhaft in Westeuropa stationiert sind, sie müssen auch nicht, wie etwa manche rumänische Firmen, gefälschte Bescheinigungen per Kurier senden. Warum ausgerechnet Litauen mit zwei Millionen Einwohnern auf diese Möglichkeit zurückgreift, und ob auch Girteka diese Möglichkeit nutzt, wollte mir der Chefpressesprecher des Unternehmens, Kristian Kaas Mortensen, leider bislang nicht verraten.

Die Frage nach dem vergleichbaren Lohn

Ich selbst hatte mich bislang noch nicht selbst mit Girteka beschäftigt, aber bekomme bei meinen Gesprächen mit deutschen Unternehmern nur immer nur wieder zu hören, dass die weiße Flotte aus Litauen den hiesigen Unternehmen ein Dorn im Auge ist. Der Vorwurf, die Girteka-Angebote lägen sehr deutlich unter dem Frachtpreis deutscher Frachtführer für internationale Kühltransporte, ist ständig im Raum. Und so habe ich mich, bei der Lektüre nahezu aller deutschen Fachmedien, immer wieder darüber gewundert, dass der in etwa immer gleiche Satz zu lesen ist: Die Fahrer von Girteka verdienen ungefähr so viel wie deutsche Fahrer. Man betreibe also, wie es auch Waberer`s gerne betont, keinen Wettbewerb über die Fahrerlöhne. Und ich habe mich immer gewundert, dass nie jemand diese Aussage wirklich hinterfragt hat.

Nun bin ich seit April dieses Jahres wegen eines schweren Lkw-Unfalls in Deutschland, zu dem ich später noch komme, in intensivem schriftlichen Kontakt mit eben jenem Pressechef von Girteka und habe ihn erst am 16. August zuletzt damit konfrontiert, dass nicht der reine Nettolohn der litauischen Fahrer im Wettbewerb entscheidend ist, sondern die Gesamtkosten inklusive aller Sozialbeiträge, die ein Unternehmen entrichten muss. Bis zur Veröffentlichung dieses Blogs gab es keine Rückmeldung.

Litauen ist Drittletzter im europäischen Lohnkostenvergleich

Kein Wunder. Denn dazu gibt es eine sehr gute und nach wie vor aktuelle Studie des Comité National Routier aus Frankreich aus dem Jahr 2016 , die akribisch die krassen Lohnunterschiede in Europa aufzeigt. Sie belegt, hier auf Seite 17, dass die Transportunternehmen aus Litauen nach Bulgarien und Rumänien mit Bruttojahreslohnkosten von rund 18.000 Euro (im Mittel) nur den drittletzten Platz einnehmen, während Unternehmen aus, hier von den Verfassern bewusst differenziert, Westdeutschland mit über 45.000 Euro Personalkosten (ebenfalls im Mittel) für die Fahrer an fünfter Stelle der oberen Tabellenhälfte stehen.

Hinter Belgien, Italien, Luxemburg und Frankreich. Denn wie in nahezu allen Ländern Osteuropas besteht das Lohnmodell aus einem niedrigen Grundlohn und hohen Nettospesen, so dass in der Tat auch die Fahrer von Girteka nach dieser Tabelle 2016 pro Monat etwas um die 1.500 Euro netto mit nach Hause nehmen dürften. Mittlerweile hat sich der Satz bei vielen Fahrern aus Osteuropa nach meinen Recherchen bei rund 2.000 Euro eingependelt. Allerdings für acht Wochen auf Tour und zwei Wochen frei, wobei sich dann, da in der Freizeit ja keine Spesen gezahlt werden, der Nettolohn wieder bei 1.700 bis 1.800 Euro pro Monat einpendelt.

Eine konkrete Antwort von Girteka darauf steht also weiter aus, ebenso wie auf meine Frage, wo denn die vielen Fahrer überhaupt zu Hause seien. Auch hier die Standartantwort: “Wir beschäftigen ausschließlich erfahrene Fahrer, die die hohen Anforderungen unseres Unternehmens bestehen müssen. Sie kommen aus vielen Ländern, eben auch aus der Ukraine.“

Dabei ist es längst ein offenes Geheimnis, dass im Zuge der europäischen Fahrerwanderung Richtung Westen die Fahrer aus Drittstaaten auf Grund uralter bilateraler Abkommen Osteuropas in die Baltischen Staaten oder besonders nach Polen nachrücken und, auf Grund von dortigen Arbeitserlaubnissen und einem gültigen Schengen-Visum, auch kreuz und quer durch Europa fahren dürfen.

Doppelt so schnell und deutlich unter deutschen Fahrerkosten

Zu den wenigen konkreten Antworten, die ich auf meine zehn an Girteka gestellten Fragen bekommen habe, gehört immerhin die etwas schmallippige Erklärung, dass die Flotte von Girteka zu 50 Prozent innereuropäische Transporte durchführe, zu 25 Prozent aus der EU in die Baltischen Staaten fahre und zu 25 Prozent Ware aus der EU nach Skandinavien bringe.

Deutsche Unternehmen, die nach eigenen Angaben Aufträge an Girteka verloren haben, munkeln etwas von einem Kilometerpreis von unter einem Euro im Kühlsektor – was Girteka ebenfalls nicht kommentieren will. Damit wären die weißen Laster auf vielen zeitkritischen Relationen mit zwei Fahrern nicht nur doppelt so schnell sondern auch, was die Fahrerkosten angeht, deutlich günstiger. Für jeden deutschen Exporteur gekühlter Ware ein Traum.

Neue Lkw im Tausender-Pack

Sowohl das Unternehmen selbst als auch die Nutzfahrzeugindustrie überbieten sich seit zwei Jahren in ihren Pressemeldungen, wie viele Tausend Lkw oder Auflieger sie mittlerweile an Girteka verkaufen, was, auch das ein offenes Geheimnis, vor allem zur Auslastung der Bänder in den eigenen Werken dient und die Kosten für jeden einzelnen Lkw, sei er geleast oder gekauft, weiter nach unten drückt. Und damit die Wettbewerbskosten. Damit subventionieren auch die deutschen Hersteller ebenfalls das Wachstum über den Preis, das nun auch noch von einer Bank gefördert wird.

Die Hersteller betonen dann auch stets, mit welchen Besonderheiten ihre Fahrzeuge ausgestattet sind. Berichte von Fahrzeugübergaben zieren nicht nur die die eigenen Medien, wie hier aus dem Juni 2016, bei der Übergabe der ersten 1.000 Actros 1845 mit Euro-VI-Motor an Girteka im Werk Wörth. Ein Gesamtpaket, das ein Jahr später durch die 2.000 neuen Volvo schon wieder getoppt wurde. Lediglich DAF kam nun auf “nur“ noch auf 500 gelieferte Fahrzeuge.

Ein folgenschwerer Unfall gibt Rätsel auf

Die Leser meiner Blogs wissen es längst: Seit Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema Lkw-Unfälle am Stauende. Erst jetzt wieder im FERNFAHRER 9/2018, wo ich nicht nur beklage, dass die aktuelle Diskussion um die Frage der Abschaltbarkeit der seit November 2015 gesetzlich vorgeschriebenen Notbremsassistenten (NBA) nicht das große Problem ist, sondern vielmehr die kaum vorhandene Aufklärung der allermeisten Lkw-Fahrer über diese lebensrettende Technik.

Auch bei Daimler, der den Notbremsassitenten Active Brake Assist vor genau zehn Jahren auf den Markt gebracht hat, weiß man, dass ich den Konzern immer wieder dafür kritisiere, dass er europaweit als einziger Hersteller schwerer Lkw zwei Varianten des “Active Brake Assist“ (ABA) anbietet: die serienmäßige Version ABA, die im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben vor einem Stauende die Geschwindigkeit laut Herstellerangaben lediglich von 80 auf 60 km/h reduziert, und, gegen Aufpreis im Rahmen eines “Safety Package“, den ABA 3 oder nun auch den ABA 4, die beide einen Lkw unter idealen Bedingungen bis zum Stillstand bremsen können. Durch die Werbung für diese technischen Finessen bringt man Mercedes-Lkw automatisch mit der vollumfänglichen Sicherheitsausstattung in Verbindung.

Zwei tote Frauen durch Girteka-Unfall am Stauende

Und so stieß ich Anfang April auf jenen Bericht der Bildzeitung, der einen fürchterlichen Unfall auf der A13 beschreibt und dazu ganz am Schluss ein Bild zeigt, auf dem ein weißer Actros 1845 von Girteka als aufgefahrener Lkw zu sehen ist. Bei solchen Meldungen machen mich immer Sätze wie “nahezu ungebremst“ stutzig.

So erfolgte meine erste Kontaktaufnahme zu Girteka mit der eigentlich einfachen Frage, wie der Unfall passieren konnte. Denn mit einem Mercedes-Benz Actros aus der jüngsten Lieferung hätte das so nicht passieren dürfen. Konkret war die Frage, ob der betreffende Actros also einen ABA 3 oder "nur" einen serienmäßigen ABA verbaut hatte. Oder vielleicht gar keinen Notbremsassistenten, obwohl Daimler diese schon seit Sommer 2015 ab Werk serienmäßig verbaut.

Die erste Antwort des Pressesprechers aus Litauen hieß noch sehr spontan (hier übersetzt): “Das ist eine sehr traurige Situation. Ich würde gerne detailliert antworten, um sicher zu gehen, dass ich keine falsche Aussage zur Technik mache.“ Mit jeder Nachfrage wurden die Antworten einsilbiger: “Ein sehr ernsthaftes Thema“. Bis zur ersten Vorwarnung auf eine wohl verspätete Antwort: “Ich brauche noch Zeit, denn mittlerweile sind Anwälte und der Hersteller involviert“. Bis zur finalen Antwort: “Kein Kommentar“.

Auch Daimler hält sich bedeckt, es seien Kundeninterna. Auch auf meine Frage, ob es bei einem derartigen Lkw-Deal in der Pressemeldung nicht lobend erwähnt worden wäre, wenn Girteka einige Millionen Euro in zusätzliche Sicherheitspakete investiert hätte, kam bis zum Schreiben dieses Blogs keine konkrete Antwort. Stattdessen: "ABA ist gesetzlich verpflichtend und muss in unseren Fahrzeugen verbaut sein, ABA 4 ist bei uns im Safety Package mit vielen anderen Sicherheitssystemen verbaut und kann von jedem Kunden je nach Einsatzzweck nachgefragt werden und wird auch nachgefragt.“

Die konzerneigene Unfallforschung, um auch das zu erwähnen, wird nur aktiv, wenn der Kunde sie beauftragt – und darf sowieso keine Auskunft geben.

Schwere Unfälle trotz Notbremsassistent

Bereits 2015 habe ich in der FERNFAHRER-Reportage “Zu spät gebremst“ erörtert, dass Lkw trotz eines ABA 3 nahezu ungebremst in ein Stauende rasen können, und zwar nicht, weil der Fahrer ihn ausschaltet – sondern im letzten Moment übersteuert. Beim ABA 3 ist das der Fall, wenn der Fahrer diesen in der Warnphase durch Bremsen übersteuert. Dies wurde beim ABA 4 inzwischen geändert. Auch dazu liegt mir eine Antwort der Daimler-Pressestelle aus dem Juli 2017 vor: „Grundsätzlich führen Fahreraktionen, die widersprüchlich zum Systemverhalten sind, zum Übersteuern oder Abbruch der Warn- oder Notbremsphase. Eine akustische Warnung oder Teilbremsung kann durch Betätigen des Fahrpedals oder Ausweichen (Lenken oder Blinker) übersteuert werden. Eine Notbremsung kann nur noch per Kickdown oder Systemtaster abgebrochen werden. Bei Betätigung der Betriebsbremse (Bremspedal) bleiben mit ABA4 alle Systemreaktionen aktiv.“

Aber die alten Actros mit ABA 3 sind ja noch immer auf der Straße unterwegs. Wahrscheinlich sogar mit dem größten Marktanteil. Und ein Fahrer, der hier schlicht und einfach nicht informiert ist, mit welcher Technik er unterwegs ist, kann genau diesen Fehler begehen. Im Grunde müsste, das ist meine feste Überzeugung, Daimler alle Kunden auf dieses Problem hinweisen. Upgraden kann man die Version ABA 3 auf ABA 4 meines Wissens nicht. Vielleicht bekomme ich ja auf der IAA Nutzfahrzeuge die Chance, mich mit den Verantwortlichen über das Thema zu unterhalten. Denn es geht, man sieht es beinahe täglich anhand der Meldungen über schweren Lkw-Unfälle, um das Leben von Menschen, von Lkw-Fahrern und Pkw-Fahrern.

Frage nach Unfallursache nach wie vor ungeklärt

Als Journalist hat man auch die Möglichkeit, sich an die ermittelnden Behörden zu wenden. Das habe ich bezüglich des A13-Unfalls getan und von der Staatsanwaltschaft Chemnitz diese Antwort erhalten: “Die Ermittlungen in dem Verfahren gegen den Fahrer des litauischen Lkw wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und fahrlässigen Körperverletzung sind noch nicht abgeschlossen. Zunächst steht noch das Gutachten des DEKRA, die unmittelbar am Unfallort gewesen und mit der sachverständigen Bewertung des Unfallgeschehens beauftragt worden ist, aus. Erst danach werden Aussagen zu der Frage beantwortet, ob und in welchen Modellen ein Notbremsassistent in dem Unfall-Lkw verbaut gewesen ist, ob und wie dieser reagiert hat und ob der Fahrer zusätzlich die Bremse betätigte. Allerdings muss ich Sie schon jetzt darauf hinweisen, dass Ihnen Informationen hierüber erst nach Abschluss des Verfahrens zugänglich gemacht werden können. Wann ein solcher bei der Staatsanwaltschaft bzw. dem zuständigen Gericht zu erwarten steht, vermag derzeit nicht eingeschätzt werden.“ Es wird also noch eine Zeit dauern, bis die Wahrheit ans Licht kommt.

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
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