Notbremsassistenten Diskussion in der Sackgasse

Foto: René Priebe

Pro Jahr könnten etwa 300 Unfälle am Stauende, verursacht von Lkw, durch einen nicht deaktivierten Notbremsassistenten verhindert werden, besagt eine Studie. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer ist sicher: „Unlängst haben viele Unfälle dazu geführt, dass es eine Diskussion über die Notbremsassistenten gibt. Seit längerer Zeit sind wir im Ministerium international und europäisch dran, dieses Thema zu lösen. Für die deutsche, nationale Ebene sage ich: Wir werden das Abschalten von Notbremsassistenten mit der nächsten Änderung der Straßenverkehrsordnung untersagen. Wir werden einen Vorschlag in die Bundesregierung einreichen, damit es weniger Unfälle gibt und damit ein einfaches Abschalten von Notbremsassistenten nicht mehr möglich ist.“Ein Grund für diese Aussage ist womöglich eine Studie der Unfallforscher der Versicherer (GDV) vom Jahr 2017, die in den Medien für Aufsehen sorgte und in Jans Blog kritisiert wurde. Die Kernthese: Pro Jahr könnten rund 300 Unfälle am Stauende durch einen nicht dauerhaft deaktivierten Notbremsassistenten (NBA) verhindert werden. Doch diese Untersuchungen fanden bereits im Zeitraum 2015/2016 statt – als die Ausstattungsquote der Lkw über zwölf Tonnen Gesamtgewicht mit Notbremsassistenten laut einer Berechnung von Dr. Erwin ­Petersen von der Landesverkehrswacht Niedersachsen bei deutschen Lkw erst bei 45 Prozent und bei ausländischen Lkw noch bei 36 Prozent lag. Somit ist die Studie nur ein Teil der Wahrheit. „Mittlerweile liegt das Verhältnis in dieser Fahrzeugklasse bei 60 und 55 Prozent“, sagt Petersen. „Vor allem die ausländischen Flotten holen langsam, aber sicher auf.“ Doch wie bei den drei schweren Stauendeunfällen am Kreuz Walldorf haben immer noch viele an diesen Unfällen beteiligten Lkw gar keinen NBA.

Gesetzliche Vorgaben

Derweil wächst ein anderes Problem heran, das weder Transportunternehmen, viele Hersteller noch die Politik erkennen. Zum einen geht es um ein falsches Bild, das sich vor allem durch die Werbung des deutschen Marktführers in den Köpfen eingebrannt hat. Die gesetzliche Vorgabe seit November 2015 verlangt von den Lkw mit NBA nämlich lediglich eine Reduzierung der Geschwindigkeit um zehn Stundenkilometer auf ein stehendes Fahrzeug, ab 2018 sind es 20 km/h. „Die meisten NBA-Systeme können aber deutlich mehr leisten“, erklärt Petersen. Aber nur fünf Hersteller bieten etwa in der Grundausstattung der jeweiligen aktuellen schweren Baureihe Fahrzeuge an, die über die gesetzlichen Vorgaben hinaus tatsächlich bis zum Stillstand bremsen können. Unglücklich: Wer den Actros bestellt, muss für den ABA 4 einen deutlichen Aufpreis zahlen. DAF und Iveco vertreten eine andere Philosophie – nach eigenen Angaben, um Fehlalarme zu minimieren. Deren Systeme bremsen den Lkw ab, aber je nach Geschwindigeit nicht unbedingt bis zum Stillstand. MAN, Renault, ­Scania und Volvo indes bieten NBA an, die den Lkw unter idealen Bedingungen aus Tempo 80 bis zum Stillstand verzögern. Wer Klarheit will, dem hilft nur ein Blick in die Betriebsanleitung. Sie verrät überdies, welche Aktivitäten den NBA übersteuern. Immer öfter stellt sich zudem heraus, dass die Fuhrparkleiter ihren Fahrern zwar Lkw mit allen Fahrassistenzsystemen zur Verfügung stellen, aber auf eine Einweisung verzichten. Kein Wunder also, dass Axel Flaake – als er Anfang 2017 wissen wollte, ob und wie der Emergency Brake Assist 2 (EBA) im MAN TGX funktioniert – einen nicht ungefährlichen Test unternahm, der unter dem Titel „Wie sicher ist der Notbremsassistent?“ gleichfalls auf ­eurotransport.de zu finden ist. „Heute weiß ich, dass ich das besser gelassen hätte“, sagt Flaake. „Aber vielleicht hat mein Versuch mit dazu beigetragen, dass MAN darüber nachgedacht hat, Lkw-Fahrer für die Wirkungsweise des EBA 2 zu sensibilisieren.“FERNFAHRER und MAN haben Axel Flaake nun zusammen mit fünf weiteren Fahrern und zwei Fahrerinnen eingeladen, um unter hohen Sicherheitsbedingungen einmal selbst zu erfahren, wie der EBA 2 arbeitet. Auf diese Weise ist ein aufschlussreicher Film entstanden, der auch auf dem Youtube-Kanal von FERNFAHRER zu finden ist und von dem eine Version an den Bundesverkehrsminister geht.

Auf die Technik vertrauen oder selbst eingreifen

Der durchaus mutige Schritt von MAN könnte vielleicht sogar die aktuelle politische Diskussion beeinflussen. Bereits über die Hälfte der Fahrer sind heute mit Lkw unterwegs, deren NBA im Notfall einen Unfall am Stauende zum Teil komplett verhindern können. Aktuelle Unfallbeispiele belegen, dass es auch Stauendeunfälle trotz eines aktiven NBA gegeben hat. Die Ursache dafür könnte sein, dass der Fahrer aus Unwissen über die Funktionsweise der Technik falsch reagiert hat. Die Krux: Fahrer müssen heute in einer Notsituation gerade bei einem ständig aktivierten NBA aus einer möglichen Unaufmerksamkeit heraus blitzschnell entscheiden, wie sie sich im Fall der Fälle verhalten sollen – also der Technik vertrauen oder selber noch eingreifen? Im Reflex ist diese Leistung allerdings, wenn man es nicht selber einmal ausprobiert hat, nahezu übermenschlich.

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