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Prof. Stephan Freichel zur Logistik Zukunft gehört der Digitalisierung

Foto: THATREE - stock.adobe.com

Vor 30 Jahren Gewinner des ersten Wissenschaftspreises der BVL, heute Professor an der TH Köln: Prof. Stephan Freichel über Entwicklungen und Zukunftsaussichten im Bereich Sammelgut sowie in der Logistikbranche.

trans aktuell: Herr Prof. Freichel, lassen Sie uns 30 Jahre zurückblicken – wo standen Sie da in Ihrer Karriere?

Freichel: Ich arbeitete an der Technischen Universität Darmstadt an meiner Dissertation im Fachgebiet Unternehmensführung und Logistik. Bereits im Studium als angehender Wirtschaftsingenieur hatte ich mir im technischen Bereich des Studiums das Schwerpunktthema Energieverteilungsnetzwerke ausgesucht. Im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich interessierten mich vor allem die Themen Verkehr und Logistik, neben Aspekten des General Management. Mit Prof. Hans-Christian Pfohl war das Fachgebiet sehr gut besetzt und es gab für mich vielfältige Möglichkeiten, an großen Forschungsprojekten mitzuarbeiten.

1992 hat die Bundesvereinigung Logistik (BVL) auch zum ersten Mal den Deutschen Wissenschaftspreis ausgeschrieben. Sie bekamen den mit 10.000 Mark dotierten Preis für Ihre Dissertationsarbeit verliehen. Wie kamen Sie auf das Thema „Organisation von Logistikservice-Netzwerken“?

Das Thema entstand auf Basis meiner verschiedenen Forschungs- und Projektarbeiten mit Industrie- und Logistikunternehmen. Und im Kern bereits während meiner Abschlussarbeit bei der Spedition Pfenning, die Partner der damaligen Kooperation Logsped war. Dort konnte ich neben den Herren der Geschäftsleitung treibende Vordenker der Branche kennenlernen, wie die Herren Amberger, Denkhaus sowie Prof. Wolf-Rüdiger Bretzke, der mich auch bei meinen Forschungsarbeiten während meiner weiteren Lehrjahre unterstützt hat. Die Keimzelle meiner Dissertation entstand im Grunde in dieser Zeit im Speditionsbetrieb: Es geht schlicht darum, wie sich Logistik-Netzwerke, vor allem im Stückgutbereich, organisieren lassen und welche Vor- und Nachteile aus den verschiedenen Formen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit entstehen. Wichtige Aspekte sind dabei etwa Qualität, IT, oder Kundenbetreuung.

Können Sie kurz Ihre Vorgehensweise näher beschreiben?

Zunächst ist es sinnvoll, einen theoretisch fundierten, konzeptionellen Bezugsrahmen zu entwickeln. Und wie mancher weiß: Eine gute Theorie kann sehr praktisch sein. Und das war nach umfangreichen Recherchen die Anwendung der Betriebswirtschaftlichen Organisationslehre auf verschiedene Formen der inter-organisatorischen Zusammenarbeit. Aufzeigen konnte ich die spezifischen Spielarten, die es im Stückgutbereich gibt, und welche Vor- und Nachteile sich in Bezug auf die organisatorische Effizienz daraus ableiten lassen. Gerade in dieser Branche ist das mit der Bandbreite von Formen der Zusammenarbeit besonders interessant – angefangen bei einer eher losen Zusammenarbeit zwischen Korrespondenzspediteuren, über engere Kooperationen bis hin zu engen Verbündeten sowie straff organisierten Kooperationen mit Zentralorganen und gemeinschaftlichen Umschlagshubs. Oder es gibt Netzwerk-Strukturen die durch Mergers and Acquisitions geprägt oder deren Niederlassungsverbund weitgehend aus eigener Kraft entstanden ist. Angeschaut habe ich mir dazu verschiedene Fallstudien und versucht, daraus Gestaltungshinweise abzuleiten.

Was war Ihr Fazit?

Dass Unternehmen, die - grob beschrieben - eine homogenere Struktur, einen ausbalancierten Zentralisierungsgrad und pragmatische Koordinationsinstrumenten haben, gewisse Vorteile aufweisen. Sie verfügen meist über eine starke Unternehmenskultur, durchgängige IT, straffe Prozesse und gleichzeitig eine hohe Kundennähe. Im Vergleich dazu haben beispielsweise Konzernunternehmen, die durch Aufkäufe entstanden sind, gewisse Nachteile. Dies gerade aufgrund der oftmals lange nachwirkenden Herausforderungen, die mit der Integration heterogener Strukturelemente der akquirierten Unternehmen einher gehen. Mit gewachsenen Strukturen und Verhaltensweisen, Überschneidungen im Kundenprofil und auch mit dritten Partnern sind bei entsprechend straffen Transformationen eine rasche Netzwerkabdeckung und Marktentwicklung möglich, gegenüber dem Auf- und Ausbau aus eigener Kraft. Nur so erklären sich ja auch die M&A verschiedener Player am Markt.

Und bei den Kooperationen?

Bei den Netzwerken besteht zwar das Bestreben aller Partner zur Nutzung der Flächenabdeckung. Die Durchsetzung gemeinsamer Regularien bringt strukturbedingt allerdings eine Reihe von Herausforderungen mit sich. Das Management der Zentralorgane moderiert zwischen Beteiligten, die gewissermaßen sowohl Chef als auch Mitarbeiter sind. Die Koordination durch marktliche oder vertragliche Arrangements hat also durchaus Nachteile gegenüber der Koordination über Hierarchieebenen in konzernorientierten Strukturen.

Gilt das nach 30 Jahren auch noch so?

Durchaus, wenngleich die Netzwerke in den vergangenen Jahren angefangen haben, ihre Verbünde zu straffen und gemeinsame Regelwerke zu etablieren, wie zu Hallenstandards, Bonus- und Malus-Systemen und so weiter. Wenn dann allerdings ein Unternehmen verkauft wird oder durch Insolvenz ausscheidet oder schlicht das Netzwerk verlässt, entstehen entsprechende Lücken im Netz. Falls sich kein neuer Partner in der jeweiligen Region gewinnen lässt, muss die Kooperation dann aus eigenen Mitteln Betriebe zur Schließung der Lücke formieren. Insofern entstehen hieraus Koordinations- und Strukturkosten, um einheitliche Standards und Produkt-Markt-Lösungen den Kunden auch über die eigenen Partnergebiete anbieten zu können.

BVL Foto: BVL
1992 noch Dr. Stephan Freichel, erster Preisträger des Wissenschaftspreises der BVL.
Wie betrachten Sie Ihre Arbeit mit dem Abstand der Zeit?

Zunächst erinnere ich mich gerne zurück, dass die Arbeit damals recht gut aufgenommen wurde, vor allem vom damaligen BVL-Vorstand mit Dr. Hanspeter Stabenau und der gesamten Jury um den Sponsor AT Kearney, vertreten durch Manfred Türks. Interessanterweise fand die Arbeit auch Eingang in die Lehre beispielsweise bei Prof. Ingrid Göpfert an der Uni Marburg. Das hat mich natürlich mit Stolz erfüllt. Zur Vorgehensweise beim Verfassen der Arbeit: Die Basics passen immer noch. Obgleich Forschungsmethoden und -tools sich natürlich entwickelt haben und Literatur sich auf Knopfdruck aus Datenbanken ziehen lässt.

Treffen die grundsätzlichen Aussagen weiter zu?

Ja, das kann ich auch in der Praxis im Rahmen meiner Unternehmensberatungstätigkeit immer wieder feststellen. Wenngleich bei den Netzwerken zunehmend auch Mischformen anzutreffen sind. Kooperationen arbeiten in den Sammel- und Empfangshäusern oder auf den Hubs mit anderen Partnern zusammen. Verschiedene Betriebe sind, zum Teil historisch oder aufgrund regionaler Kundenanforderungen, in verschiedenen Kooperationen engagiert. Konzerne entlasten sich über externe Partner, man stützt ausrollstarke Plätze gemeinsam, denn mit attraktivem Sammelausgang ohne Verteiler geht es eben bei unseren unpaarigen Verkehrsströmen nicht anders. Damit wird Kollaboration mit Coopetition gepaart, unterstützt durch geeignete Plattformen und IT-Lösungen.

Und was ist heute anders?

Heute haben wir deutlich mehr Erkenntnisse zu den Wirtschafts- und Organisationsstrukturen. Die Bedingungen sind heute allein durch die Digitalisierung vielfältiger, damals war es ja schon eine kleine Sensation, wenn eine Spedition einen Scanner im Stückgutbereich hatte und „zeitnahe“ Rollkartenauswertungen ein oder zwei Tage später bieten konnte. Borderos waren hie und da eher „Wünsche der Disponenten“ und Fehlverladungen erkannte man erst vor der Nahverkehrsbeladung im Eingangsdepot, die anhand von Originalpapieren erfolgte. Heute geht es um enge Zeitfensterzustellungen bis zum privaten Endkunden, digitale Zwillinge, Supply Chain Event-Management und den Einsatz Künstlicher Intelligenz in der Tourenplanung, in Administration und für verschiedene Funktionen auf der Halle. Aber eines bleibt dennoch meiner Ansicht nach weiter der Kern der Netzwerkarbeit: Menschen, die sich vertrauen und auch das Wissen haben, welche Daten sinnvoll sind und zweckmäßig miteinander in Beziehung gestellt werden können.

Macht die Entwicklung etwa in der IT alles einfacher?

Man hat nicht immer alle nötigen Zahlen und Fakten im Finanzcontrolling oder Massendaten in Echtzeit parat. Das gilt für die Kalkulation von zusätzlichen Nahverkehrstouren bis zur Diskussion um zusätzliche Umschlagshubs oder Verkaufserlöse von Gebäuden. Man kennt den Wert im Grunde erst dann, wenn die Tinte trocken ist oder die Ausschreibung endverhandelt ist. Davor braucht es qualifizierte Schätzungen mit unternehmerischem Sachverstand. Vor all den Tools und quantitativen Methoden sollte man überlegen, wo es Kausalitäten gibt oder nur nette Korrelationen. Dabei sollte man die getroffenen Annahmen jedoch richtig einschätzen können, statt Pseudo-Wahrheiten aus vermeintlich exakten Rechenergebnissen toller Modelle blind zu vertrauen. Tools sind so gut wie die Daten, die Verfahren, die Bediener und vor allem die Entscheider, die die Erkenntnisse verstehen und umsetzen müssen.

Das heißt?

Man ist gut beraten, schon vorher zu überlegen, was man denn mit möglichen Ergebnissen anstellen wird. Sonst bleibt das pure Zeitvergeudung. Manche Meister der Zunft sind hier nach meiner Einschätzung und Erfahrung überfordert, suggerieren allerdings oftmals Souveränität. Bekanntlich ist das Zusammentreffen von Ignoranz und Arroganz gefährlich. Entscheidungen, so auch über die Netzwerkgestaltung, verlangen nach gründlicher Analyse mit modernen Tools, aber auch nach Pragmatismus und strategischem Weitblick.

Was sehen Sie auf die Branche zukommen?

Die Fahrbahn und das Umfeld werden anspruchsvoller. Vieles, was möglich wäre, bleibt in der Branche allerdings noch auf der Strecke, weil es in manchen Bereichen noch an Standardisierung, Kooperations- und Veränderungsbereitschaft und auch zum Teil an Investitionsmitteln fehlt. Management und Belegschaft müssen sich hier gemeinsam bewegen. Auftraggeber sind gut beraten, nicht nur niedrige Preise und Zahlungsziele auf ewig zu verlangen, sondern selbst alles dafür zu tun, dass ihre Dienstleistungspartner den Service zu möglichst geringen totalen Kosten für alle erbringen können. Nennen wir es mal Partnership Convenience Effectiveness. Wartezeiten, Rampensituation und vieles andere mehr bieten Ansatzpunkte. Und wer es als Versender oder Empfänger seinen Partnern aus Sturheit oder Unvermögen unbequem macht, wenn es auch einfach und kostengünstiger gehen würde, muss sich nicht wundern, wenn Partner auch ausbleiben oder Preise erhöhen, wenn es eng wird.

Wie würden Sie die aktuelle Lage der Branche beschreiben?

Die vergangenen Jahre waren sehr gute Jahre. Aktuell scheint die Weltwirtschaft heftige Dämpfer in verschiedenen Bereichen zu bekommen. Häufigkeit und Amplitude der Einschläge haben weiter zugenommen. Für Logistikunternehmen und besonders Stückgutspediteure bringt das weitere Herausforderungen; die bekannten Stichworte sind Fahrer, Kraftstoffpreisexplosionen, plötzliche Schließungen von Werken der Verlader, Zahlungsausfälle, brutale Mengenänderungen und rigide Vertragskonditionen, die die Luft abschnüren. Was die Geschäftsentwicklung nach vorne betrifft, bietet auch die Zunahme des B2C-Geschäfts durch den E-Commerce weitere Servicemöglichkeiten, aber auch nötige organisatorische Maßnahmen.

Foto: Tim Wegner
Heute lehrt Prof. Freichel an der TH Köln und ist nebenberuflich als selbstständiger Unternehmensberater tätig.
Wie sehen die Perspektiven der Branche aus?

Die Zukunft gehört der Digitalisierung und der Cybertechnologie; starke KI-Systeme werden die Welt prägen. Und die Branche wird unter dem Stichwort Supply Chain Management sich noch viel mehr als bisher vernetzen müssen. Wichtige Faktoren sind auch die ESG-Stichworte Environment, Social und Governance, also Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. Und DIE: steht für Diversität, Integration und Equality, also Gleichbehandlung. Diese Aspekte sind künftig essenziell – wer hier keine tiefgehenden Nachweise und Performance vorlegen kann, bekommt nicht nur Fragen von Mitarbeitenden und Kunden, sondern schlicht keinen großen Kundenauftrag und auch keine Mitarbeiter mehr. Aber all diese Herausforderungen sind auch eine Chance, wenn man sich ihnen auch stellt.

Was braucht es dafür?

Dazu braucht es eine gute Unternehmenskultur – zeitgemäße Führung und einen guten Zusammenhalt im Team: gutes Coaching, das sich die Geschäftsführung gönnen sollte, kontinuierliches Lernen auf allen Ebenen mit Feedback. Mal die Leute zu einer Tagung schicken, genügt nicht. Das gilt für Mitarbeiter auf der Fläche und in der Verwaltung sowie auf der Führungsebene und fürs ganze Unternehmen. Dazu braucht es natürlich auch Hochschulen, die die passenden anwendungsorientierten Lehr- und Lernarrangements bereitstellen. An der TH Köln haben wir dazu etwa nicht nur interne Qualitätsprozesse, sondern auch ein International Board of Advisors mit Praktikern, um unsere Angebote in der Lehre und unsere Forschungsarbeiten regelmäßig zu reflektieren.

Steht die Branche in dem Fall also gut da?

Zunächst einmal zu Ausbildung und Karriere: Die Fülle an Ausbildungsprogrammen, an Studiengängen und Bildungsmöglichkeiten war vor und direkt nach meinem Studium nicht so weit gefächert wie heute. An den Weiterentwicklungen und der breiteren Basis sowie Vielfalt der treibenden Kräfte erkennt man, dass Logistik heute ein Erfolgsmodell ist – es gibt nicht nur viele Studien- und Forschungsmöglichkeiten, sondern auch viel mehr Karrierechancen in den Unternehmen. Führungskräfte werden gebraucht, um die unterschiedlichsten Prozesse zu organisieren, Produktion und Beschaffung zu optimieren und vieles mehr, da sind super interessante Möglichkeiten für junge Menschen dabei. Die aus der BVL entstandene Initiative „Die Wirtschaftsmacher“ gibt einen guten Eindruck zu den Berufsbildern in der Logistik. Allerdings müssen wir alle weiter kräftig daran arbeiten, das Image zu verbessern. Und wir müssen weiterhin daran arbeiten, dass Logistik und Supply Chain Management als Top Management-Aufgabe im Fokus bleibt und auf dem C-Level in Industrie und Handel zu verankern ist. Und nicht nur auf der Agenda steht, wenn die Lieferketten haken und Schuldige gesucht werden.

Prof. Dr. Stephan Freichel

  • Prof. Dr. Stephan Freichel hat seit 2013 die Professur für Distributionslogistik an der TH Köln (University of Applied Sciences) an der Fakultät für Fahrzeugsysteme und Produktion inne und ist nebenberuflich als selbstständiger Unternehmensberater tätig.
  • Der studierte Wirtschaftsingenieur, Fachrichtung Elektrotechnik, war nach der Promotion 1992 in die Wirtschaft gewechselt
  • Nach Führungspositionen bei General Motors, der Merck-Gruppe und ZF Trading wechselte er auf die Seite der Logistikdienstleister und war von 2004 bis 2012 Vorstand und Geschäftsführer bei der börsennotierten Microlog Logistics (später Logwin)
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