Lkw- und Busunfälle auf dem Verkehrsgerichtstag Kampf um jedes Wort

Foto: Jan Bergrath
Meinung

Die Empfehlungen des Deutschen Verkehrsgerichtages in Goslar finden im Idealfall bei der Ausgestaltung von Gesetzen und Vorschriften Berücksichtigung. Ganz so einfach ist das jedoch nicht, wie der Arbeitskreis über Lkw- und Busunfälle gezeigt hat. Aber dringend geboten.

Mit dem Deutschen Verkehrsgerichtstag in Goslar, den es bereits seit 1963 gibt, ist es für mich so wie mit dem Berliner Filmfestival, der Berlinale. Jedes Mal, wenn ich die Berichte darüber in der Zeitung lese, denke ich: Wie blöd, schon wieder verpasst. Ich hatte es daher dem Verkehrspsychologen Thomas Pirke, einem unserer Experten auf eurotransport.de, zu verdanken, dass ich Ende Januar tatsächlich zum ersten Mal nach Goslar mitgefahren bin und mich als Journalist für den Arbeitskreis VI über Lkw- und Busunfälle angemeldet habe. Im FERNFAHRER 4/2109, der am 2. März erscheint, ist es unser Thema des Monats.

Acht Arbeitskreise - acht Empfehlungen

In Goslar treffen sich Juristen sowie Experten für Verkehrsrecht, Verkehrssicherheit, Fahrzeugtechnik und Verkehrstechnik aus Forschung, Lehre und Praxis in bis zu acht Arbeitskreisen. Sie diskutieren am Donnerstagnachmittag und sprechen dann am Freitag gegen Mittag, nach einer weiteren Diskussion, bei der buchstäblich um jedes Wort gerungen wird, ihre Empfehlungen vor der Presse aus. Diese müssen genau auf eine DIN-A4-Seite passen. Das ist die Vorgabe. Und sie müssen heute „gendergerecht“ formuliert sein – also ist beispielsweise von „Radfahrenden“ und „zu Fuß Gehenden“ statt Radfahrern und Fußgängern die Rede – einem Sprachduktus, dem wir uns in der Redaktion nicht anschließen.

Im Arbeitskreis VI stellten unter der Leitung von Kirsten Lühmann, die für die SPD im Verkehrsausschuss des Bundestags sitzt, zunächst der Unfallforscher Siegfried Brockmann vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), Dr. Manfred Schuckert, Leiter des Bereichs Regulierung Emissionen und Sicherheit von Daimler, Dr. Guido Belger, Leiter der Rechtsabteilung des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL), sowie Thomas Fuhrmann vom Bundesverkehrsministerium ihre Thesen vor.

Im Publikum saßen rund 200 Teilnehmer: vom ADAC, dem ADFC, also den Vertretern der Radfahrer, die sich natürlich für Abbiegeassistenten im Lkw stark machten, der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und sehr viele Polizisten, die vor allem immer wieder auf das Defizit an Parkmöglichkeiten hinweisen, das auch zur Ermüdung von Fahrern führt. Im Gegensatz zu mir hatten sie alle eine grüne Stimmkarte. Die ausgesprochenen Empfehlungen finden im Idealfall bei der Ausgestaltung von Gesetzen und Vorschriften Berücksichtigung, heißt es.

Doch das ist nicht so leicht wie es klingt. Und wer meine Reportagen und Blogs liest, der weiß, dass ich mich besonders für zwei Themen stark mache: einer weiteren Verbesserung der Notbremsassistenten in Lkw und die Forderung, dass Fahrer besser auf diese Helfer im Lkw ausgebildet werden.

Problem der Stauendeunfälle

Der Vertreter von Daimler, der bei der Abstimmung am zweiten Tag nicht mehr dabei war, hatte insofern einen relativ schweren Stand. In seinem Vortrag konnte er zwar belegen, dass Daimler den Notbremsassistenten erfunden hat, aber sich dafür entschieden hat, die bessere technische Lösung, also ein System, das vor einem Stauende unter idealen Bedingungen bis zum Stillstand bremsen kann, nur gegen Aufpreis im Rahmen eines Safety Paketes zu verkaufen. Leider auch im New Actros, der nun im Frühjahr auf den Markt kommt. Allerdings betonte Schuchert auf kritische Fragen aus dem Plenum, dass die Ausstattungsrate mit diesen Safety Paketen mittlerweile bei rund 80 Prozent liege.

Die Strategie von Daimler ist nicht ungesetzlich. Aber es ist vor allem der wirtschaftliche Druck, den Daimler immer wieder als Grund angibt. Und, wie neulich auf SWR, sei es die Priorität des Kunden, sich für eines der beiden Systeme zu entscheiden. Daher weise ich noch einmal darauf hin, dass es vor allem die Flotten aus Osteuropa sind, die in großen Stückzahlen den Actros eben gern mit dem serienmäßigen ABA kaufen – der seit November 2018 bei Neufahrzeugen die Geschwindigkeit gesetzlich vorgegeben allerdings nur von 80 km/h auf 60 km/h reduzieren muss. Vorher, ab November 2015, war es sogar nur eine Reduzierung auf 70 km/h.

Geschwindigkeit gestrichen

Wer das Bild zu diesem Blog betrachtet, dem sollte ein gravierender Unterschied zu dem letzten Endes verabschiedeten Text auffallen. Dieser lautet: „Die Bundesregierung wird aufgefordert, in den internationalen Gremien weiterhin darauf hinzuwirken, dass Notbremsassistenten von Lkw und Bussen dem neuesten Stand der Technik entsprechen. Das bedeutet u.a., dass fahrende Fahrzeuge vor einem Stauende zum Stehen kommen und sich abschaltbare Systeme zeitnah automatisch wieder reaktivieren müssen.“ Ursprünglich stand dort noch „ein mit 80 km/h fahrendes Fahrzeug“. Doch nachdem die Expertenrunde sich nicht sicher war, dass die Geschwindigkeiten von Lkw bei maximal 89 km/h abgeriegelt werden, was nur durch technische Manipulation ausgetrickst werden kann, und ob aktuell verbaute Notbremsassistenten bei den Herstellen, die es derzeit können, also MAN, Daimler, Scania und Volvo, einen Lkw tatsächlich aus 89 k/h zum Stehen bringen kann – was mir die Pressestellen dieser Hersteller zugesagt haben - wurde die Geschwindigkeit gestrichen. Für mich persönlich ist das wenig konsequent. Denn obwohl die Höchstgeschwindigkeit für Lkw auf deutschen Autobahnen etwa 80 km/h beträgt, so sind viele Fahrzeuge doch mit bis zu 89 km/h unterwegs.

Internationale Gremien

„In der Europäischen Durchführungsverordnung 347/2012/EC [8] und der UNECE-Regelung 131 [9] definierte Notbremsassistenten (AEBS)“, so hat es der Vizepräsident der Landesverkehrswacht Niedersachsen, Dr.-Ing. Erwin Petersen, mit zwei Co-Autoren in einer großartigen Arbeit über Notbremsassistenten beschrieben, „sollen Fahrzeugführern helfen, kritische Auffahrsituationen rechtzeitig zu erkennen, bei konkreten Kollisionsrisiken eindringlich warnen und, sofern angemessene Fahrerreaktionen wie Ausweichmanöver oder eine wirksame Bremsung ausbleiben, schließlich – aber erst nach den Warnphasen – eine autonome Notbremsung einleiten, um die drohende Kollision zu verhindern oder zumindest die Kollisionsgeschwindigkeit zu mindern.“

Doch diese Vorschriften wurden bereits 2012 festgelegt. Einige Hersteller wie MAN, Daimler, Renault, Scania und Volvo bieten daher bereits Systeme an, die weiter über der aktuellen gesetzlichen Vorgabe liegen, andere wie DAF und Iveco bewegen sich genau im gesetzlichen Rahmen. Und in der Tat wirkt das Bundesverkehrsministerium also bereits über die BASt bei den Vereinten Nation, der UN, in Genf darauf hin, dass die Notbremsassistenten verbessert werden. Doch hier ist es wie beim Mobilitätspaket: Die Bundesregierung hat eben nur eine Stimme im Gremium in Genf, bis hier eine verbindliche Regelung gefunden wird, können also noch Jahre vergehen.

Möglichkeiten und Grenzen der Assistenzsysteme

Für mich nicht zu trennen ist daher der Punkt 5 der Empfehlungen – hier im Wortlaut: „Insbesondere Radfahrende und zu Fuß Gehende sollen durch geeignete Maßnahmen - auch in der schulischen Verkehrserziehung - über die eingeschränkten Sichtmöglichkeiten vom Fahrerplatz aus sensibilisiert und zu vorausschauendem Verhalten angehalten werden. Die verpflichtenden Schulungen für Lkw- und Busfahrende sollen um das Thema: „Möglichkeiten und Grenzen von Assistenzsystemen“ erweitert werden.“

Damit wurde zum einen erstmals anerkannt, dass die Schuld für schwere Lkw-Unfälle mit Radfahrern nicht allein bei den rechtsabbiegenden Lkw-Fahrern zu suchen ist, wie es vor allem die Tagespresse gerne darstellt – wobei es allerdings dann doch die Fahrer sind, die nach einem Unfall vor Gericht stehen. Es geht vor allem um die gegenseitige Rücksichtnahme, die auch verhindern könnte, dass Radfahrer etwa besser über den Toten Winkel aufgeklärt werden und gelegentlich an einer grünen Ampel auf ihr Recht auf Vorfahrt einmal verzichten, wenn sie mitbekommen, dass ein Lkw abbiegen will.

Fahrer in der Zwickmühle

Im FERNFAHRER 4/2019 beschreibe ich ebenfalls, wie die Spedition Resing aus Gescher ihre Fahrer alle zwei Jahre zu einem Fahrsicherheitstraining schickt. Dort lernen die Fahrer auch, wie sie im Notfall einem Hindernis ausweichen können. Es ist für mich eine positive seltene Ausnahme im Transportgewerbe. Erschreckend finde ich es allerdings nach Rückmeldungen von Fahrern und Fuhrparkleitern, dass nur relativ wenige Speditionen und Transportunternehmen die Fahrer über die Wirkung der Notbremsassistenten aufklären, die ja nun im deutschen Fernverkehr mittlerweile fast Standard sind, geschweige denn praktisch schulen.

Ein aktueller Unfall auf der A1 hat es mir noch einmal schlagartig vor Augen geführt: der 57jährige deutsche Fahrer eines MAN TGS mit Erstzulassung 2018 hatte ein Stauende zu spät erkannt. Dann habe er sich, so die Polizei Dortmund, erschreckt und nach links gelenkt, um offenbar noch an dem stehenden Holzlaster vorbeizukommen. Genau in so einem Fall besteht die Gefahr, den EBA2 des MAN zu übersteuern, wenn die Radarkeule das Ziel verliert.

Eine Reduzierung dieser Möglichkeiten der Übersteuerung, so weiß ich von Gesprächen nach Goslar, ist unter anderem ein Ziel der derzeitigen Verhandlungen in Genf. Denn wenn der Fahrer es eben nicht schafft, am Hindernis vorbeizukommen, dann rast er möglicherweise ungebremst mit einer Seite des Fahrerhauses ins Heck. So wie es dem jungen rumänischen Fahrer eines Kühlzuges im Oktober 2018 auf der A3 bei Bad Honnef passiert ist. Die Autobahnretter der Freiwilligen Feuerwehr Königswinter, über die ich im Heft 4/2019 ebenfalls berichte, konnten ihn nur tot aus dem Wrack seines Scania R 450 bergen.

Ich kann daher nur hoffen, dass Hersteller, Politik, Speditionen und Verbände auch diesen Punkt der Empfehlungen baldmöglichst umsetzen. Denn immer mehr Fahrer sind heute in der Zwickmühle, dass sie von ihren Tempomaten bei Ablenkung oder Müdigkeit regelrecht in einen Stau gezogen werden und dort möglicherweise im Reflex das Falsche tun statt, wenn sie einmal auf Ihrem Lkw tatsächlich erlebt haben, wie die Technik funktioniert, dieser eben auch zu vertrauen. Also nichts zu tun, außer das Lenkrad festzuhalten. Wobei es natürlich keine Garantie dafür gibt. Ein verpflichtendes praxisorientiertes Training mit dem eigenen Lkw sollte also auf alle Fälle baldmöglichst in die verpflichtende Weiterbildung der Lkw-Fahrer eingeführt werden. Denn sie können nur einer Technik vertrauen, die sie auch kennen.

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
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