Abbiegeunfälle mit Radfahrern Fataler Rückblick

Foto: Polizei Goch
Meinung

Die Meldungen über Lkw-Unfälle beim Rechtsabbiegen reißen nicht ab. Leider gibt es immer noch keine offizielle Erkenntnis, ob Abbiegeassistenten diese Unfälle verhindern können.

Die Pressemeldung der Polizei Kleve vom 23. Juli 2021 ist sachlich wie immer in solchen Fällen. „Gegen 10:20 Uhr hat sich an der Kreuzung Westring/Gaesdonckerstraße ein Verkehrsunfall ereignet, bei dem ein Radfahrer schwere Verletzungen erlitten hat. Ein 56-jähriger Lkw-Fahrer wollte mit seiner Sattelzugmaschine an der Ampel nach rechts vom Westring auf die Gaesdonckerstraße abbiegen. Dabei kam es zur Kollision mit einem 42-jährigen Radfahrer aus Goch, der auf dem Radweg in gleicher Richtung unterwegs war, aber weiter geradeaus auf dem Westring fahren wollte. Bei dem Zusammenstoß verletzte sich der Radfahrer schwer am Bein, ein Rettungswagen brachte ihn in eine Klinik. Der 42-Jährige war in Begleitung seines 8-jährigen Sohnes, der rechts neben ihm auf dem Radweg fuhr. Der Junge wurde nicht von dem Lkw erfasst, erlitt jedoch einen Schock. Das Fahrrad des Gochers wurde komplett überrollt und stark beschädigt. Auch am Lkw entstand Sachschaden.“

Leicht rückläufiger Trend

Ich bekomme regelmäßig solche Meldungen wie auch über die Lkw-Unfälle am Stauende. Im Heft 10/22 des FERNFAHRER, das Anfang September erscheint, widmen wir uns daher wieder einmal ausgiebig dem Thema Sicherheit im Straßenverkehr. Walter Eichendorf, der Präsident des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR), hatte mir im Zuge meiner Recherche zu den vielen online veröffentlichten Abbiegeunfällen geschrieben: „Bei Abbiegeunfällen gibt es laut DESTATIS einen leicht rückläufigen Trend, der von den beiden primär betroffenen Berufsgenossenschaften bestätigt wird“, so Eichendorf. „Die hohe Medienresonanz auf das Thema hat so viel Aufmerksamkeit erzeugt, dass beim Rechtsabbiegen viel vorsichtiger gefahren wird. Auch das ist erst einmal eine subjektive Aussage, die aber wie oben möglicherweise auf den Trend hindeutet.“

Actros mit Abbiegeassistent

Zurück zum Unfall in Kleve. Bei näherer Betrachtung des Fotos sind mir sofort die beiden Radarsensoren an der Seitenverkleidung des Actros und die Lage der Fahrräder aufgefallen. Die Polizei Kleve hatte mir seinerzeit bestätigt, dass in dem Actros ein Abbiegeassistent verbaut war und mich dann an die zuständige Staatsanwaltschaft verwiesen. Bis auf seltene Ausnahmen wie in einem Fall aus Osnabrück, wo es auf Grund der weißrussischen Staatsangehörigkeit des Lkw-Fahrers zu einem Schnellverfahren kam, vergeht schon mal ein Jahr oder länger, bis die beauftragten Gutachter das Geschehen ermittelt haben und es zum Verfahren gegen den Lkw-Fahrer kommt.

Als ich mich Ende Juli bei der Staatsanwaltschaft in Kleve erkundigen wollte, wann denn der Prozess stattfinden würde, erhielt ich eine für mich überraschende Antwort „Das hier gegenständliche Ermittlungsverfahren ist mit Verfügung des zuständigen Dezernenten vom 19.11.2021 gemäß § 170 Absatz 2 der Strafprozessordnung eingestellt worden. Bei der hier in Betracht kommenden Straftat – fahrlässige Körperverletzung - handelt es sich um ein sogenanntes Antragsdelikt, bei dem die Staatsanwaltschaft nur einschreiten darf, wenn rechtzeitig Strafantrag gemäß § 77 Strafgesetzbuch gestellt wird. Dies war vorliegend nicht der Fall. Ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung, das bei fehlendem oder verspätetem Strafantrag ein Einschreiten ermöglichen würde, war unter Berücksichtigung des Einzelfalles nicht zu erkennen. Eine verfolgbare Straftat lag deshalb nicht vor.“ Und dann der für mich entscheidende Satz: „Im Zusammenhang mit dem eingebauten Abbiege-Assistenten sind vorliegend keine Feststellungen getroffen worden.“

Mehr mediale Aufmerksamkeit für Unfälle

Ich hatte mir in der Tat erhofft, beim möglichen Besuch des Prozesses zu erfahren, ob ein Abbiegeassistent tatsächlich einen Unfall verhindert hatte. Doch es ist wie beim Thema der Notbremsassistenten. Für verhinderte Unfälle gibt es leider keine Statistik, wie ich in der Reportage im FERNFAHRER ebenfalls darlegen werde. Dass die Zahl der bei diesen Unfällen getöteten Lkw-Fahrer von 70 im Jahr 2021 auf „nur“ 21 bis Mitte August gesunken ist, ist immerhin ein positives Zeichen. Auch dazu hatte mir Eichendorf geschrieben: „Die 70 Getöteten aus 2021 sind uns bekannt, ebenso der Rückgang im ersten Halbjahr“, so Eichendorf. „In Baden-Württemberg und in Bayern habe ich von den Innenministerien gehört, dass die Lkw-Unfälle rückläufig seien, aber das ist erst einmal eine subjektive Aussage. Allerdings sieht man dort auch, dass über die Lkw-Unfälle viel mehr als früher in den Medien berichtet wird, weil mehr Aufmerksamkeit dafür vorhanden ist. Das verdeckt möglicherweise den Rückgang, den wir aber erst im Frühjahr 2023 endgültig in der Statistik sehen werden.“ In diesem Zusammenhang verwies Eichendorf noch einmal deutlich darauf, dass die Fahrer besser auf die Assistenzsysteme geschult werden müssen, wie er es bereits in der 79. Sendung von FERNFAHRER LIVE betont hatte.

Die Gefahr des Überrollens

In diesem Zusammenhang wies mich Eichendorf auf eine aufschlussreiche Untersuchung aus Berlin hin. Darin heißt es unter anderem: „Die überproportionale Verletzungsschwere ungeschützter Verkehrsteilnehmer bei Unfällen mit rechtsabbiegenden Lkw ist darauf zurückzuführen, dass die Radfahrer und Fußgänger von den Lkw überrollt werden.“ Das geschieht, wie wir es in der 74. Sendung von FERNFAHRER LIVE ausgiebig erörtert haben, meistens mit der Hinterachse des Aufliegers, wenn der vom Fahrerhaus umgeworfene Radfahrer bereits am Boden liegt. Und weiter: „Im Rahmen einer Diplomarbeit wurden 141 Unfälle zwischen rechtsabbiegenden Lkw und Radfahrern analysiert. Dabei zeigte sich, dass im Hinblick auf die beschriebene Unfallart auch moderne Lkw noch erhebliche Schwachpunkte aufweisen. Das gilt sowohl im Hinblick auf die aktive Sicherheit (die Sicht aus den Lkw) als auch im Hinblick auf die passive Sicherheit (Überrollschutz). Unter anderem wurde deutlich, dass nicht nur die gesetzlich vorgeschriebenen seitlichen Abweisvorrichtungen weitgehend untauglich sind. Selbst die von Sicherheitsfachleuten oft geforderten flächigen und tiefgezogenen Schutzvorrichtungen konnten das Überrollen von Radfahrern nicht immer wirksam verhindern.“

Eigene Recherche

Im Falle des Unfalls in Kleve gab es dieses Überrollen durch den Auflieger definitiv nicht. Ich habe mich daher an den Halter des Actros gewandt, die Spedition Schockemöhle, da deren Name auf dem Foto zu erkennen war. Und ich habe mich sehr über die schnelle und offene Antwort gefreut. „In der Tat hat das Fahrzeug einen Abbiegeassistenten“, so ein Sprecher. „Dieser hat in jedem Fall auch funktioniert, wie ich mir habe bestätigen lassen, doch es konnte der Zusammenstoß nicht verhindert werden, weil die Fahrradfahrer in den Lkw reingefahren sind. Nach Zeugenaussagen blickte die erziehungsberechtige Person in dem Moment, wo der Lkw abbog nach hinten. Der Assistent hat dies auch angezeigt – deswegen ist der Fahrer auch sofort stehen geblieben. Gleichzeitig kam es aber zur Kollision.“

Foto: Polizei Goch

In Zusammenhang mit dem zweiten Bild der Unfallstelle ist dann natürlich die Frage erlaubt, wie es sein kann, dass ein Radfahrer zwischen einer meterhohen Hecke und einen meterhohen Sattelzug quasi wie durch eine dunkle hohle Gasse auf eine Kreuzung zufährt und die Gefahr, dass der Lkw abbiegen könnte, offenbar nicht wahrgenommen hat. Doch eine Diskussion mit den Lobbyisten des ADFC, dass auch die Radfahrer laut Straßenverkehrsverordnung eine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme im Straßenverkehr haben, ist müßig, wie es ein aktueller Abbiegeunfall aus Köln gerade zeigt. Mitten in der Innenstadt hatte ein Fahrer eines Heizöltransporters mit einem Arocs Baujahr 2018 eine 74-jährige Radfahrerin wahrscheinlich übersehen und schwer verletzt.

Darin heißt es: „Der ADFC Köln wiederholt eindringlich seine Mahnung, dass Lasterwagenfahrer immer noch zu wenig sensibilisiert sind für Abbiegevorgänge. Vielmehr aber wüssten viele Lkw-Fahrer immer noch nicht, wie sie ihre Außenspiegel ausrichten müssen, um die gesamte Wagenseite einsehen zu können. „Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, dass ein Abbiegevorgang mit einem Lkw komplex ist. Aber die Fahrer haben mit bis zu sieben Außenspiegeln genug Möglichkeiten, alles zu überblicken. Aber die Spiegel sind oft nicht richtig eingestellt.“, sagt Christoph Schmidt. „Das muss viel mehr geschult werden“, fordert er. Und in der Tat stellen auch Ausbilder, die sich intensiv mit dem Thema befassen, immer wieder fest, dass es bei korrekt eingestellten Spiegeln eigentlich keinen toten Winkel mehr geben müsste.

Verhärtete Fronten

Tatsächlich ist das auch bei jeder Sachverständigenuntersuchung immer ein Thema, wie ich es bereits in meinem Blogbeitrag „Sehen und gesehen werden“ ausgiebig erörtert habe. Aber dass eben auch Radfahrer bei einem vom Bundesverkehrsministerium eindeutig angestrebten Ausbau des Radverkehrs in den Städten, bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Radfahrer zwischen normalem Citybike, Pedelec und E-Bike für die potentiellen Gefahren sensibilisiert werden müssten, ist für den ADFC keinen Gedanken wert. Daher warte ich nun auf das anstehende Verfahren vor dem Amtsgericht Köln zu diesem tragischen Unfall im Kölner Süden. Die nahende Radfahrerin war mit ihrem „Urban Arrow“ Familienlastenfahrrad zum Glück ohne Kinder auf einem gut drei Meter von der Straße entfernten Radweg hinter einer Bußhaltestelle unterwegs, der dann wieder nach links auf die Ampelkreuzung zulief. Ich hatte mir die Unfallstelle damals angesehen. Demnach musste der Fahrer des Kipperzuges kurz nach links ausholen, um rechts in eine Seitenstraße abzubiegen. Die Radfahrerin wurde in diesem dynamischen Abbiegevorgang vom Lkw nach der Spurenlage mitten auf dem Übergang getroffen. Ich bin – leider – ziemlich sicher, dass ein Gutachter feststellen wird, dass der Lkw-Fahrer die Frau in irgendeinem Moment im Spiegel hätte sehen müssen.

Doch die Fronten sind hier einfach verhärtet. Ich kann mich hier nur aus meiner eigenen Erfahrung als Radfahrer mit jahrelanger Lkw-Praxis wiederholen: Was nützt es mir, wenn ich auf mein in der Tat gegebenes Vorfahrtrecht „blind“ an einer Kreuzung beharre, wenn am Ende auf meinem Grabstein steht: „Er hatte Vorfahrt“.

Update von der Staatsanwaltschaft Köln

Das Verfahren zum zuletzt genannten Unfall im Kölner Süden wurde eingestellt. Das ist das Statement der Staatsanwaltschaft:

"Maßgeblich für die Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO waren folgende Erwägungen: Nach dem Ergebnis der Ermittlungen war nicht auszuschließen, dass die Radfahrerin sich zumindest einige Sekunden lang im toten Winkel des Lkw befand und sie den Lkw – möglicherweise, weil sie dessen Blinker allenfalls eingeschränkt wahrnehmen konnte - nicht als konkurrierenden bzw. kreuzenden Verkehrsteilnehmer wahrnahm. In dieser Situation geriet die Radfahrerin mit dem Fahrrad unter den Lkw und wurde eine Strecke weit mitgeschleift. Ein Übermaß an Nachlässigkeit ließ sich keinem der Beteiligten vorwerfen. Trotz der recht dramatisch anmutenden Unfallsituation kam es im Endeffekt glücklicherweise „nur“ zu überschaubaren Verletzungen. Vor diesem Hintergrund erschien eine Einstellung des Verfahrens gegen Erteilung einer Geldauflage vertretbar."

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