Unfälle beim Rechtsabbiegen Was ist Schrittgeschwindigkeit?

Foto: Jan Bergrath
Meinung

Bei einem Urteil zu einem tragischen Verkehrsunfall in Osnabrück spielt auch die zu hohe Geschwindigkeit des rechtsabbiegenden Lkw eine entscheidende Rolle.

Der tödliche Rechtsabbiegeunfall vom 23. März in Osnabrück, wie ihn die Hasepost beschreibt, folgte einem leider bekannten Muster, das bei mir auch als Radfahrer immer wieder dieselben Reaktionen hervorruft: Warum eigentlich nehmen Radfahrer nicht wahr, dass neben ihnen auf dem Radweg ein Lkw auf der Straße fährt. Lkw kann man sehen und immer noch hören, solange sie dieselgetriebene Motoren haben. Ich bin selbst jahrelang Lkw gefahren. Und wenn, so wie in diesem Foto, ein Lkw neben mir steht oder fährt, dann nehme ich diesen wahr und stelle mich darauf ein, dass er möglicherweise nach rechts abbiegen kann. Dann vermeide ich als schwächerer Verkehrsteilnehmer durch meine Voraussicht wahrscheinlich einen Unfall. Eine Argumentation, die leider bei der Lobbyorganisation des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) keine Chance hat. Ich arbeite dennoch daran, diese eines Tages davon zu überzeugen.

Straße ins Industriegebiet

Zum tragischen Unfall. Ein 43-jähriger Lkw-Fahrer aus Belarus fuhr am 23. März auf der Römereschstraße in Osnabrück stadteinwärts. Der 62-jährige Radfahrer aus Wallenhorst war auf dem Radweg unterwegs. Als der ortsunkundige Fahrer, so wie es ermittelt wurde, seinem Navi folgte und plötzlich nach rechts in den Kiefernweg in Richtung eines Gewerbegebiets abbog, übersah er dabei den Radfahrer und erfasste ihn samt Rad. Nach Zeugenaussagen im schnell einberufenen Verfahren vor dem Amtsgericht Osnabrück am 1. April war der Lkw kurz nach links ausgeschert, um rechts abzubiegen.

Nach der Auswertung des Fahrtenschreibers durch einen Gutachter war der Belarusse auf der Straße mit 36 km/h unterwegs und dann mit etwa 14 km/h abgebogen. Der Fahrer konnte sich nicht erinnern, ob er geblinkt hatte. Einen Abbiegeassistenten hatte der Lkw nicht. In diesem kurzen Prozess wurde der Fahrer aus der Untersuchungshaft heraus zu einem Jahr und drei Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Die Wertung des erstaunlich kurzen aber statthaften Prozesses durch unseren Fachanwalt für Verkehrsrecht, Matthias Pfitzenmaier, steht im Recht Aktuell des Heftes 6/22 des FERNFAHRER. Da habe auch ich wieder etwas Neues erfahren.

Achtung Schrittgeschwindigkeit

Die für unsere Leser wahrscheinlich wichtigere Nachricht aus dem Urteil ist tatsächlich die gutachterliche Wertung der Schrittgeschwindigkeit, neben dem bekannten Vorwurf, dass der Lkw-Fahrer den Radfahrer hätte sehen müssen, was wir bereits ausgiebig in der 74. Sendung von FERNFAHRER LIVE diskutiert haben. „Diese Neuregelung im Paragrafen 9 Abs. 6 StVO gilt seit den 9. November 2021“, betont Rechtsanwalt Matthias Pfitzenmaier. Die entsprechende Formulierung lautet: „Wer ein Fahrzeug mit einer zulässigen Gesamtmasse über 3,5 t innerorts führt, muss beim Rechtsabbiegen mit Schrittgeschwindigkeit fahren, wenn auf oder neben der Fahrbahn mit geradeaus fahrendem Radverkehr oder im unmittelbaren Bereich des Einbiegens mit die Fahrbahn überquerendem Fußgängerverkehr zu rechnen ist.“

Keine Norm für Schrittgeschwindigkeit

Allerdings: „Was der Gesetzgeber nicht getan hat, ist den Begriff der Schrittgeschwindigkeit gesetzlich zu normieren“, moniert Pfitzenmaier. „Ich verstehe hierunter einen Bereich zwischen 4 und 7 km/h. Ich bin aber nur einer von vielen Juristen.

Das OLG Naumburg hat sich im Beschluss vom 21.3.2017 hierzu wie folgt geäußert: „Eine Geschwindigkeit von mehr als 10 km/h kann nach dem Wortsinn nicht mehr als Schrittgeschwindigkeit angesehen werden. Der Begriff Schrittgeschwindigkeit kann auch nicht je nach den örtlichen Gegebenheiten oder dem Grad der Gefährdung unterschiedliche Geschwindigkeiten bezeichnen. Wäre solches vom Gesetzgeber beabsichtigt gewesen, hätte er nicht den Begriff Schrittgeschwindigkeit gewählt, sondern etwa „die den Umständen entsprechend ungefährliche Geschwindigkeit“ angeordnet. Nach der Rechtsprechung gilt teilweise eine Geschwindigkeit von 4-7 km/h als Schrittgeschwindigkeit. Das OLG Hamm zieht die Grenze bei 10 km/h. Das Amtsgericht Leipzig hält eine Geschwindigkeit von 15 km/h noch für Schrittgeschwindigkeit. Das OLG Naumburg ist der Auffassung, dass ein Tempo von 10 km/h gerade noch als Schrittgeschwindigkeit angesehen werden kann wer sich noch schneller fortbewegt, geht bzw. schreitet nicht, sondern läuft.“

Wie schnell geht ein Mensch?

Nach Auswertungen eines Sachverständigen beträgt die Geschwindigkeit beim Gehen eines gesunden, unbehinderten Erwachsenen unter normalen Bedingungen zwischen 4,86 km/h bis 5,94 km/h. „Es wäre vielleicht tatsächlich einfacher gewesen von Gesetzes wegen einen bestimmten Korridor anzugeben, der als Schrittgeschwindigkeit gilt. So bleibt die Rechtsprechung hierzu ein Flickenteppich. Im vorliegenden Fall ist der Lkw-Fahrer mit 13 bis 14 km/h abgebogen. Dies wäre jedenfalls schneller als Schrittgeschwindigkeit, außer er wäre in Leipzig abgebogen.“

Anzumerken sei noch, betont Pfitzenmaier, dass der Lkw-Fahrer im vorliegenden Fall auch verurteilt worden wäre, wenn er nur mit 7 km/h abgebogen und dabei den Fußgänger überfahren hätte. Immer unter der Voraussetzung, dass der Radfahrer wahrnehmbar gewesen wäre. Eine angemessene Abbiegegeschwindigkeit, wurde schon bisher von der Rechtsprechung gefordert.

Das Strafmaß

„Wenn der Gutachter ausführt, dass bei Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit eine Kollision nicht erfolgt wäre, dann ist dies meines Erachtens so zu interpretieren, dass dann eine räumliche Vermeidbarkeit des Vorfalls bestanden hätte (Radfahrer räumlich schon weg), bevor der Lkw den Abbiegevorgang durchgeführt hat“, so Pfitzenmaier. „Was das Strafmaß angeht, so ist bei einer fahrlässigen Tötung zumindest eine Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt ist, nichts Ungewöhnliches. Die Dauer der dabei verhängten Freiheitsstrafen ist nach Einzelfall abzuwägen. Beim ersten Mal gibt es eigentlich immer Bewährung.

Deutsche Fahrer im Nachteil?

Bei einem deutschen Fahrer hätte es darüber hinaus wahrscheinlich eine führerscheinrechtliche Maßnahme gegeben, also entweder die Entziehung der Fahrerlaubnis oder ein Fahrverbot. „Meines Erachtens hätte dies im vorliegenden Fall auch ausgesprochen werden können. Wenn das Gericht die Nichtverhängung von führerscheinrechtlichen Maßnahmen damit begründet, dass der Lkw-Fahrer nicht hätte aufgehalten werden können, dann ist dies zwar zum Einen insoweit richtig, als weder das Fahrverbot noch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis sofort mit Urteilsverkündung rechtskräftig werden. Vielmehr ist es so, dass beim Fahrverbot dieses dem Grunde nach erst einen Monat nach Rechtskraft zwingend beginnt und bei der Entziehung der Fahrerlaubnis diese durch Einlegung eines Rechtsmittels verzögert werden kann. Es hätte aber durchaus die Möglichkeit bestanden, dem Fahrer durch entsprechende Maßnahme zu verbieten, im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ein Fahrzeug zu führen, sei es durch Entzug der Fahrerlaubnis oder ein Fahrverbot. Davon hat das Gericht aber offensichtlich abgesehen. So kann der Fahrer jederzeit wieder nach Deutschland einreisen und dort Kabotagefahrten durchführen.“

Die Ansicht eines Unfallanalytikers

Ich habe auch den Berliner Unfallanalytiker Andreas Wendt um seine Einschätzung gebeten. „Man geht von einer Geschwindigkeit zwischen 6 bis 8 km/h aus, wobei einige Gerichte bereit sind bis maximal 11 km/h in solchen Fällen die Schrittgeschwindigkeit zu akzeptieren“, sagt Wendt.

„Jedoch muss man darauf hinweisen, dass die Einführung der Schrittgeschwindigkeit bei Juristen nichts neues gebracht hat, da bereits seit Jahren in den Rechtskommentaren von einem Hereintasten in den Abbiegevorgang gesprochen wird.“

Immer wieder hereintasten

„Beim Hereintasten geht man davon aus, dass der Lkw vor dem Radweg/ Fußgängerüberweg anhält, um sich einen Überblick zu verschaffen“, sagt Wendt. „Der sogenannte Schnellprozess ist zum Einem Teil der überforderten Justiz (Schnellverfahren kann man einschieben, meist sind Räumlichkeiten knapp) als auch der Tatsache geschuldet, dass man heutzutage aus technischen Geräten Informationen nach dem Unfall entnehmen kann. In diesem Fall wird es der ausgelesen Fahrtenschreiber sein. Bessere Erkenntnis wird man ggf. sonst nicht erhalten, wenn es zum Beispiel keine Zeugen gab.“ Allerdings steht Wendt eigenen Angaben zu Folge der Auswertung aus dem Fahrtenschreiber sehr kritisch gegenüber. „Zum einem wird diesem Auslesen der Geräte ein Auslesen eines Unfalldatenspeichers unterstellt. Das wäre nicht richtig, da diese Geräte dazu geschaffen sind, um andere Daten zu erfassen. Das EG-Kontrollgerät ist dafür geschaffen, um soziale Daten zu erfassen. Zwar befinden sich darauf auch Geschwindigkeitsangaben, aber genau bei diesen gibt es zwei Probleme. Die Geschwindigkeit wird von Raddrehzahlsensoren erfasst. In der Tachoerfassung wird die schnellste Raddrehzahl erfasst. Fährt man in einer Kurve so sind die Kurvenäußeren Räder schneller als die Kurveninneren Räder. Zweitens wird der gesetzlich vorgeschriebene Tachovorlauf +4 km/h (+-10%) nicht abgezogen.“

Beispiel aus der Pkw-Welt

Als Beispiel führt Wendt einen Pkw-Fall an: „Der fuhr mit einem Tachowert von 21 km/h um die Kurve, aber tatsächlich waren es nur 17 km/h. Hier wurde der Tachovorlauf unberücksichtigt.

Technische Geräte zu nutzen, welche in ihrer Funktion nicht als Unfalldatenspeicher zugelassen sind, sehe ich gesetzlich sehr kritisch. Es gibt seitens des Drittherstellers keine Validierung mit dem Hersteller des Fahrzeuges und beide können auch keine genauen Angaben zur Einsatzfähigkeit als Unfalldatenspeichers machen. Die Justiz suggeriert hier Fähigkeiten in ein falsches Gerät hinein. Das wäre so, dass mein Blu-ray Player beim Betrieb Wärme abgibt und ich daraufhin sage, man könne den Blu-ray Player als Kochplatte verwenden.“

Und zum Abschluss wünsche ich allen Leserinnen und Lesern frohe Ostern!

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
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