Gefahr Toter Winkel Sehen und gesehen werden

Foto: Spedition Bermers
Meinung

Unfälle mit rechtsabbiegenden Lkw landen vor Gericht. Dort werden Lkw-Fahrer aber schon wegen Fahrlässigkeit verurteilt, wenn sie eine Radfahrerin nur hätten sehen können.

Das Bild für diesen Blog hat mir die Spedition Bermers aus Willich bei Krefeld zur Verfügung gestellt. Es zeigt einen Tankzug der modernen Flotte. Von den 42 eigenen Lkw sind mittlerweile 32 mit dem aktuellen radarbasierten Abbiegeassistenten von Mercedes-Benz ausgestattet, der Austausch der restlichen Lkw ist laut Bermers in Planung. Mit einem dieser Tankzüge hatte sich Bermers bereits Mitte September an einer Präventionsveranstaltung der Verkehrspolizei Krefeld beteiligt.

Auf dem Sprödentalplatz konnten Schulkinder der fünften Klasse erleben, wie groß der sogenannte „Tote Winkel“ aus der Sicht eines Lkw-Fahrers am Steuer ist - im Stand und in Sicherheit mit korrekt eingestellten Außenspiegeln. Es gibt seit Jahren bundesweit manche sehr vorbildliche Transportunternehmen, die sich auf diese oder ähnliche Weise für die Verkehrssicherheit engagieren und ihren Fahrern das Arbeitsleben durch den konsequenten Einsatz von moderner Technik das Leben erleichtern. Allerdings reicht laut Polizei Krefeld, die das einmal im Jahr anbietet, ein Lkw alleine nicht aus, um alle Kinder der fünften Klasse zu erreichen. Dennoch hier an erster Stelle mein Dank.

Sicherheitskampagne zweier Verlage

Im Juni durfte ich für eine Sicherheitskampagne der Stuttgarter Motorpresse zusammen mit dem ETM Verlag eine Reportage schreiben, die sich unter anderem mit der Entwicklung der assistierenden Technik im Lkw und der gleichzeitig zunehmenden Rücksichtslosigkeit der Verkehrsteilnehmer im Straßenverkehr, besonders in den Innenstädten befasst hat. Sie basiert zu einem erheblichen Teil auf den Erkenntnissen der aktuellen Dekra Unfallforschung. Sie beschreibt die bekannten Stärken und einige Schwächen moderner Assistenzsysteme. Zudem beschreibt sie die Gefahr des dynamischen toten Winkels, der sich ergibt, wenn ein Lkw nicht steht, sondern wirklich abbiegt. Sie schildert, dass weniger die selbst von der Polizei kritisierten „Kampfradler“ bei diesen Situationen in Gefahr sind, sondern ältere Frauen mit ganz normalen City-Rädern.

Und sie fordert, neben mehr Aufklärung über die Missverständnisse, die etwa Radfahrer über das Abbiegeverhalten gerade von 40-Tonnern haben, eine Änderung der Vorfahrtregeln an Ampeln, die dem rechtsabbiegenden Fahrzeug zuerst die Vorfahrt gewährt sowie ein Verbot, einen stehenden Lkw rechts zu überholen. Alles Punkte, die das Leben von Radfahrern und Radfahrerinnen retten könnten, die aber in der aktuellen und wohl auch zukünftigen Politik keine Chance haben. Und vor Gericht keine Bedeutung.

Ein tragischer Unfall in Köln

Im Mai 2020 gab es mitten in Köln, am belebten Friesenplatz, einen sehr tragischen Unfall mit einem Gliederzug, dessen Fahrer, wie man heute weiß, an einer naheliegenden Baustelle auf dem Hohenzollernring entladen hatte und dann stadtauswärts Richtung Autobahn fahren wollte. Dabei überrollte er eine 55-jährige Radfahrerin. Am 14.9. musste sich der 45-jährige Fahrer nun vor dem Amtsgericht Kölner wegen fahrlässiger Tötung verantworten, was der Kölner Express sehr detailliert beschrieben hat. Wichtigstes Beweismittel war dabei eine der Unfallstelle genau gegenüberliegende Überwachungskamera. Auf dem Video soll man, so später auch der Pressesprecher des Amtsgerichts, laut Kölner Express sehen, "wie zwei Radfahrer rechts an dem Lkw vorbeifahren und sich in dem für sie gekennzeichneten Bereich positionieren, um auf Grün zu warten. Das spätere Opfer, eine 55-jährige Radfahrerin, kommt als dritte angeradelt, bleibt hinter den beiden anderen stehen. Als die Ampel umspringt, fahren die ersten beiden Radler vor dem Lkw los, das spätere Opfer jedoch bleibt auf Höhe des Lkw – für den Fahrer durch die A-Säule und den rechten Außenspiegel nahezu völlig verdeckt."

Im Zweifel die Radfahrer zählen

Ich war nicht bei der Verhandlung anwesend, habe mich aber einen Tag später mit dem Pressesprecher sehr ausführlich über diesen Fall ausgetauscht. Der Lkw war gerade aus der Baustelle herausgefahren und stand mit Warnblinkern quasi auf beiden Fahrspuren. Der Sachverständige hatte später die ganze Szene nachgestellt, die Spiegel waren korrekt eingestellt. Der einzige Vorwurf: der Fahrer hätte 17 Sekunden lang die Möglichkeit gehabt, die Radfahrerin zu sehen - wie sie von hinten kommt. In dieser Zeit hätte der Lkw-Fahrer quasi permanent die Radfahrer zählen müssen. „In der Zeit hätte dieser aber nicht in den Rückspiegel geguckt, wird der Sachverständige zitiert. Denn dann hätte er sie sehen können – und müssen“, betonte er. Dass die Radfahrerin später – also bei der Anfahrt des Lkw – permanent im toten Winkel war, wurde zwar ebenfalls erwiesen. Doch eine „Mitschuld“, wenn man sich praktisch selbst in Gefahr begibt, gibt es im strafrechtlichen Sinne beim Vorwurf der Fahrlässigkeit nicht.

Keine Chance vor Gericht

Und so sind es zwei Punkte, die ich an der Begründung des Gerichts kritisiere. Zum Einen das „Urteil“ des Sachverständigen vor dem eigentlichen Urteil, das mittlerweile auch an vielen anderen deutschen Gerichten als Begründung herangezogen wird. „Entweder achte ich ganz früh drauf und zähle die Radfahrer ab“, erklärte er. „Oder ich warte solange, bis sie aus dem toten Winkel rausgefahren sind. Klar, dann hupen die hinter einem, aber das ist dann eben so.“ Ich gehöre sicher nicht zu den Journalisten, die zu fragwürdigen Aktionen aufrufen, aber als ich das gelesen habe, dachte ich schon: vielleicht sollten die Lkw-Fahrer in den Städten wirklich in solchen Situationen aus Eigenschutz so lange stehen blieben, bis sie zu hundert Prozent sicher sein können, dass kein Rad mehr kommt. Und die Staus der genervten Autofahrer in Kauf nehmen.

Denn Fakt ist: Irgendein Rad kommt immer, mittlerweile auf Grund der zunehmenden E-Fahrräder auch noch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das Urteil schließt dabei hier meines Erachtens den Fakt aus, dass Lkw-Fahrer an einer stark frequentieren innerstädtischen Kreuzung gleichzeitig alles andere, was dort passiert, im Blick haben müssen. Leider suchen die meisten Sachverständigen immer nur die Fehler bei den Lkw-Fahrern. Und wenn es am Ende sogar nur vier Sekunden hätte sein müssen. Für einen Lkw-Fahrer ist es praktisch unmöglich, gegen diese Möglichkeit zu argumentieren. Selbst wenn in einem nicht minder tragischen Fall in Köln-Widderdorf der damalige Sachverständige zunächst komplett daneben lag.

Was ist mit der Sorglosigkeit der Radfahrer?

Noch fragwürdiger finde ich den abschließenden Vorwurf der Richterin, die dem Fahrer, der sogar eine Spezialausbildung in London genossen hatte, für diesen einen Moment, an der er die Radfahrerin offensichtlich tatsächlich nicht gesehen hat, wortwörtlich „Sorglosigkeit im Straßenverehr“ vorwarf. Im Grunde wird hier mit zweierlei Maß gemessen. Denn es sind eben auch die Radfahrerinnen und Radfahrer, die zunehmend sorglos und verkehrswidrig durch die Städte fahren, oft mit Ohrstöpseln und Musik im Ohr, gerne mit dem Blick aufs Handy schon mal abgelenkt – was aber bei der aktuellen Rechtsprechung keinerlei Rolle spielt. Schuld sind immer die Lkw-Fahrer. Gerne würde ich die zuständige Richterin einmal dazu einladen, mit einem Lkw durch Köln zu fahren, um so eine Begründung zu überdenken. „Wenn sie mit so einem Riesengerät durch die Innenstadt fahren, müssen sie aufpassen, sehr viel mehr aufpassen“, erklärte sie. „17 Sekunden haben sie nicht in den Spiegel geguckt, sonst hätten sie sie ankommen gesehen.“ Dafür, dass der Fahrer „quasi blind“ unterwegs war, verurteilte sie ihn zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung und zur Zahlung von 2.000 Euro an die Verkehrswacht Köln.

Die psychischen Folgen eines Unfalls

Dass viele Fahrer an den Folgen dieser Unfälle psychisch zerbrechen und den Beruf danach aufgeben, spielt keine Rolle. Besonders schlimm ist es, wenn Kinder ins Spiel kommen – wie ein weiterer schlimmer Fall aus Leverkusen zeigt. Hier war ein elfjähriges Mädchen – von rechts auf dem Bürgersteig kommend – vor dem Lkw, der wartend in der Ausfahrt von einer Tankstelle stand, in Gegenrichtung auf die Fahrbahn gefahren. Auch in diesem Verfahren war das Urteil des Sachverständigen eindeutig: „Laut des Tachografen, der die Geschwindigkeit des Lkw sekündlich aufzeichnet, stand das Fahrzeug 14 Sekunden lang an der Ausfahrt der Tankstelle. Fotos des Experten zeigten auf, dass der Mann, hätte er sich „nur einmal“ vorgelehnt, das Kind hätte sehen können. Es hätte wohl nur eine halbe Sekunde gefehlt und das Mädchen wäre vorbei gewesen.“ Ungeachtet der Tatsache, dass das Mädchen an dieser Stelle niemals hätte an dem Lkw vorbeifahren dürfen.

Deutlicher Hinweis an die Speditionen

Laut eines weiteren Berichts des WDR zum aktuellen Kölner Urteil sagte die Richterin, „dass auch die Politik genauso wie Speditions-Unternehmen die Fahrerinnen und Fahrer von Lkw alleine ließen. Denn in vielen Fahrzeugen seien keine Abbiege-Assistenzsysteme eingebaut.“ Das ist zunächst richtig. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer ist in Brüssel daran gescheitert, den Abbiegeassistenten früher als 2022 (für neue Fahrzeugtypen) und 2024 für neu zugelassene Lkw zur Pflicht zu machen. Mittlerweile gibt es 19 nachrüstbare Systeme, die eine Allgemeine Betriebserlaubnis (ABE) des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) haben. Wäre in dem Unfall-Lkw, einem MAN, so ein System verbaut gewesen, wäre der Vorwurf ausgeblieben. Meine Anfrage an die Geschäftsführung des mir bekannten Transportunternehmens, das ich hier natürlich nicht nennen kann, ob man die eigenen Lkw bereits ausgestattet habe oder nach dem Unfall nachrüsten will, blieb leider unbeantwortet. Doch das ist nur die eine Seite des Problems.

Unfall mit Abbiegeassistent

Schon länger ist mir ein Unfall aus dem niederrheinischen Goch bekannt, zu dem die Polizei Kleve am 23. Juli eine Pressemeldung veröffentlicht hat. Das Bild zeigt einen Unfall mit einem rechtsabbiegenden Sattelzug, dessen Fahrer mit Wohnort in Krefeld laut meiner Nachfrage bei der Polizei Richtung Autobahn rechts abgebogen ist. Dabei kam es zu einem Unfall mit einem Vater und dessen Sohn auf dem Radweg. Der Actros hatte einen radarbasierten Abbiegeassistenten. Ein zweites Foto der Unfallstelle, dass mir die Polizei zur Verfügung gestellt hat, zeigt, dass es auf der rechten Seite des Westrings eine meterhohe Hecke gibt, einen schmalen Fußweg, einen schmalen Radweg und dann wieder den vier Meter hohen Auflieger. Die ersten polizeilichen Ermittlungen sind zwar abgeschlossen, nun wird auch dieser Unfall vor Gericht landen. Aussagen über die Geschwindigkeit, mit der der Fahrer an dieser Stelle abgebogen ist, macht die Polizei nicht. Auch nicht, ob die Radfahrer etwa von hinten den Sattelzug vor dem Abbiegen überholt haben oder der Fahrer die beiden Radfahrer vorher schlicht übersehen hat. Nur eins wird klar: Abbiegeassistenten bieten keine Garantie, einen Unfall zu vermeiden. Natürlich könnte er auch in letzter Sekunde diesen Unfall so verhindert habe, dass die beiden Radfahrer nicht überrollt wurden. Ein Sachverständiger wird diesen Unfall sicher nach bestem Wissen aufklären.

Wer dreimal lügt…

Mich interessiert dieser Unfall insbesondere hinsichtlich der gerichtlichen Wertung, welche Rolle der Abbiegeassistent für den Vorwurf der fahrlässigen Tötung haben wird. Auch bei tödlichen Unfällen am Stauende mit einem eingebauten Notbremsassistenten bleibt der Lkw-Fahrer voll in der Verantwortung. In dem Podcast „Lenken statt Ablenken“, den ich für die BG-Verkehr moderiert haben, kommen wir an einer Stelle mit der Verkehrspsychologin Dr. Anja Huemer auf den Vorwurf vieler Fahrer zu sprechen, dass Assistenzsysteme auch ohne Grund warnen würden. Das ist in der Tat ein ernstzunehmendes Problem. „Ja, das ist halt auch wieder so eine technische Frage“, so Huemer. „Wie regle ich das System ein? Es muss ja alle Situationen mitbekommen, die kritisch sind, soll aber dennoch nicht zu viel warnen. Es wird aber immer so sein, dass diese Systeme eher mehr warnen, um auf der sicheren Seite zu sein. Es ist für Fahrer, die Menschen, die mit solchen Systemen umgehen, unglaublich schwierig, weil man eben dann in diese Gewöhnung reinkommt und dann eben nicht richtig reagiert, wenn es tatsächlich eine richtige Warnung ist. Das ist halt dieses: Wer dreimal lügt, dem glaubt man nicht.“

In der Tat berichten Fahrer immer wieder, dass Abbiegeassistenten im Stadtbereich praktisch an jeder Mülltonne warnen würden. Ich fürchte, dass sich die Haltung der Gerichtsbarkeit in absehbarer Zeit dahin weiterentwickeln wird, dass Lkw-Fahrer Radfahrer nicht nur jederzeit sehen, sondern auch jederzeit auf die Warnung des Abbiegeassistenten hören müssen – egal ob der Abbiegeassistent präzise arbeitet oder nicht.

Mehr Aufklärung gefordert

Es hilft daher nichts: Die Lobby der Transportunternehmer muss sich in Zukunft, auch bei einer derzeit denkbaren Beteiligung der Grünen an der neuen Bundesregierung und dann mutmaßlich in der Verkehrspolitik, stärker für die Belange der Lkw-Fahrer einsetzen. Angesichts einer zunehmend Lkw-feindlichen Haltung der Bevölkerung, angefeuert durch die Lobbyisten des ADFC und unterstützt durch die der aktuellen StVO unterliegenden Justiz, muss man sich mehr dafür einsetzen, auch die Erwachsenen besser über die Gefahren des toten Winkels aufzuklären. Auch – oder gerade für ältere Radfahrinnen und Radfahrer könnte so ein „Tag der Verkehrssicherheit“, wie er vor einigen Wochen, leider noch unter Einschränkungen durch Corona, in Osnabrück stattfand, ein Aha-Erlebnis sein. Erwachsene sollten ebenso in einer Art „Verkehrserziehung“ über die Gefahr des toten Winkels aufgeklärt werden.

Daher wiederhole ich an dieser Stelle gerne meinen Schlusskommentar, den ich neulich in einem „Pro und Contra“ im Background Mobilität des Berliner Tagesspiegel schreiben konnte: Ein Grundsatz der Straßenverkehrsverordnung ist die gegenseitige Rücksichtnahme. Daher fordern Lkw-Fahrer immer öfter: Bitte nehmt endlich Rücksicht auf uns. Versteht auch unsere zunehmenden Probleme im Stadtverkehr, in dem wir von denselben Menschen, denen wir täglich die Ware liefern, nur noch als Belastung gesehen werden. Man kann uns sehen und man kann uns hören, wenn man als Radfahrer jederzeit genauso konzentriert im Verkehr unterwegs ist, wie man es von uns verlangt. Jede Sekunde. Und wenn ihr tatsächlich seht, dass wir euch nicht sehen können, oder dass wir schon ein Stück weit abgebogen sind, dann bremst bitte auch einmal ab oder bleibt lieber stehen. Jeder ist im Straßenverkehr für sein eigenes Überleben (mit)verantwortlich. Am Ende gibt es nur Verlierer, wenn auf dem Grabstein steht: Sie hatte Vorfahrt.

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
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