Lkw-Unfälle trotz modernster Technik Trügerische Sicherheit

Sachsen / Wilsdruff: Am 06.03.2020 kam es gegen 11.15 Uhr der BAB 4, zwischen der AS Wilsdruff und dem AD Dresden-West zu einem Verkehrsunfall. In Höhe der Raststätte „Dresdner Tor“ war ein polnischer Sattelzug Scania auf einen vorausfahrenden Sattelzug Volvo aufgefahren. Der polnische versuchte noch mit seinem, mit Keksen beladenen LKW auszuweichen, prallte aber mit der Fahrerseite auf den Auflieger des Unfallgegners. Der LKW-Fahrer wurde bei dem Aufprall verletzt. Jedoch konnte er sich aus dem total zerstörten Fahrerhaus selbständig befreien. Der Trucker wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Der Rettungshubschrauber „Christoph 38“ brachte den Notarzt an die Unfallstelle. Die Feuerwehr nahm die ausgetretenen Betriebsstoffe auf und pumpte den Diesel aus dem LKW ab. Im Einsatz waren die Freiwilligen Feuerwehren Wilsdruff, Grumbach, Kesselsdorf, Kaufbach, Klipphausen, Hühndorf und Sora.  Die Autobahn war in Richtung Dresden zeitweise gesperrt. Später wurde der Verkehr an der Unfallstelle vorbeigeleitet. Es bildete sich ein über 10 Kilometer langer Stau. Die Polizei ermittelt zur Unfallursache. Foto: Roland Halkasch 7 Bilder

Es gibt mittlerweile immer mehr Lkw mit modernen Notbremsassistenten auf deutschen Autobahnen. Trotzdem steigt dort die Zahl der Auffahrunfälle mit verletzten und toten Lkw-Fahrern. Liegt es an der Technik, die noch nicht ausgereift ist, oder an den Fahrern, die mit der Technik nicht umgehen können?

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) sitzt auf der Beifahrerseite eines Lkw und schaut strahlend gut gelaunt aus dem geöffneten Seitenfenster. Das Bild musste schon einmal als Werbung für den Abbiegeassistenten herhalten, der Rechtsabbiegeunfälle vermeiden soll und, auch auf Druck des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs, staatlich gefördert wird. Nun steht das gleich Bild auf der Homepage seines Ministeriums und dort über einer Meldung zu einer aktuelle Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), einer Behörde des BMVI: „Wir werden das Abschalten von Lkw-Notbremsassistenten verbieten – für mehr Verkehrssicherheit.“

„Kein Fahrer fährt freiwillig in ein Stauende“

Dieses nur für Deutschland geplante Verbot ist allerdings eher ein Ausdruck der Hilflosigkeit über mittlerweile erschreckende Zustände, die sich abseits des großstädtischen Interesses auf den Autobahnen abspielen. 2019 gab es dort nur nach den Onlinemeldungen der lokalen Medien 488 Auffahrunfälle mit Lkw – fast ausschließlich am Stauende. Es krachte also mehr als einmal am Tag, deutlich häufiger als in den Vorjahren. In 454 Fällen fuhren Lkw ineinander, 45 Fahrer starben. In 34 Fällen waren Pkw betroffen, dabei starben 8 Insassen.

Bis Mitte Juni 2020 waren es mehr als 200 Unfälle, 27 Fahrer starben, weil sie entweder in das Heck eines anderen Lkw geprallt waren oder in ein anderes stehendes Hindernis. Ein Ende ist nicht in Sicht. Und das, obwohl immer mehr Lkw heute mit modernen Notbremsassistenten ausgestattet sind. Dr. Erwin Petersen von der Landesverkehrswacht Niedersachsen hat sie sogar auf mehr als 70 Prozent aller Lkw auf deutschen Autobahnen hochgerechnet, denn spätestens seit November 2015 darf europaweit kein Lkw über acht Tonnen ohne diesen technischen Lebensretter auf die Straße. Das passt also einfach nicht zusammen.

Unfall LKw Autobahn tdm 5/20 5/2020 Foto: JB
Dieter Schäfer: "Die Zahl der Lkw-Unfälle am Stauende ist nicht mehr akzeptabel. Wir brauchen einen nationalen Koordinator."

„Kein Fahrer fährt freiwillig in ein Stauende“, sagt Dieter Schäfer, der langjährige Direktor der Verkehrspolizei Mannheim, der Ende 2018 den Verein „Hellwach mit 80 km/h“ mitgegründet hatte und nun einen nationalen Koordinator fordert, damit das Sterben auf der Autobahn nicht weitergeht. Denn es liegt zuerst am Menschen, dass Unfälle passieren. Etwa durch Ablenkung am Steuer, was die Polizei Oldenburg durch Kontrollen derzeit eindrucksvoll belegt. Und es liegt am zu geringen Abstand der Lkw. Hier fordern deutsche Fahrer von der Polizei der Bundesländer schärfere Vor-Ort-Kontrollen vor allem der Fahrer aus Osteuropa. Insbesondere auf den Transitrouten herrsche Krieg, so ein Vorwurf in den sozialen Medien.

In diesem alltäglichen Szenario bieten Notbremsassistenten derzeit allerdings nur eine trügerische Sicherheit, denn sie funktionieren in technischen Grenzen. Die aktuelle gesetzliche Vorgabe seit November 2018, dass sie einen Lkw vor einem stehenden Hindernis von 80 auf 60 km/h abbremsen müssen, ist lediglich ein zu bestehender Test. Das Versprechen der aktuell fünf Hersteller Daimler, MAN, Renault, Scania und Volvo, dass ihre Lkw „unter idealen Bedingungen“ auch vor einem Stauende bis zum Stillstand abbremsen können, bleibt daher weiter nur ein Versprechen und muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt vor keiner Instanz belegt werden. Das ginge auch gar nicht, denn keiner der Radarsensoren, der von den Herstellern extern eingekauft wird und mit dem fusionierten Kamerabild zusammen die Straße „beobachtet“, kann derzeit jedwede auftretende Verkehrssituation 100-prozentig berechnen. Schon bei Regen ändert sich der Reibwert, die Berechnung des Anhaltewegs passt nicht mehr. Daher warnen die Hersteller immer wieder, dass die Notbremsassistenten eben nur Assistenten sind. Die Verantwortung bleibt allein beim Fahrer – bis zum fernen autonomen Fahren. Dann muss die Technik jede Situation beherrschen und entsprechend sicher abbremsen.

Viele Fahrer wissen nicht, wie die Technik funktioniert

Bislang greift allerdings der Mensch ein. Es ist mittlerweile bekannt, dass viele Fahrer, die etwa vier Sekunden (rund 88 Meter bei 80 km/h) vor dem berechneten Einschlag in ein Hindernis mit einem Warnton aufgeschreckt werden, aus purem Reflex den Notbrems­assistenten meist durch Lenken oder Vollgas (Kick-down) übersteuern und dadurch, wenn sie nicht selbst eine veritable Vollbremsung hinlegen, den bereits eingeleiteten Notbremsvorgang wieder abbrechen.

Erschreckend viele Fahrer wissen aber gar nicht, wie die Technik funktioniert. Das zeigt sich beim Kolonnenfahren. Um vor dem Überholen möglichst nahe an den Vordermann zu kommen, wird gern der Abstandsregeltempomat (ACC) deaktiviert. Dem Notbremsassistenten ist das egal. Er reagiert nur auf Differenzgeschwindigkeiten. Bremst nun also der erste Lkw plötzlich vor einem Stau abrupt ab, hat vielleicht der zweite Fahrer dahinter noch eine Chance – der dritte nicht mehr. Denn ein Notbremsassistent hat eine Warnzeit von mindestens 1,8 Sekunden, bevor er eine Vollbremsung einleitet. In dieser Zeit legt der Lkw bei 89 km/h knapp 40 Meter zurück. Der gesamte Anhalteweg eines Lkw beträgt allerdings etwa 70 Meter. Das kann also beim besten Willen nicht funktionieren.

Ein Team aus BMVI und BASt will nun mit sehr konkreten Vorschlägen (siehe dazu www.eurotransport.de/NBA) die bei den UN in Genf angesiedelte weltweite Regelung für die Technik der Notbremsassistenten, die UNECE R 131, verbessern, um das gewal­tige Potenzial der Technik zu nutzen. So soll etwa die Warnphase bei Kolonnenfahrten und daher einem deutlich unterschrittenen Mindestabstand gestrichen werden. Die Notbremsung würde dann unmittelbar erfolgen, was aber nichts anderes bedeutet, als dass die Fahrer dann in diesem Wissen wohl erst recht keinen ausreichenden Abstand mehr einhalten. Allerdings wäre das ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Platooning. Die Testvorgaben für die Systeme sollen weiter verschärft werden, also praktisch für jeden vorgegebenen Abstand und für jede Geschwindigkeit.

Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Frage, ob Lkw überhaupt bis zum Stillstand abbremsen müssen. Hier ist der deutsche Vorschlag, den Lkw von 80 km/h lediglich auf 23 km/h abzubremsen. Das wäre der letztmögliche berechnete Zeitpunkt vor einer Kollision, damit der Fahrer noch am Hindernis vorbeilenken kann, ohne den Lkw umzukippen. Das ist in etwa bereits die Philosophie von DAF und Iveco, die sich auf Nachfrage immer darauf berufen, dass ihre Lkw die Geschwindigkeit im derzeit gesetzlichen Rahmen von 80 auf 60 km/h abbauen, allerdings deutlich früher warnen und etwas stärker abbremsen sollen.

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Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer fördert den Einsatz des Abbiegeassistenten in Lkw und will das bewusste Deaktivieren des Notbremsassistenten bestrafen. Besser wäre eine praktische Schulung der Fahrer.

Ein weiteres Problem

Sollten sich die deutschen Vorschläge gegen den Widerstand Japans und vor allem der beiden schwedischen Hersteller Scania und Volvo tatsächlich durchsetzen, so wäre wohl nicht vor 2025 damit zu rechnen, dass die ersten Fahrzeuge mit der geänderten Technik über die Autobahnen rollen. Bis dahin herrscht ein eigentlich unzumutbarer Zustand, der sich allerdings nicht ändern lässt, wenn sich automobile Technik sukzessive verändert. Aktuell sind immer noch Lkw völlig ohne Notbremsassistent unterwegs, deren Fahrer laut einer weiteren Hochrechnung der Landesverkehrswacht Niedersachsen auf den Autobahnen 1, 2 und 7 immer noch die meisten Auffahrunfälle am Stauende verursachen, was die Initiative von Andreas Scheuer zum Verbot des Deaktivierens ziemlich ad absurdum führt.

Im Zuge dieser Recherche ist nun ein weiteres Problem aufgetaucht, nachdem auf der A31 ein deutscher Fahrer mit seinem anderthalb Jahre alten Volvo nachts in eine liegende Stahlmulde gerast und an der Unfallstelle verstorben war. Eine Mulde ist laut der R 131 kein Fahrzeug – und daher auch kein relevantes Hindernis. Nach sogar tödlichen Unfällen mit Sicherungsanhängern reagieren einige Notbremsassistenten offenbar auch nicht auf diese Hindernisse. Matthias Pfitzenmaier, Fachanwalt für Verkehrsrecht, kennt viele Urteile, bei denen Fahrer verurteilt wurden, weil sie nachts nicht mit angepasster Geschwindigkeit unterwegs waren. Demnach dürften Lkw mit Abblendlicht sogar auf der Autobahn nicht schneller als 45 km/h fahren – was wiederum eine andere Gefahr ist.

Berliner Alleingang

Unfall LKw Autobahn tdm 5/20 5/2020 Foto: JB
Bei MAN kann der Taster für die Abschaltung des EBA 2 mittlerweile nur extra bestellt werden.

Bei der letzten Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) wurde der Vorschlag des Bundesrats noch nicht angenommen. Aber das Bundesverkehrsministerium will weiter an der Idee festhalten, das Deaktivieren des Notbremsassistenten per Schalter ab einer Geschwindigkeit von 30 km/h mit einem Bußgeld von 70 Euro und einem Punkt in Flensburg zu bestrafen.

Die Unfallforschungen einiger Hersteller haben längst erwiesen, dass die meisten Fahrer vor schweren Unfällen die Technik nicht abgeschaltet haben, sondern in letzter Sekunde übersteuern. Es häufen sich allerdings die Klagen der Fahrer, die gerade bei den älteren Systemen von nicht zumutbaren Fehlwarnungen sprechen. Dazu kommt: Bei den neuesten Systemen wird die Abschaltung immer schwieriger. Beim New Actros etwa muss der ABA 5 in mehreren Schritten über einen Touchscreen deaktiviert werden. Bei MAN kann der Taster für die Abschaltung des EBA 2 mittlerweile nur extra bestellt werden.

Terminhinweis

Die Entwicklung der Unfallzahlen ist am Donnerstag, 18. Juni 2020, ab 17 Uhr Thema bei FERNFAHRER Live. Unser Experte ist Dr. Erwin Petersen, Vizepräsident der Landesverkehrswacht Niedersachsen, der eure technischen Fragen zu diesen lebenrettenden Systemen gern beantwortet.

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
FF 05 Titel
FERNFAHRER 05 / 2020
4. April 2020
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