Fahrer vor Gericht Unfall trotz Notbremsassistent

Mannheimer Morgen Foto: René Priebe, PR-Video
Meinung

Im Sommer 2017 raste ein Lkw-Fahrer auf der A6 bei Mannheim mit einem Sattelzug ins Stauende. Zwei Menschen starben, elf weitere wurden verletzt. Das Amtsgericht Mannheim versucht nun zu klären, ob der Active Bake Assist 3 des Mercedes Actros 1845 LS womöglich an seine Systemgrenzen geraten ist.

Es gibt einen Augenblick am zweiten Verhandlungstag im Mannheimer Amtsgericht, bei dem das ganze Ausmaß der menschlichen Tragödie des schweren Lkw-Unfalls vom 9. Juni 2017 zutage tritt: Auf der einen Seite sitzt der wegen fahrlässiger Tötung angeklagte 33-jährige Kraftfahrer der Spedition Zahn aus Mainz, auf der anderen Seite der Nebenkläger, ebenfalls ein junger Mann. Seine Eltern und seine schwangere Schwester saßen in dem Auto, in das der Sattelzug mit 85 km/h donnerte. Sie waren auf der Stelle tot. Als Richterin Gabriele Schöpf eine unerträglich lange Zeit medizinisch-sachlich vorträgt, unter welchen unsäglichen Bedingungen der Familienvater, der ebenfalls im Auto saß, heute als Pflegefall lebt, bricht erst der Lkw-Fahrer in Tränen aus, dann der Sohn der Familie. Eine Entschuldigung des Angeklagten will er nicht akzeptieren. Die Richterin muss die Verhandlung unterbrechen.

Erinnerung an frühere Fälle

Ich befasse mich nun schon seit vielen Jahren mit der Technik von Notbremsassistenten in Lkw und habe dazu einige Blogs geschrieben. Als ich von diesem Unfall hörte, wurde laut Bericht der Lokalpresse zunächst vermutet, dass der Fahrer den Notbremsassistenten, hier einen Active Brake Assist 3 in einem Mercedes-Benz Actros 1845 LS mit einer Erstzulassung aus November 2014, womöglich per Schalter deaktiviert habe. Dagegen stand zunächst die Aussage eines Daimler-Unfallforschers, wonach der Lkw definitiv in der Warnphase gewesen sei, bevor er ungebremst im Stauende einschlug. Es erinnerte mich an zwei frühere Unfälle mit einem Actros, der ebenfalls mit einem ABA 3 ausgestattet war. Hier verstarben die beiden Lkw-Fahrer. Gerichtlich aufgearbeitet wurden diese beiden Fälle nie.

Ich hatte mich in zwei Beiträgen mit der Frage beschäftigt, wie die Fahrer mit der Technik umgehen, die von Mercedes 2012 eingeführt und seit November 2015 gesetzlich in jedem neu zugelassenen Lkw verbaut sein muss. Der eine beschreibt die zwei tödlichen Unfälle von Lkw-Fahrern, die kurz vor dem Unfall nach damaligem Kenntnisstand den ABA 3 übersteuert und damit deaktiviert hatten. Der andere ist meine Einschätzung zur möglicherweise fatalen Reaktion von Fahrern, wenn sie mit plötzlichen Hindernissen auf der Autobahn konfrontiert werden.

Und so fuhr ich nach Mannheim, um dort zu erfahren, wie das Gericht urteilt, wenn ein Fahrer wohl im Reflex sein Assistenzsystem übersteuert und dadurch ein Unfall passiert. Es sollte allerdings anders kommen.

Viele technische Nachfragen von der Richterin

Richterin Schöpf leitet schon viele Jahre in Mannheim Strafverfahren. Sie arbeitet sehr akribisch und will alles wissen, was zur Klärung eines Falles beiträgt. So hört sie zunächst auch dem für diesen Bereich der A6 zuständigen hessischen Polizeibeamten zu. Der Unfallermittler brachte zunächst die Vermutung ins Spiel, der Fahrer könne den digitalen Tacho manipuliert und den ABA 3 dabei ausgeschaltet haben, da Sicherungen in den Steckplätzen fehlten. Ein Vorwurf, der den Fahrer zunächst einmal diskreditierte, im Laufe der Verhandlung von den geladenen Experten aber verneint wurde. Denn die offenen Steckplätze waren schlichtweg nicht belegt.

Fahrer droht Haft

Eines wird bei der Diskussion aber klar: Die Richterin hat vom komplexen Thema der Lkw-Assistenzsysteme wenig Ahnung. Das münzt sie auch gleich in eine Forderung an die Zeugen um: „Erklären Sie das alles bitte jemandem, der technisch unbegabt ist“. Denn sie muss mit ihren beiden Schöffen den Grund für etwas herausfinden, das so eigentlich nicht hätte passieren dürfen. Schließlich hätte der verbaute ABA 3 den Lastzug zumindest abbremsen und die Folgen des Unfalls mindern müssen. Auch für den Fahrer ist diese Frage von entscheidender Bedeutung. Ihm drohen schließlich wegen fahrlässiger Tötung von zwei Menschen und fahrlässiger Körperverletzung in weiteren elf Fällen laut Anklage bis zu vier Jahre Haft.

Ratloser Unternehmer, der hinter Fahrer steht

Matthias Zahn ist Geschäftsführer der gleichnamigen Spedition mit 17 Lkw, der auch der Unfall-Actros gehört. Ich hatte ihn im Vorfeld der Verhandlung kontaktiert. Er sprach mit großer Offenheit. Er hatte fünf baugleiche Actros bestellt. Zwei davon lieferte Mercedes zeitgleich im November 2014 aus, und zwar mit dem aufpreispflichtigen Safety Package Top, also inklusive des ABA 3. „Der Verkäufer hat mir versichert, dass der Lkw unter idealen Bedingungen bis zum Stillstand bremsen könne“, erzählt Zahn. Das Mercedes-Serienmodell, der sogenannte ABA 0, kann – so wie es das Gesetz zu diesem Zeitpunkt vorschreibt – einen Lkw nur von 80 auf 70 km/h verzögern und seit November 2018 immerhin auf 60 km/h.

Der Fahrer, ein seit 22 Jahren in Deutschland wohnender Russe mit langjähriger Erfahrung als Fernfahrer, habe erst Mitte 2016 bei ihm angefangen, sagte der Chef. Vor Gericht bezeichnet er ihn als erfahren, zuverlässig und bei den Kunden beliebt. Was im Gespräch einmal mehr herauskommt: Die Aufklärung der Fahrer über die Wirkung der Notbremsassistenten hat auch bei Zahn nicht stattgefunden – so, wie in den allermeisten Speditionen nicht. Doch das spielt im Verfahren keine Rolle.

Zuverlässiger, bei Kunden beliebter Fahrer

Kurzfristig vom Verteidiger des Angeklagten als Zeuge benannt, weil er an diesem Tag seinen Fahrer moralisch unterstützen wollte, machte Zahn deutlich, dass sein Fahrer mehr oder weniger im erweiterten Nahverkehr unterwegs ist, also Tagestouren mit Übernachtung im Lkw fährt – und das alles im Rahmen der Lenk- und Ruhezeiten. Laut Gericht spielten weder Alkohol noch Drogen am Steuer eine Rolle.

An diesem Tag steuerte der Fahrer am Morgen eine Abladestelle bei Frankfurt an, in Hanau lud er Getränke für Edeka in Heddesheim. Schließlich sollte er weiter in Richtung Saarbrücken fahren, um an kommenden Tag nach der Ruhezeit in der Nähe bei der Metro wieder zu laden. Bei Mannheim-Sandhofen krachte er dann nach 17.00 Uhr ins Stauende – an einer Stelle, wo im selben Jahr neun Menschen bei Unfällen am Stauende verstarben. Mittlerweile wurde im Bereich der Unfallstelle auf der A6 die Geschwindigkeit für Lkw vorsorglich auf 60 km/h reduziert.

Was geschah im Lkw?

Ein ortskundiger Prozessbeobachter hat mir in der Mittagspause der Verhandlung berichtet, dass auf diesem Teil der A6 in Richtung Saarbrücken in der Hitze des Sommers der Asphalt flirren kann, was die Wahrnehmung durchaus trüben würde. Warum der Fahrer den Stau nicht gesehen hat, kann er aber nicht mehr erklären. Es war wohl ein Augenblickversagen des Fahrers. Das ist vor Gericht unstrittig. Und das, so will es die Straßenverkehrsordnung, darf einem Berufskraftfahrer nicht passieren. Dafür trägt er die Verantwortung.

Eine Ablenkung, etwa durch die Benutzung des Smartphones, ist ebenfalls nicht bekannt. Der Fahrer gibt zu Protokoll, das er lediglich vielleicht etwas zu lange in den linken Außenspiegel geschaut habe. Das hatte er bereits am ersten Prozesstag eingeräumt. Dann habe die Warnphase begonnen: erst ein optisches Signal, dann folgte der Warnton, der laut der europäischen Vorschrift mindestens 1,4 Sekunden dauern muss. Er habe gebremst. Doch die Pkw waren bereits viel zu nahe. Den Unfall konnte er nicht mehr verhindern.

Fahrer übt seinen Beruf weiter aus

Für mich zunächst bemerkenswert: Nach einem längeren Aufenthalt in einer Klinik mit professioneller Unfallnachsorge auf Grund der seelischen Belastung kann der Fahrer nach einer abschießenden psychologischen Begutachtung (MPU) die alte Stelle bei Zahn wieder antreten. Nicht mehr auf dem Actros, der ist ein wirtschaftlicher Totalschaden, sondern auf einem neuen Volvo FH. Mittlerweile, sagt Spediteur Zahn, habe er das Vertrauen in den Actros verloren.

Dass der Fahrer den Job behalten konnte, ist eine Erleichterung für ihn. Allerdings erst, nachdem sein Verteidiger erwirkt hatte, dass der noch im Raum stehende Vorwurf, der Fahrer habe den ABA 3 bewusst per Schalter deaktiviert, fallengelassen wurde. Sonst hätte ein Entzug des Führerscheins gedroht. Die Unfallforscher von Daimler hatten diesen Vorwurf bereits früh widerlegt.

Der Vorwurf der Deaktivierung ist aber ein Punkt, den ich nicht verstehe. Denn laut Wiener Abkommen von 1968 muss der Fahrer ohnehin jederzeit die Technik überstimmen können und immer Herr des Geschehens sein. Deswegen kommen Versicherungen auch für die Haftpflichtschäden auf.

Aufklärung durch Software-Experten von Mercedes

Für Daimler ist das Verfahren nichtsdestotrotz heikel. Zunächst bestätigte ein als Zeuge geladener Software-Experte aus dem Bereich Entwicklung Assistenzsysteme des Stuttgarter Konzerns, dass der ABA 3 nicht ausgeschaltet war. Das ist allerdings das einzige Merkmal, das die Elektronik aufzeichnet. Erst mit Einführung des ABA 4 werden weitere Informationen gespeichert, etwa ob der Fahrer geblinkt, Gas gegeben oder gebremst hat.

Übersteuern durch Bremsen beim ABA 4 nicht mehr möglich

Letzten Endes, so interpretiert man es nach dem Prozesstag bei Daimler, könnte eine Übersteuerung etwa durch Bremsen stattgefunden haben. Immerhin: Mit dem Systemwechsel vom ABA 3 zum ABA 4 wurde das geändert. Übersteuern durch Bremsen ist bei den jüngsten Modellen, sofern verbaut, damit passé. Ausgeschlossen bei diesem Unfall ist wohl eine Übersteuerung durch frühzeitiges Lenken oder, dass die Radarkeule das potenzielle Hindernis „aus dem Blick“ verloren hat. Denn die Strecke vor dem Unfallort ist schnurgerade.

Schließlich räumte der Daimler-Experte noch ein, dass das Radar des ABA 3 möglicherweise in dieser Situation an seine Systemgrenze geraten sei und die Konstellation der stehenden Pkw am Stauende nicht als für eine Notbremsung relevantes Hindernis erkannt haben könnte. Er sagte wörtlich: „Wenn das Radarsystem ein Objekt nicht sicher genug erkennt, leitet es keine Notbremsung ein. Das wäre viel zu gefährlich, weil wir durch unkontrollierte Bremsvorgänge Unfälle auslösen könnten. Die akustische und optische Warnung erfolge aber dennoch." Der Moment, in dem die erstaunte Richterin sagte: „Was soll das Radar denn dann erkennen, wenn nicht einen Pkw?!“

Muss der ABA 3 bremsen - oder kann er es nur?

Das Dilemma: Im Grunde gibt kein Hersteller eine Garantie, dass sein Notbremsassistent (NBA) unter idealen Bedingungen jederzeit einen Sattelzug bis zum Stillstand bremst. MAN hat sich im Mai 2018 bei einer Demonstration des EBA2 zwar weit vorgewagt, als man erklärte, der über die Wirkung aufgeklärte Fahrer sollte nicht in die Tätigkeit des NBA eingreifen sondern lieber der Technik vertrauen. Die besteht meines Wissens allerdings, bei MAN wie bei Volvo, aus einem Radar-Kamera-System, bei dem die Kamera sofort abgleicht, ob das Hindernis auf der Straße überhaupt für eine Notbremsung relevant ist. Bei Mercedes ist diese Absicherung erst mit Einführung der fünften ABA-Generation vorhanden.

Doch was ist, wenn man der Technik vertraut und die am Ende versagt? So sieht es offenbar die Richterin, die spontan sagt: „Wenn ich mir besonders abgesicherte Steckdosen für den Nassbereich meines Badezimmers kaufe, dann muss ich mich auch darauf verlassen, dass diese funktionieren.“ In der Tat: Dass ein als solcher entwickelter Notbremsassistent im entscheidenden Moment den Dienst versagen könnte, widerspricht schlicht und einfach dem gesunden Menschenverstand.

Unabhängiger Gutachter spricht von Systemversagen

Am Ende des langen Verhandlungstages fasst der gerichtlich bestellte, unabhängige Gutachter den Unfall anhand seiner Ermittlungen zusammen: Der Lkw sei mit 85 km/h auf die Fahrzeuge geprallt. Hätten der Fahrer oder das System rund viereinhalb Sekunden vorher entsprechend reagiert, wäre der Unfall zu vermeiden gewesen. Unter Einbeziehung der Aussage des Daimler-Experten sprach er am Ende sogar von einem "Systemversagen". Das funktionierende System hätte unter den für einen Notbremsassistenten eigentlich idealen Umständen vor Ort den Unfall verhindern müssen.

Jan Bergrath Foto: Jan Bergrath

Urteilssprechung vertagt

Das Verfahren ist nun bis zur Urteilsverkündung am 19. Dezember verschoben. Vieles spricht dafür, dass dem Fahrer das gerichtsnotierte Versagen des ABA 3 zu Gute kommen könnte. Der Vorwurf, er habe den Unfall durch aktives Ausschalten des ABA3 vorsätzlich herbeigeführt, ist nicht mehr zu halten. Das Verfahren und seine kommende mediale Aufarbeitung könnte aber vor allem für die Hersteller der NBA-Systeme eine Herausforderung darstellen: Grundsätzlich sagen sie nämlich, dass alle Assistenzsysteme den Fahrer im Notfall eben auch nur unterstützen. Die Rechnung dabei: Wenn durch diese Systeme in 90 Prozent der Stauendeunfälle Schlimmeres verhindert wird, dann haben sie ihre Aufgabe erfüllt. Für mich klingt das wie Russisches Roulette. Dem Sohn, der eigentlich heiraten wollte und das nun verschoben hat, um seinen pflegebedürftigen Vater zu unterstützen, ist das kaum ein Trost – egal, wer am Ende verantwortlich war: der Mensch oder die Maschine.

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