Fahrer vor Gericht Eine Frage des Abstands

Polizei,  Geschwindigkeitskontrolle, Radar, Blitzen,  Blitzer, Radarkontrolle EVS Report 2012 Foto: Thomas Küppers

Blitzerpositionierung nach Augenmaß: Da lässt Rechtsanwältin Karipidou bei der Befragung des Messbeamten vor Gericht nicht locker. War gute Tarnung etwa wichtiger als ein korrektes Ergebnis?

Bernd* ist völlig durch den Wind. Rechtsanwältin Sofia Karipidou hat sich mit ihm und seiner Frau vor dem Gerichtstermin noch einmal in der Kanzlei in Wiesbaden getroffen. Sie gehen noch einmal alles durch. Sofia erklärt Bernd, was Messstellenüberprüfer Ralf Grunert vor Ort herausgefunden hat. Vorgeworfen wird Bernd, 22 km/h zu schnell gefahren zu sein. 50 km/h waren erlaubt. 72 km/h nach Toleranzabzug ist der Messwert. Bernd hat das Verkehrszeichen schlicht und einfach übersehen. Er ist die Tour das erste Mal gefahren. Mittlerweile weiß er, dass das Schild dort erkennbar ist.

"Ein Punkt hat noch niemandem geschadet."

Gemeinsam fahren die drei zum Gericht. Die Anwältin macht im Gerichtssaal gleich klar, was das Ziel ist: "Der Punkt muss weg!" Das heißt: Freispruch, Einstellung oder wenigstens die Reduzierung der Geldbuße auf unter 60 Euro. Alles andere ist für die Autobahnanwältin indiskutabel. Der Richter erwidert die Ausführungen der Anwältin mit einem freundlichen Lächeln. Dann legt er los. "Och, Frau Rechtsanwältin, Sie kennen mich doch. Ein Punkt bringt niemanden um und hat auch noch niemandem geschadet. Auch ich hatte in meinem Leben schon welche. Damit lässt sich umgehen", führt er aus. – "Ach du lieber Gott", denkt Sofia, "was ist das denn für einer?!" Jeder Punkt ist, das weiß Fernfahreranwältin Sofia, ein Achtel Berufsverbot. Die Bedeutung eines punktebedingten Führerscheinentzugs für einen Lkw-Fahrer und seine Familie scheint diesem Richter völlig unbekannt zu sein. Die Autobahnanwältin lässt sich auf den Dialog zu diesem Thema jetzt noch nicht ein. Sie hat eine Strategie, und die will sie durchziehen – und schließlich gilt: Wohin käme man, wenn man sich vom Gericht die Themen aufdrängen lassen würde? Sie weist darauf hin, dass die Messung nach den Recherchen des Messstellenüberprüfers der Kanzlei nicht ordnungsgemäß erfolgt sei.

Der Richter lächelt fortwährend, ruft den Zeugen und schickt noch eine kleine Spitze in Richtung der Verteidigung. "Ich wusste, Frau Rechtsanwältin, mit Ihnen wird es mal wieder etwas länger dauern." – "Ja, natürlich", antwortet Sofia. "Gut Ding will Weile haben. Aber das wissen Sie ja, Herr Richter."Der Zeuge beginnt auf dem Weg zum Stuhl ungefragt, die Korrektheit der Messung darzustellen. Er betet das Messprotokoll von A bis Z herunter.

Messbeamter ging nach Augenmaß vor

Der Richter wendet sich an die Autobahnanwältin. "Haben Sie Fragen an den Zeugen?" – "Natürlich, jede Menge sogar!" Die Verteidigerin aus der Autobahnkanzlei Wiesbaden hält dem Messbeamten seine eigene Aussage vor. Er habe vorhin selbst ausgeführt, dass er das Fahrzeug immer so ausrichte, dass es passe. Die Verteidigerin will wissen, wie er denn die Ausrichtung konkret vorgenommen habe. "Augenmaß", antwortet der Zeuge, "einfach Augenmaß. Das kann ich, das können Sie mir glauben!" Die Autobahnanwältin kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Der Richter möchte wissen, was an der Antwort denn so lustig sei. Sofia erwidert, dass ihre Schwester beim Kochen auch immer sage, dass sie das nach Augenmaß mache. Zu viel Salz in der Suppe habe für das berufliche Leben der Gäste allerdings keinerlei Auswirkung. Eine versalzene Suppe sei mit einem Punkt in Flensburg schließlich nicht zu vergleichen. Der Zeuge erläutert ungefragt, das seien einfach seine Erfahrungswerte. Er könne die Ausrichtung des Fahrzeugs sowieso nicht immer ausmessen. Die Anwältin erklärt ihm, dass die Ausrichtung des Geräts in der Gebrauchsanweisung genau beschrieben sei. Von Augenmaß stehe da aber nichts. Eine Vorgehensweise nach Erfahrungswerten sei auch in der Gebrauchsanweisung nicht hinterlegt. Wer ihm das so beigebracht habe, will die Anwältin wissen. Der Zeuge wirkt nun etwas in sich gekehrt, zuckt mit den Schultern und bemüht sich Hilfe suchend um den Blickkontakt zum Richter.

Sofia beantragt, die Antwort auf ihre Frage, also das Wort "Augenmaß", ins Protokoll aufzunehmen. Das geschieht. Dann legt sie Fotos der Messörtlichkeit vor und fragt den Zeugen, wo denn genau das Fahrzeug gestanden habe. Er markiert mit der Fingerspitze den Standort auf den Fotos. Wie groß denn der Abstand zum Straßenrand gewesen sei, fragt die Anwältin. "Sechs Meter", antwortet der Zeuge. Seine Antworten werden knapper. Er will offensichtlich keinen Fehler machen. Sofia bleibt aber dran. "Wieso sechs Meter? In der Gebrauchsanweisung steht doch eindeutig, das Gerät soll so nahe wie möglich am Fahrbahnrand aufgestellt werden." Der Zeuge meint, anders habe er das Fahrzeug nicht aufstellen können.

Falsche Messung kann schwerwiegende Folgen haben

Die Verteidigerin geht wieder nach vorn zum Richtertisch und widerlegt die Aussage des Zeugen. Der wirkt mittlerweile ziemlich konfus und versucht, irgendwie zu erklären, warum das Fahrzeug in besagter Distanz zum Fahrbahnrand standen. Seine Darlegungen sind nicht überzeugend. Rechtsanwältin Karipidou kann ihn jetzt einfach reden lassen. Er verwickelt sich selbst in Widersprüche. Der Zeuge erklärt nunmehr etwas resigniert: "Wenn ich das Auto anders aufgestellt hätte, hätte man doch das Messgerät sehen können." – "Endlich", meint die Anwältin. "Endlich sagen Sie uns, was wir uns schon gedacht haben! Es wäre schön gewesen, wenn man das Gerät gesehen hätte. Das hätte der Verkehrssicherheit mehr gedient als dieses fiese Versteckspiel!" Der Richter schaut die Autobahnanwältin wieder an und meint: "Ich weiß ja, Sie sind gut, Frau Karipidou, aber was soll das an dem Messwert ändern?" Sofia erklärt es dem Richter: "Wenn der Beamte nur nach Augenmaß arbeitet, er die Gebrauchsanweisung des Messgeräts komplett ignoriert, dann ist nicht ausgeschlossen, dass sich auch ein falscher Messwert ergeben hat. Die Messung ist auf jeden Fall nicht ordnungsgemäß erfolgt." Eine falsche Messung könne für Bernd schwerwiegende Folgen haben. Ein Punkt bedeute für ihn Konsequenzen bei der Arbeit. Deswegen könne sie hier nicht lockerlassen. Sofia regt an, ein Gutachten einzuholen, weiß aber, dass der Richter diesen Aufwand nicht betreiben wird.

Der Richter schaut Bernd und seine Frau an. "Stimmt das, dass Sie arbeitsrechtliche Konsequenzen zu befürchten haben?" Bernd nickt traurig. "Ja", sagt er. Er schaut Hilfe suchend zu seiner Frau, die schaut erst ihn an und dann den Richter. Der beginnt zu schreiben. "Sie haben mich überzeugt, Frau Karipidou!", hört man ein paar Minuten später im Gerichtssaal. Danach verliest der Richter den Einstellungsbeschluss. Er lächelt die Autobahnanwältin an. Sofia pariert diese freundliche Geste und macht den Richter darauf aufmerksam, dass der Messbeamte als Zeuge noch entlassen werden müsse. Dem sieht man deutlich an, dass er stocksauer ist.

*Namen wurden von der Redaktion geändert.

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
FF 01 2020 Titel
FERNFAHRER 01 / 2020
7. Dezember 2019
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