Fähre-Zug-Regelung Faktische Verschlechterung

Helmut Huhn
Meinung

In ihrer aktuellen Studie zur Müdigkeit von Lkw-Fahrern beklagen die Gewerkschaften auch die Ausnahmeregelungen bei Bahn- und Zugfahrten für die Ruhezeiten und fordern, diese komplett aus den Sozialvorschriften zu streichen.

Vergangenen Freitag hat die Europäische Transportarbeiter Föderation (ETF) bei einer online-Pressekonferenz in Brüssel ihre aktuelle Studie zur Gefahr durch eine latente Fahrermüdigkeit im europäischen Straßenverkehr vorgestellt. Dieser „Weckruf an die Politik“ wird unter Lkw-Fahrern seither kontrovers diskutiert. In der Studie selbst wird an einer Stelle sehr konkret berichtet, dass die wenigsten Fahrer Probleme mit Müdigkeit in denjenigen Unternehmen haben, in denen die Lenk- und Ruhezeiten sowie die Arbeitszeiten immer korrekt erfasst werden. Das trifft im Prinzip für den gut organisierten deutschen Mittelstand zu. Für die Lenk- und Ruhezeiten ist das im Artikel 10 (2) der VO (EG) 561/2006 als Organisationspflicht des Unternehmers geregelt. Wobei es etwas wunderlich ist, dass es noch Transportunternehmen geben soll, die angeblich gar keine Arbeitszeiterfassung ihrer Fahrer durchführen. Denn die Arbeitszeit des Fahrers muss laut Artikel 7 des Paragraf 21 a Arbeitszeitgesetz, basierend auf einer EU-Richtlinie, vom Unternehmer aufgezeichnet und zwei Jahre aufbewahrt werden.

Fahrer beklagen die Fähre-Zug-Regelung

Die in der Studie befragten Fahrer beklagen als einen sehr konkreten Grund für eine latente Müdigkeit auch die Fähre-Zug-Regelung. Laut der nach wie vor aktuellen Regelung im Artikel 9 (1) der VO 561/2006 heißt es wortwörtlich: „Legt ein Fahrer, der ein Fahrzeug begleitet, das auf einem Fährschiff oder mit der Eisenbahn befördert wird, eine regelmäßige tägliche Ruhezeit ein, so kann diese Ruhezeit abweichend von Artikel 8 höchstens zwei Mal durch andere Tätigkeiten unterbrochen werden, deren Dauer insgesamt eine Stunde nicht überschreiten darf. Während dieser regelmäßigen täglichen Ruhezeit muss dem Fahrer eine Schlafkabine oder ein Liegeplatz zur Verfügung stehen.“

Der Vorwurf der ETF lautet konkret: „Die an unserer Untersuchung teilnehmenden Fahrer bemängelten jedoch, dass ihnen während dieser Fahrten häufig geeignete Rastmöglichkeiten fehlen. Auf Fähren zum Beispiel haben Fahrer oft keine reservierte Kabine und in Zügen müssen Abteile mit anderen Personen geteilt werden, was einen erholsamen Schlaf erschwert. Bei einer vierstündigen Fährfahrt beispielsweise reduziert sich die tatsächliche Liegezeit – wenn überhaupt – in der Regel um die Hälfte, da das Einchecken Zeit in Anspruch nimmt und der Fahrer dann die Kabine lange vor Ende räumen muss während der Fahrt, damit das Fährpersonal die Kabine reinigen und für die nächste Überfahrt vorbereiten kann.“

Dennoch würden die Arbeitgeber für die Einsatzzeit der Fahrer in einer Woche den Vorteil haben, dass die Fahrer laut der Aufzeichnung im digitalen Tacho mit den „Pausen“ vor und nach dem Anteil der reinen Bahn- oder Zugfahrt eine ausreichende tägliche Ruhezeit haben. Doch Achtung: die tägliche Ruhezeit ist ausschließlich die, die elf Stunden dauert. Die dreimal pro Woche erlaubte Reduzierung auf neun Stunden ist nicht betroffen. Wer die Fähre-Zug-Regel möglicherweise darauf anwendet macht etwas verkehrt.

Verschlechterung zur VO (EG) 3820/85

In der Tat gibt es zumindest vom Gesetzestext - allein von der Ausführlichkeit der Definition her - eine Verschlechterung zu den bis 2006 geltenden Vorschriften im Artikel 9 der VO (EG) 3820/85. Dort heißt es: „Begleitet ein Fahrer im Güter- oder Personenverkehr ein Fahrzeug, das auf einem Fährschiff oder mit der Eisenbahn befördert wird, so darf abweichend von Artikel 8 Absatz 1 die tägliche Ruhezeit einmal unterbrochen werden, sofern folgende Voraussetzungen erfüllt sind: Der an Land verbrachte Teil der täglichen Ruhezeit muss vor oder nach dem auf dem Fährschiff oder in der Eisenbahn verbrachten Teil der täglichen Ruhezeit liegen. Der Zeitraum zwischen den beiden Teilen der täglichen Ruhezeit muss so kurz wie möglich sein und darf auf keinen Fall vor der Verladung des Fahrzeugs oder nach dem Verlassen der Eisenbahn oder des Schiffs durch das Fahrzeug eine Stunde übersteigen; dabei umfasst der Vorgang der Verladung bzw. des Verlassens auch die Zollformalitäten. Während der beiden Teile der täglichen Ruhezeit muss dem Fahrer ein Bett oder eine Schlafkabine zur Verfügung stehen. Die in dieser Weise unterbrochene tägliche Ruhezeit ist um zwei Stunden zu erhöhen.“

Wer damals in Brüssel bei den Verhandlungen zu den neuen Regelungen der VO (EG) 561/2006 für diese Veränderung die Verantwortung trägt, lässt sich heute wohl nur schwer zurückverfolgen. Und in der Tat – eine Rückkehr zur alten Verordnung würde durchaus Sinn machen. Denn mit dem Brexit kommen nun auch die alten bzw. neuen Zollformalitäten im UK-Verkehr zurück. Und damit mehr Standzeiten in den Terminals.

Erneute Flexibilisierung im Rahmen des Mobilitätspaketes

Die abermals angepassten EU-Vorschriften im Rahmen des Mobilitätspaketes stellen in den Augen der ETF nun eine weitere Verschlechterung da. „Mit den im Juli 2020 verabschiedeten neuen Vorschriften“, so heißt es in der Studie, „können Unternehmen zum Auf- und Abfahren von Fahrzeugen auf Fähren oder Zügen die Fahrer nun veranlassen, nicht nur ihre tägliche Ruhezeit, sondern auch ihre wöchentliche Ruhezeit, insbesondere die verkürzte Ruhezeit von mindestens 24 Stunden, zu unterbrechen sowie ihre normalen wöchentlichen Ruhezeiten von 45 Stunden und mehr.“ Der einzige Unterschied zwischen den beiden letzteren besteht darin, dass bei einer Ruhezeit im Rahmen der normalen wöchentlichen Ruhezeit die Überfahrt mit der Fähre mindestens acht Stunden dauern muss. Das reduziert natürlich die Möglichkeiten der Bahn-Zug-Regel auf Fährfahrten vor allem für die längeren Englandfähren und viele Ostseefähren.

In der Praxis beendet die Unterbrechung der Fährfahrt für viele Fahrer, vor allem aus Osteuropa, eher die Tristesse in den Häfen. Eine Gefahr für die Übermüdung liegt hier wohl nicht vor. Eher durch droht Gefahr durch Alkoholkonsum an Bord. Bei den sehr kurzen Englandfahren wie Dover-Calais (rund anderthalb Stunden) ist es immerhin noch für die gesplitteten Tagesruhezeiten möglich – sollten dort die Voraussetzungen wie eben eine Schlafkabine überhaupt vorhanden sein. Im Lkw darf der Fahrer zu keiner Zeit die Passage verbringen. Gut geschulte Fahrer wissen daher, wie sie ihre Woche einteilen müssen, um die Fährfahrten sinnvoll zu planen, um am Ende dennoch in der Regel ausreichend zu schlafen.

Vor der Fähre ins Hotel

Doch wie es bereits am Ende der Folge 4 des Podcast „Truck Talk“ genau erläutert wird, ist die jüngste Regel mit einigen Hürden verbunden. Entscheidend ist tatsächlich die Fahrtdauer der Fähre. Im Fall einer anstehenden regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit muss es sogar eine Schlafkabine an Bord geben. Die Zeit vor und nach der Fährüberfahrt darf dann logischerweise auch nicht im Lkw verbracht werden, sondern, analog zum Lkw, in einem Hotel oder einer geeigneten alternativen geschlechtergerechten Unterkunft, die der Unternehmer bezahlt. Hieße etwa für die Ostsee: In Travemünde muss der Fahrer zunächst bis zur Abfahrt der Fähre ins Hotel und dann auf der skandinavischen Gegenseite vielleicht ebenfalls. Das dürfte allein aus rein praktikablen Gründen schwer umsetzbar sein – und ebenso schwer zu kontrollieren. Allerdings ist mit der Neuregelung nun auch endlich klargestellt worden, dass das Symbol „Fähre/Zug“ im aktivierten Modus „Ruhezeit“ im Fahrtenschreiber erst „an Bord“ der Fähre oder des Zuges aktiviert werden muss und weder am Start- oder Zielterminal.

BGL will an einer praxisgerechten Lösung mitarbeiten

Auf Nachfrage, ob etwa auch der Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) diese Regelung aus den Sozialvorschriften ebenfalls wieder komplett streichen wolle, hieß es aus Frankfurt: „Wir werden über unsere Mitgliedsunternehmen, über die Fernfahrerstammtische oder über die Kraftfahrerkreise recht gut über aktuelle Fahrerprobleme auf dem Laufenden gehalten. Die Fähr-Problematik ist dabei noch nicht auffällig geworden. Sollte es an dieser Stelle jedoch sicherheitsrelevante Defizite geben, ist der BGL selbstverständlich sehr daran interessiert, hier für Abhilfe zu sorgen und an einer praxisgerechten Lösung mitzuarbeiten.“

Die Verantwortung trägt letzten Endes der Fahrer

Durchaus möglich, dass nicht alle Fahrer der Umfrage die doch recht eingeschränkten Möglichkeiten der Fähre-Zug-Regelung bis ins Detail verstanden haben. Dass sie bei falscher Anwendung – auch durch Druck der Unternehmen, darin einen Grund für die Müdigkeit sehen, bleibt natürlich unbestritten. Allein die Arbeitsbedingungen des Fahrers nun dafür verantwortlich zu machen, ist allerdings zu einfach. Vor allem, wenn es einen Unfall gegeben hat. Am Ende trägt die Verantwortung der Fahrer, wie es bereits in einer unserer Beiträge aus der Serie Recht Aktuell zu einem Unfall wegen Schlafmangels heißt.

Hier hatte die ETF ebenfalls angeblich schlecht ausgestattete Lkw etwa mit mangelnden Standklimaanlagen kritisiert. Eine aus Müdigkeit entstandene spätere Gefährdung des Straßenverkehrs ergibt sich aus Paragraf 315c des Strafgesetzbuches. Dort heißt es unter anderem: Wer im Straßenverkehr ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge geistiger oder körperlicher Mängel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. "Körperliche Mängel" schließen auch die Übermüdung des Fahrers ein, also insbesondere, wenn die Ruhezeit nicht eingehalten wurde. Eine Verurteilung ist selbst dann möglich, wenn dem Fahrer ein Verstoß gegen Lenk- und Ruhezeiten laut Tachodaten gar nicht nachgewiesen werden kann, die Übermüdung aber eine andere Ursache hat.

„Der Fahrer muss demzufolge im Umkehrschluss gar nicht im Lkw übernachten – auch wenn es im Fernverkehr Usus ist. "Für die Folgen eines Sekundenschlafs, der seine Ursache in einer Übermüdung des Fahrers aufgrund nicht angemessener Schlafbedingungen hat, trägt jedenfalls auch der Fahrer die Verantwortung, wenn er sich nicht gegen die Missstände zur Wehr setzt“, sagt Matthias Pfitzenmaier, Fachanwalt für Verkehrsrecht.

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