Fahrer vor Gericht Paragrafenritt bringt Gerechtigkeit

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Steffen hat eigentlich nicht viel falsch gemacht. Die Richterin jedoch wittert Vorsatz. Eine mühsame Überzeugungsarbeit nimmt ihren Lauf: War es ein "Durchschnitts-" oder ein "Sonderfall"?

Auf 8 Uhr morgens ist Steffens* Gerichtstermin angesetzt. Um 7.45 Uhr fahre ich vor das Gebäude. Parkplätze gibt es noch reichlich. Das Gericht wirkt noch verlassen, alleine auf einem großen Platz und mit seiner dominanten Architektur irgendwie einschüchternd. Dazu passt der Justizbeamte. Die Tür ist noch verschlossen. Erst nach einem Klingeln kommt er und verweist uns auf die Öffnungszeiten von 8 Uhr bis 12 Uhr. Ich erwidere nur kurz: "Dann darf das Gericht auch nicht für 8 Uhr laden."

Verstoß gegen das Überholverbot

Um Punkt 8 Uhr öffnet sich das Tor. Bis wir, Steffen und ich, den Gerichtssaal in dem großen Gebäude gefunden haben, ist es 8.05 Uhr. Die Richterin schaut etwas erbost auf die Uhr. Auf diesen Dialog habe ich jetzt gar keine Lust. Sie wird wissen, dass das Gericht erst um Punkt 8 Uhr öffnet. Nachdem ich die Akte hingelegt und meine Bücher vor mir ausgebreitet habe – Steffen hat sich bereits etwas unruhig hingesetzt –, kommt der nächste Knaller: Frau Richterin meint, uns darauf aufmerksam machen zu müssen, dass wir doch auch viel Zeit und Geld hätten sparen können. Die Sache sei doch völlig aussichtslos. Nur anzureisen, um den Einspruch zurückzunehmen, sei doch sinnentleert. Langsam platzt mir der Kragen. "Natürlich werden wir den Einspruch nicht zurücknehmen. Aber vielleicht könnten wir jetzt erst mal ganz geordnet das Verfahren eröffnen", erkläre ich. Die Richterin schaut mich so verdutzt an, als hätte sie tatsächlich damit gerechnet, dass wir nur gekommen seien, um den Einspruch zurückzunehmen. Unfassbar! Vorgeworfen wird unserem Mandanten ein Verstoß gegen das Überholverbot. Trotz Verkehrszeichen 277 soll Steffen zwei andere Fahrzeuge überholt haben. Die Richterin möchte zunächst von Steffen wissen, was ihn denn dazu bringe, 300 Kilometer anzureisen, nur um ein kleines Bußgeld zu verhindern.

Steffen pariert selbst und erwidert, es gehe ihm nicht um das Bußgeld. Um den Punkt gehe es ihm. Das sei doch das, was Berufskraftfahrer bewege. Einen Punkt habe er schon. Ein zweiter Punkt sei ihm einfach zu gefährlich. Außerdem könne er für die Situation hier ganz und gar nichts. Den Überholvorgang hätte er nicht verhindern können. Die Richterin schaut etwas verdutzt. Aber Steffen ist noch nicht fertig: "Es gibt noch einen zweiten Grund, der mir ganz wichtig ist." Diesen Grund kenne ich. Er liegt Steffen sehr am Herzen. Steffen möchte gern mit seiner Tochter begleitetes Fahren machen. Er ist nur am Wochenende zu Hause. Den Rest der Woche ist er auf Tour. Er sieht seine Tochter relativ selten. Er freut sich darauf, mit ihr etwas gemeinsam zu machen, und um das Autofahren wird sie sich sicher reißen. Aber wenn Steffen nun den zweiten Punkt bekommt, dann war es das mit dem begleiteten Fahren. Das will Steffen auf jeden Fall vermeiden. Die Richterin guckt etwas verwundert und fragt: "Was soll das denn? So etwas habe ich ja noch nie gehört. Außerdem hat das ja mit diesem Verfahren wohl gar nichts zu tun."

Fahrer hat Gefahr vermieden

Die Richterin passt zu diesem Gerichtsgebäude. Ich hole aus und erläutere, wie es zu diesem angeblichen Überholverstoß kommen konnte. Auf der B 20 ist Steffen gefahren, hinter zwei tschechischen Lkw. Es gab die durchgezogene Linie auf der Straße und in jede Richtung eine Fahrbahn. Dann kam diese Auffahrt, und die Auffahrtspur wird zur zweiten Fahrbahn in der Richtung, in der Steffen fuhr. Vor ihm bremsten die zwei tschechischen Lkw plötzlich. Dort, wo die eine Spur dazukommt, ist zwischen den zwei Spuren keine durchgezogene Linie mehr. Die beiden Lkw haben bis auf eine Geschwindigkeit von 40 km/h runtergebremst. Das ist belegt. Das hat Steffen ausgelesen, und das legen wir auch auf den Gerichtstisch. Die Tschechen sind dann auf die rechte Spur gefahren. Steffen ist einfach auf der linken Spur geblieben und an den beiden vorbeigefahren. Am Ende dieses Fahrmanövers sah Steffen dann plötzlich das Verkehrszeichen 277. Da er in diesem Moment mit dem Fahrerhaus schon vor dem vorderen der zwei Lkw war, war es nur noch eine Frage von Sekunden, bis das Manöver beendet war. Er fuhr hiernach auf die rechte Spur.

Für ihn war alles in Ordnung. Stark abbremsen und einreihen wäre ein weitaus riskanteres Manöver gewesen, zumal sich hinter ihm eine Schlange mit ein paar Pkw gebildet hatte. Die Richterin schaut Steffen nur kurz etwas verbiestert an. Sie sagt nur knapp: "Ja, und was soll das?" Ich reagiere spontan und meine: "Das, Frau Richterin, ist offensichtlich kein Regelfall. Selbst wenn das überhaupt ein Fall des verbotenen Überholens ist, dann entspricht das doch in keiner Weise dem durchschnittlichen Fall des Verstoßes gegen das Überholverbot. Es ist ein besonderer Fall. Hier ist § 1 Abs. 2 BKatV anzuwenden." Die Richterin guckt mich erneut wie versteinert an. "Wenn das kein Durchschnittsfall ist, dann weiß ich nicht, was ein Durchschnittsfall ist!" Mein Gott, wie kalt kann die Atmosphäre in einem Gerichtssaal sein?! Ich erkläre ihr, dass klassischerweise das Überholen mit dem Ausscheren nach links beginnt. So sehe es auch das Gesetz vor. Das habe es hier gar nicht gegeben. Ganz im Gegenteil. Die angeblich überholten Lastwagen seien nach rechts gefahren. Steffens Geschwindigkeit sei zunächst gleichbleibend gewesen. Erst als er das Verkehrszeichen 277 gesehen habe, da habe er beschleunigt, und das sei auch die richtige Entscheidung gewesen. Ein Abbremsen und Sich-nach-hinten-fallen-Lassen wäre viel zu gefährlich gewesen.

Mit 55 Euro Bußgeld davon gekommen

Die Richterin bleibt kalt und zäh. Sie nimmt gar ein Wort in den Mund, das so gar nicht passt: "Vorsatz". Vorsatz sei das, ganz klar. Das Bußgeld sei zu erhöhen. Sie denke sogar an Verdoppeln. Steffen fängt an, unruhig mit den Füßen zu tippeln. Ich bitte um eine Unterbrechung. Steffen lässt mich gar nicht erst reden. Er sagt sofort: "Die hat recht gehabt am Anfang. Lass uns den Einspruch zurücknehmen und das hier beenden." Allmählich habe ich auch das Gefühl, dass alles andere hier verlorene Zeit ist. Wir gehen noch einmal rein, und ich kann nicht einfach so kapitulieren. Ich greife mir den Gesetzestext und den Kommentar. Ich gehe vor zum Richtertisch. Ich lese ihr vor: "§ 5 Abs. 4 StVO: Wer zum Überholen ausschert … § 5 Abs. 4a StVO: Das Ausscheren zum Überholen …" Darüber hinaus die Kommentare bei Hentschel/König/Dauer: "dass sich Überholen aus drei Phasen: Ausscheren, Überholen, Einscheren", zusammensetze. Die Richterin schaut mich etwas verwundert an. Ich zeige mit dem Finger auf die Textstellen, die ich rezitiert habe. Auf einmal kommt ein minimalistischer, aber doch kalter Anflug von einem Lächeln in ihr Gesicht. "Überzeugt haben Sie mich nicht, Herr Rechtsanwalt. Aber so viel Zeit habe ich dann auch wieder nicht, um das hier weiterzutreiben."

Selbst bei ihrem Rückzug will sie noch wie der Sieger aussehen. Sie schreibt eine 55 auf einen Zettel und dreht den Zettel zu mir um. Ich nicke. Sie meint: "Dann erheben Sie sich bitte zum Urteil!" Ich kann gerade noch schnell genug zum Verteidigertisch eilen, da beginnt sie schon: "Im Namen des Volkes …" Sie spricht 55 Euro Bußgeld aus. Wir erklären sofort Rechtsmittelverzicht. Das begleitete Fahren ist gesichert. Steffen ist überglücklich. Wir trinken am Autohof, zu dem ich Steffen bringe, noch einen Kaffee. Eine schwere Geburt war das für ein klein wenig Gerechtigkeit!

Kleiner Fall

Kalli* sollte eigentlich überglücklich sein: Er hat vor gut vier Wochen seinen nagelneuen DAF XF mit Premiumausstattung bekommen. Richtig freuen kann er sich heute nicht darüber. Er hat einen Bußgeldbescheid bekommen. Ein Handy soll er in der Hand gehalten und telefoniert haben. Autobahnanwalt Klemens Bruch beschließt kurzerhand, den Tatvorwurf nachzustellen.

Der Streifenwagen soll direkt neben ihm gefahren sein. Genau so tun wir es auch. Rechtsanwaltsfachangestellte Laura Oerter fährt. Bruch schaut nach oben. Was sich erkennen lässt: gar nichts. Es ist nicht möglich, von einem Pkw aus aufgrund des Höhenunterschieds und der doch recht hohen Gürtellinie eines DAF einen Lkw-Fahrer zu beobachten und festzustellen, dass dieser in der rechten Hand auf Lenkradhöhe ein Smartphone hält. Die Beamten können das nicht gesehen haben. Die linke Schulter und den Kopf: ja. Mehr aber auch nicht. Im Gerichtssaal legt Klemens Bruch dem Amtsrichter die Fotos vor. Weitere Überzeugungsarbeit ist nicht nötig. Das Verfahren wird eingestellt.

AG Warendorf Az.: 71 OWi 89 Js 289/19-76/19

Kommentar

Verkehrsrechtsdeutschland hat seit einigen Tagen an einem Urteil des saarländischen Verfassungsgerichtshofs zu knabbern. Eine Rechtsanwältin hatte sich gegen einen Beschluss des Oberlandesgerichts, mit dem ein Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken bestätigt wurde, gewehrt. Das Amtsgericht hatte einen Bußgeldbescheid wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung bestätigt. Doch diese Entscheidung wie auch die des Oberlandesgerichts wurden durch den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes aufgehoben. Die Rechtsanwältin hatte vor dem Amtsgericht einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens gestellt, um zu klären, ob beim Messgerät Traffistar S350 ausgeschlossen sei, die Messung im Nachhinein auf ihre Richtigkeit durch einen Gutachter überprüfen zu lassen. Der Antrag wurde abgelehnt. Auch die Rechtsbeschwerde der Anwältin beim Oberlandesgericht hatte keinen Erfolg. Das Oberlandesgericht führte auf, es handele sich bei den Messungen mit Traffistar S350 um ein standardisiertes Messverfahren. Das Gericht müsse die Richtigkeit der Messung nur überprüfen, wenn es konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlmessung gebe. Mit dieser Auffassung beschäftigte sich der Verfassungsgerichtshof und stellte zunächst klar, dass die Fülle der von den Gerichten zu bearbeitenden Fälle nicht zu einer Beschränkung der Rechte der Verteidiger und der Betroffenen führen dürfe. Das Verfassungsgericht wies deutlich darauf hin, dass auch Bußgeldverfahren als Massenverfahren zu erheblichen beruflichen Beschränkungen für die Betroffenen führen können. Das Verfassungsgericht stellte weiter klar, dass es einem Fahrer nicht von vornherein verwehrt sein dürfe, Einwendungen gegen das Messergebnis erst im Gerichtsverfahren ermitteln zu lassen. Unser Fazit: Zumindest im Saarland dürfen die Richter und Richterinnen nicht mehr so leichtfertig wie bisher Beweisanträge zurückweisen. Ein Weg in die richtige Richtung! Das Urteil hat die Rechte der Verteidigung in Bußgeldsachen gestärkt.

Autobahnkanzlei FF 10/2019, Autohof Bitterfeld, Verkehrsschild. Foto: Autobahnkanzlei
Autobahnkanzlei, Autohof Bitterfeld.

Neues aus der Autobahnkanzlei

Anfang November eröffnet mit leckerem Essen und Mucke vom Feinsten unsere neue Autobahnkanzlei auf dem Autohof in Bitterfeld – so wie in Wilnsdorf über der Lkw-Waschanlage der Truckwash Cologne GmbH. Unser Kollege Steffen Kaufer brennt schon darauf, von der Autobahnkanzlei aus für die Lkw-Fahrer zu arbeiten. Wir werden in Bitterfeld neben verkehrsrechtlichen Mandaten auch arbeitsrechtlich beraten. Alle Freunde unserer Autobahnkanzlei laden wir herzlich ein zur Eröffnungsfeier am 2. November 2019 um 15 Uhr in den Kanzleiräumen. Bis dahin – wir freuen uns auf euren Besuch!

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
FF 10 2019 Titel
FERNFAHRER 10 / 2019
7. September 2019
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