Autobahnkanzlei Fahrer vor Gericht

Autobahnkanzlei FF 1/2021, Rechtsanwältin Sofia Karipidou, Wiesbaden, Tatort, Mandant, Telefonat, Stoppuhr Foto: Autobahnkanzlei/Ralf Grunert 1 Bilder

Fünf Verhandlungstage lang kämpft Autobahnanwältin Sofia Karipidou für Fernfahrer Markus. Sie lebt diesen Fall förmlich. Am Ende verlässt sie ziemlich geschafft den Gerichtssaal.

Markus* steht im Sommer 2019 zerknirscht vor der Kanzleitür. Den gelben Umschlag, in dem das "Mistding" steckt, hat er, um ihn ja nicht zuviel zu berühren, mit zwei Fingern vorsichtig aus der Gesäßtasche gezogen. Ein wenig muss Sofia ob dieses Schauspiels schon grinsen. Sie kennt Markus seit Jahren. Beim ersten Blick auf den Bescheid wird ihr der Ernst der Lage klar: 230 Euro Bußgeld, zwei Punkte für fünf Jahre, wo Markus doch schon vier hat, plus einen Monat Fahrverbot – und das bei seinem Chef, der keine Gnade kennt.

Sofia holt Markus erst mal runter. So schnell wird nicht scharf geschossen. Selbst wenn alles in die Hose geht, dann dauert sein Verfahren mit Sicherheit ein Jahr. "Da haben wir schon ein wenig Einfluss drauf. Vier Monate Abgabefrist für den Lappen obendrauf, und wenn es dann noch eine zweite Instanz gäbe – so weit in die Zukunft kann man kaum denken. Also, lieber Markus, es spricht einiges dafür, dass du, wenn überhaupt, deinen Führerschein erst im Sommer 2021 abgeben musst", erläutert die erfahrene Autobahnanwältin. "Aber eigentlich fällt uns in der Autobahnkanzlei immer was ein. Bleib ganz ruhig, das ist jetzt unser Problem und nicht mehr deins."

Markus geht es nach dieser sanften Predigt deutlich besser. Sofia erklärt ihm den Ablauf. Markus kann jetzt deutlich ruhiger weiterfahren. Im nächsten Jahr passiert reichlich wenig. Der Richter terminiert irgendwann knapp vor der Verjährung in den Hochsommer 2020. Sofia hat sich in die Technik des Messverfahrens sorgfältig eingearbeitet. Sie hat sich die Ampelkreuzung angeschaut, um ein Gefühl für den Tatort zu kriegen, und natürlich hat sie die Dauer der Gelbphase gemessen. Der Tatvorwurf ist deutlich: Rotlichtverstoß, Rotzeit satt über einer Sekunde, also ein qualifizierter Rotlichtverstoß. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Das Merkwürdige an dem jetzt beginnenden Spiel ist, dass dauernd jemand anderes aufschlagen wird.

1. Termin

Sofia verteidigt mit Kampfgeist. Sie beißt sich an technischen Fragen fest, die sie vorher sorgfältig herausgemeißelt hat. Der Richter kann die fitte Anwältin nicht widerlegen. Einstellen will er nicht. Er will die Behörde mit den Kritikpunkten konfrontieren. Am Schluss nimmt er noch die Pose des weisen Richters ein und belehrt Sofia, dass das stete Greifen nach den Sternen, der Versuch, das Unmögliche möglich zu machen, auch nach hinten losgehen könne. Sofia kontert das mit einem etwas frechen "Warten wir es einfach ab. Ich habe ein gutes Gefühl in diesem Fall, und meist liege ich damit richtig". Er lächelt gnädig und verabschiedet sich.

2. Termin

Beim Betreten des Saals stellt Sofia sofort fest, dass sich das Gesicht hinter dem Richtertisch geändert hat. Dort sitzt jetzt ein sportlicher Sunnyboy, der diesen Fall schon sicher in der Kiste weiß. Er zelebriert siegessicher die Verlesung der Stellungnahme der Behörde. Danach legt er feierlich die zwei Seiten auf den Richtertisch und wirft ein "Und jetzt, Frau Rechtsanwältin?" in den Raum. "Gar nichts", antwortet Sofia. "Damit können wir gar nichts anfangen." Sie zerlegt die Stellungnahme der Behörde kunstvoll, sodass der Richter nach fünf Minuten eingestehen muss, dass bei rechtem Licht betrachtet durch die Beamten nichts Verbindliches zu Papier gebracht wurde. Verteidigung und Richter sind sich einig, dass der für die Rotlichtanlage zuständige Beamte gehört werden müsse.

3. Termin

Sofia trifft der Schlag, als sie zum Richtertisch schaut. Das dritte Gesicht in diesem Verfahren. Der langhaarige neue Richter kommt ein wenig hippiemäßig rüber. "Der ist schwer einzuschätzen", denkt sich Sofia und fragt, ob der Zeuge sich entschuldigt habe. Draußen auf dem Flur sitze niemand. Nein, den habe er ausgeladen, erklärt der Richter. Den Zeugen brauche er nicht, für ihn sei alles klar. Er sei selbst mal Anwalt gewesen und werde auf die Tricks der Verteidigung nicht reinfallen. Sofia wehrt sich mit Händen und Füßen. Als letzten Rettungsanker wirft sie die drohende Kündigung in den Saal. Der Richter schnauft kurz deutlich vernehmbar. Danach setzt er das Verfahren aus, um den Arbeitgeber zu laden. Der Folgetermin wird zweimal wegen Corona verschoben. Vier Monate später geht’s weiter.

4. Termin

Wenn es derselbe Richter wäre, wäre Sofia überrascht. Und es ist wieder ein neuer. Der Arbeitgeber ist nicht erschienen. Sofia zitiert die Rechtsprechung zur Nichtverhängung eines Fahrverbots bei langem Zeitablauf zwischen Tat und Entscheidung. Der Richter will sich in diese Problematik in Ruhe einlesen. Dafür hat Sofia Verständnis. Immerhin ist der Richter jung und unerfahren und will keinen Fehler machen. Letztlich bringt das Zeit – und das ist gut für Markus.

5. Termin

Derselbe Richter wie im vierten Termin. Die Rechtsauffassung des Gerichts sprudelt nur so aus ihm heraus. Der Zeitablauf reiche für ein Absehen vom Fahrverbot nicht aus. Der Arbeitgeber sei nicht erschienen. Die drohende Kündigung sei nicht bewiesen. Er bestätige den Bußgeldbescheid. "Aus die Maus", meint er. "Nix da!", erwidert Sofia keck. Ihr sei da noch was aufgefallen. Es gebe ja gar kein Messprotokoll. Nur ein komisches Bedienprotokoll, das ein Auswerter unterschrieben habe. Ein vom Messbeamten unterzeichnetes Messprotokoll fehle. Die Verteidigung könne nichts dafür, dass Richter Nummer drei den Messbeamten ausgeladen habe. Sie auf jeden Fall brauche den jetzt und am besten den Auswerter noch dazu.

Die Anwältin beantragt die Aussetzung des Verfahrens und die Anberaumung eines neuen Termins, um die Beamten zu vernehmen. Der Richter will fertig werden und windet sich. Sofia spürt die Chance. Sie fasst alles zusammen. Extrem lange Verfahrensdauer, ein skurriles Verfahren mit dauernden Richterwechseln. Außerdem weist sie auf Formfehler hin. Die Messung verstößt ohne Messprotokoll gegen die einschlägige Verwaltungsrichtlinie. Und schließlich könne Markus nichts dafür, wenn sein Arbeitgeber nicht zum Termin erscheine. Das alles, schließt Sofia, mache eine Verurteilung zur Farce. Eine Sanktion sei bei einem solchen rechtsstaatlichen Trauerspiel nicht angebracht. Ein klassischer Fall für eine Einstellung. "Aus die Maus", schließt Sofia etwas wütend. Sie ist aufgeregt und stinksauer über dieses Verfahren, das schon im ersten Termin hätte eingestellt werden können.

Hinzu kommt, dass der Richter sich nicht in die Karten gucken lässt. Seine Mimik lässt kein Stück erahnen, wie er entscheiden wird. Er macht sich Notizen. Wird er dem Beweisantrag folgen? Fällt er ein für Markus dramatisches Urteil? Sofia schaut ihn mit voller Konzentration an. Er schreibt weiter. Jetzt unterschreibt er anscheinend. Es sieht so aus, als wolle er die Stimme erheben. Sofia spürt die innere Anspannung. Sie hat diesen Fall gelebt. Sie flüstert ein inniges "Bitte kein Urteil, stell es ein, bitte!". Der Richter wendet sich noch einmal den Notizen zu. Dann hebt er den Kopf: "Das Verfahren wird eingestellt!" Sofia flüstert ein "Danke, das ist fair!". Gerädert und groggy von diesem Prozess geht sie zum Auto. Ob dieser lange Kampf wirklich sein musste? Sie ruft Markus an, der nach dem zweiten Termin keinen Urlaub mehr bekommen hat, und erklärt ihm: "Unmöglich, lieber Markus, ist nur, was man nicht versucht!"

*Name von der Redaktion geändert

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