Fahrer vor Gericht Wer kann schon hellsehen?!

Foto: Jan Bergrath

Wegen eines Überholmanövers, bei dem der Überholte plötzlich beschleunigte, landet Ingo vor Gericht. Und diese Verhandlung ist besonders zäh.

Das Gerichtsverfahren beginnt in einer Stunde. Ich sitze im Auto und rausche die Autobahn entlang. Ingo*, mit dem ich in meiner Autobahnkanzlei in Berg alles sorgfältig durchgesprochen habe, fühlt sich richtig ungerecht behandelt. Ihm wird vorgeworfen, dass er einen anderen Sattelzug überholt habe, obwohl die von ihm gefahrene Geschwindigkeit nicht wesentlich höher gewesen sei als die des überholten Fahrzeugs.

Ich grübele während der Fahrt noch einmal über alle Feinheiten des Falls nach. Um ein Haar hätte ich die Abfahrt zum Parkplatz, auf dem wir uns verabredet haben, übersehen. Als ich dort ankomme, trifft mich fast der Schlag. Widerlich, was ich hier vorfinde. In diesem Umfeld hat Ingo übernachten müssen. Kaum vorstellbar. Man kann nicht einen Meter gehen, ohne auf Abfall und Dreck zu treten. Den Lkw von Ingo kenne ich. Ich klopfe an der Fahrertür an.

Drei Punkte sind einer zu viel

Ingo ist gerichtsschick, und wir gehen zu meinem Wagen. Er erklärt mir, dass das hier weiß Gott keine Rarität sei. So sähen viele Parkplätze aus. Von den sanitären Anlagen will er gar nicht reden. Er meint, die seien besonders schlimm. Dagegen sei das alles hier draußen noch harmlos. Ich erspare mir, in die wahrscheinlich wie so viele Autobahntoiletten ekelig stinkende WC-Anlage zu gehen. Mir reicht, was ich draußen sehe. Verdammt! Wenn die Lenk- und Ruhezeiten gesetzlich anordnen, dann sollen sie auch für die entsprechende Infrastruktur sorgen. Das hier stellt auf jeden Fall alles auf den Kopf, was gerade zum Thema Hygiene diskutiert wird. Wenn mir jemand sagen würde, dass es auf diesem Parkplatz Ratten gebe, würde ich es sofort glauben.

Nichtsdestoweniger, wir müssen losfahren. Eine halbe Stunde haben wir bis zum Gericht. Ingo hat schon zwei Punkte. Einen dritten will er sich jetzt nicht einfangen. Besonders blöd für ihn ist, dass er die ersten zwei Punkte eigentlich für nichts eingefangen hat. Einen Punkt hat er wegen Überladung bekommen. Da wurde ihm seitens seines Chefs gesagt, dass alles in Ordnung sei. Er hat darauf vertraut. Das war ihm eine Lehre. Mittlerweile arbeitet er woanders.

Den zweiten Punkt hat er eingefangen, weil er eine Fernbedienung in der Hand hatte. Die wurde für ein elektronisches Gerät gehalten, das der Kommunikation dient. Er hat sich die Finger wund geschrieben, aber es hat alles nichts geholfen. In beiden Fällen hat er am Ende keinen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt. Ich erkläre ihm, dass das oft so sei. Gute Argumente könne man über einen Anwalt bei Gericht vortragen lassen. Gegenüber der Verwaltung, so mein Eindruck, helfe es oft gar nichts. Da verschleißen sich die besten Argumente nur. Wenn diese dann bereits in der Akte sind, wenn der Richter sie bekommt, dann sind sie eben von der Behörde bereits durchgekaut. Ich will Ingo beweisen, dass unser Rechtsstaat funktioniert. Er hat zweimal richtig Pech gehabt. Das muss jetzt ausgeglichen werden.

Richter schlägt Einspruchrücknahme vor

Als wir eine halbe Stunde später den Gerichtssaal betreten, sitzt da etwas muffig ein Richter, der nicht gerade den Eindruck macht, als sei er für unsere Argumente offen. Ein mürrisches "Guten Morgen" geht ihm noch von den Lippen. Danach erklärt er nur, er wisse schon, was jetzt komme. Den Einspruch wollten wir doch sicher zurücknehmen. Das Ganze habe ja sowieso keinen Sinn. Ich schaue ihn verdutzt an. Wie er denn darauf komme, frage ich ihn. Das hätte ich doch dann schon vor dem Termin machen können. Der Richter meint: "Ja, ja, aber dann würden Sie ja wohl keine Termingebühr verdienen." Ich halte das für ziemlich unverfroren.

Ich schlucke meinen Ärger einfach runter und mache den Richter darauf aufmerksam, dass das so nicht richtig sei. Aber im anwaltlichen Gebührenrecht müsse er sich ja auch wirklich nicht auskennen. Ganz sicher würde ich nicht von Berg ein paar Hundert Kilometer anreisen und dann noch meinen Mandanten mitnehmen, wenn ich vorhätte, den Einspruch zurückzunehmen. In die Beweisaufnahme möchte ich stattdessen gern einsteigen und diesen Fall aufklären. Es kommt seitens des Richters noch ein mürrisches "Na, wenn Sie zu viel Zeit haben". Ich erwidere einfach nur kurz: "Wir werden sehen."

Dann geht’s los. Die Formalien werden runtergerattert. Der Richter schaut sich das Video an. Das Ding ist bemerkenswert. Aus dem Polizeiwagen ist gefilmt worden. Der fuhr auf der rechten Spur und verfolgte das von Ingo überholte Fahrzeug. Mit "geeichtem Messgerät" wurden die Geschwindigkeiten der zwei Fahrzeuge gemessen. Ich rüge als Erstes, dass zwischen den Geschwindigkeitsmessungen nicht nur ein paar Sekunden, sondern ein ganz schönes Stück Zeit liege. Hieraus könne nicht der Rückschluss gezogen werden, dass mein Mandant langsamer gewesen sei als das überholte Fahrzeug. Dafür bräuchte es zwei zeitgleiche Messungen.

Der Richter verzieht keine Miene. Er sitzt hinter seinem mächtigen Tisch. Seine schwarze Robe erscheint mir wie eine Mauer, die er um sich herumgebaut hat. Er wiederholt erneut, dass hier eine Einspruchsrücknahme Sinn mache. Ich frage den Polizeibeamten, der mittlerweile hereingerufen wurde, wie er denn die Distanz, die zurückgelegt wurde – genau 20 Meter, so heißt es in seinem Protokoll –, festgelegt habe. "Wann hat die begonnen und wann hat sie aufgehört? Waren da Striche auf der Straße oder was war da?!" Eine Antwort bekomme ich nicht.

50 Euro und keinen Punkt

Ich überschlage rechnerisch, wie lange denn wohl der Überholvorgang gedauert hat. Der Polizeibeamte beteiligt sich an dem Rechenexempel. Am Ende kommt er auf 28 Sekunden. Das sei durchaus im Rahmen des Zulässigen, erkläre ich. Außerdem bleibt die Geschwindigkeit des Polizeiwagens während der Messung gleich, während das überholte Fahrzeug sich vom Polizeifahrzeug entfernt. Dies belegt, dass der überholte Sattelzug beschleunigt hat, während er von Ingo überholt wurde. "Damit muss man rechnen", wirft der Beamte in den Raum. Ich antworte: "Ingo kennt doch den Fahrer nicht, und beim Modul ‚Hellsehen‘ hat Ingo wohl gefehlt." Ingo fuhr auf jeden Fall deutlich schneller als der andere, als er zum Überholen ansetzte. Das ergibt sich zwar nicht aus dem Video, kann aber auf jeden Fall auch nicht ausgeschlossen werden. Das Video beinhaltet schließlich nur einen kleinen Auszug des gesamten Überholmanövers. "Das beweist gar nichts", lege ich dar.

Man merkt, dass der Richter ein wenig einlenkt. Trotzdem regt er noch einmal eine Einspruchsrücknahme an. Ich bin kurz davor, zu platzen. Nach wie vor scheint es so, als wenn alle Argumente an seiner schwarzen Robe abprallen. Ohne auch nur ein wenig Einsicht zu zeigen, wirft er dann lustlos ein Angebot in den Raum: "Also, um dem hier ein Ende zu machen, schlage ich 50 Euro vor. Dann haben Sie keinen Punkt." "Und Sie Ihre Ruhe", verkneife ich mir zu sagen. Ingo ist einverstanden. Das Urteil wird verkündet. Wir erklären Rechtsmittelverzicht. Ich habe ein wenig Bedenken, dass dieses Verfahren das Vertrauen von Ingo in den Rechtsstaat wieder stärken konnte. Immerhin ist er ohne Punkt aus der Sache raus. Das ist auch etwas wert.

*Namen wurden von der Redaktion geändert

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
FF 05 Titel
FERNFAHRER 05 / 2020
4. April 2020
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