Grammer und Isringhausen Einblick in die Sitz-Entwicklung

Grammer Ergolab Foto: Grammer

Experten von Grammer und Isringhausen geben Einblicke in die Entwicklung und erklären, was einen Sitz komfortabel macht, welche Rolle Nachhaltigkeit spielt und wie Vibrationsmotoren unterm Bezug für mehr Sicherheit sorgen.

Mehrere EU-Länder erließen im April 2020 Ausnahmeregelungen zu Lenk- und Ruhezeiten, um in der Corona-Pandemie die Versorgung mit Gütern sicherzustellen. Wöchentliche Lenkzeiten von bis zu 60 Stunden waren plötzlich erlaubt, maximal 11 Stunden täglich durften Fahrer unterwegs sein. Heißt: bis zu 11 Stunden täglich sitzen. Damit das nicht zur Qual wird, muss das Gestühl viele Kriterien erfüllen: "Eine gute Ergonomie ist sehr wichtig, denn anders als im Büro kann der Fahrer nicht zwischendurch aufstehen und sich bewegen, es ist ein sehr statisches Sitzen", sagt Günter Krämer, Senior Vice President Group Strategy, Marketing & CSR beim Sitz-Hersteller Grammer. Wichtig seien daher eine analog zur Wirbelsäule geformte Sitzkontur sowie viele Einstellmöglichkeiten, um den Sitz optimal an den Fahrer anzupassen. Komfortfunktionen wie eine Sitztiefen-, Neigungs-, Schulter- und Armauflagenverstellung sowie eine Lordosenstütze sorgen für gesundes und bequemes Sitzen.

Michael Pawlowski, Entwicklungsleiter beim Sitz-Hersteller Isringhausen (Isri) bringt es auf den Punkt: "Ein Sitz ist gut, wenn man ihn auch bei Langstreckenfahrten nicht bewusst wahrnimmt." Das Komfortempfinden ist recht individuell, doch einige Punkte tragen bei allen Fahrern zu einem guten Gefühl bei: Das Polster darf nicht zu weich sein, der Fahrer darf keine Metallteile spüren, der Schweiß muss abtransportiert und die Sitzheizung schnell warm werden. Auch die intuitive Blind-Bedienung sei wichtig, der Blick gehört auf die Straße, nicht an die Seite des Sitzes.

Fahrersitze gehören zu den teuersten Bauteilen

Ein mit diversen Optionen ausgestatteter Fahrersitz wiegt zwischen 35 und 40 Kilogramm und ist ein komplexes System aus Metallgestell, Polstern, Bezügen, diversen hydraulischen Dämpfern, bis zu sechs Elektromotoren, Heizdrähten, Lüftern, Kabeln und Steckern, in Summe besteht ein Sitz aus bis zu 500 Teilen. "Die Herausforderung bei der Entwicklung ist, zu geringen Kosten das Optimum herauszuholen und dabei noch profitabel zu sein", sagt Günter Krämer. Denn es herrscht ein extremer Kostendruck: Nach dem Antriebsstrang gehört der Fahrersitz mit zu den teuersten Bauteilen am Fahrzeug. "Der OEM bietet seinen Kunden einen preiswerten Basissitz, den man durch Optionen wie Massage- oder Klimafunktion aufrüsten kann", erklärt Krämer.

Isri Schnittsitz Foto: Isringhausen
Das Schnittmodell des NTS2-Sitzes von Isri offenbart, wie viel Technik unter dem Bezug steckt.

Viele Funktionen anbieten bei nur geringen Stückzahlen im Nutzfahrzeugsegment, das geht nur mit einem modularen Sitzaufbau. Ein Standardsitz wird je nach OEM-Spezifikation angepasst und um Komfort-Module erweitert. Klingt leicht, ist es aber nicht, berichtet Jens Rönnefahrt aus der Isringhausen-Vorentwicklung: "Wir müssen alle Anforderungen erfüllen hinsichtlich Ergonomie, Sicherheit, Gewicht und Kosten, aber gleichzeitig einen sehr individuellen Sitz für den Hersteller liefern. Und das alles für verschiedene Märkte weltweit, das ist nicht einfach." Das Unternehmen setzt daher auf eine Plattform mit rund 80 Prozent Gleichteilen für die verschiedenen Sitze. Und auch für verschiedene Märkte, die teilweise andere Anforderungen haben.

Verschiedene Staaten - unterschiedliche Präferenzen

So darf es in den USA gern etwas weicher sein, das Sitzpolster für den amerikanischen Markt ist dicker und zudem 60 Millimeter breiter als hierzulande, berichtet Isringhausen. In China bevorzugt man längere Rückenlehnen, denn entgegen der landläufigen Meinung sind Chinesen nicht viel kleiner als Europäer, chinesische Männer messen im Schnitt 1,75 Meter, deutsche nur vier Zentimeter mehr. Auch beim Design gibt es Vorlieben. In der Türkei beispielsweise kommen eckige Formen nicht gut an, sagt Grammer, in Asien würden eher gedeckte Farben mit farblichen Akzenten gewünscht, heißt es bei Isringhausen. Die Technik unter dem Bezug bleibt freilich die gleiche, die regionalen Wünsche und Besonderheiten müssen dennoch mit der Modularität vereinbar sein.

Lkw-Sitz Foto: Mathias Heerwagen
Andere Länder, andere Sitze: Der Fahrer des Lkw auf Java in Indonesien wünscht sich vermutlich einen Sitz von Grammer oder Isri.

Gleiches gilt für den Beifahrersitz, denn obwohl in Deutschland kaum noch ein Lkw mit zwei Fahrern besetzt ist, sieht das in manchen Ländern anders aus. Ein Lkw verdient schließlich nur Geld, wenn er rollt. Daher ist der Beifahrersitz keineswegs überflüssig, aber in der Regel kein vollausgestattetes Nachrüst-Exemplar mit allen Schikanen für 3000 Euro. Hier steht die Variabilität im Vordergrund: "Oft lässt sich die Lehne flach abklappen und als Tisch nutzen, Polster und Armlehnen sind etwas dicker und komfortabler, bei sogenannten Cinema-Sitzen lässt sich das Sitzkissen hochklappen. Mit solchen Lösungen sorgen wir für mehr Lebensraum in der Kabine", weiß Kamil Karaca, Director Sales bei Grammer.

Das Bezugsmaterial ist kein gewöhnlicher Stoff, sondern entspricht den Anforderungen im Automobilbereich: Er darf nicht schnell verschmutzen, muss die Belüftung garantieren und soll möglichst abriebfest sein. Die Hersteller führen dazu Abrieb-, Staub- und Klimawechseltests durch; auch später in der Serie werden die Stoffe geprüft. Rund drei Viertel aller Sitze werden mit Stoff bezogen, nur ein Viertel mit Leder, weil es deutlich teurer ist. Der Quadratmeter Leder kostet etwa drei- bis viermal so viel wie Textilstoff.

Nachhaltigkeit gewinnt an Bedeutung

Obwohl ein guter Sitz bei normaler Beanspruchung ein ganzes Fahrzeugleben lang hält, gewinnt das Thema Nachhaltigkeit bei der Produktion an Bedeutung, angefangen beim Rahmen, über den Schaum bis hin zum Bezug. Vor einigen Jahren verwendeten manche Pkw-Hersteller Kokosfasern in den Sitzen. Die Fasern galten als umweltfreundlich, waren jedoch silikonisiert und letztlich nicht so nachhaltig wie gedacht. Isringhausen setzt unter anderem Schafs- und Alpaka-Wolle ein, auch werden Stoffe aus recyceltem PET verwendet. Grammer hat mit dem Ubility Light einen recyclingfähigen Sitz für den ÖPNV im Portfolio, der rund 60 Prozent leichter sein soll als gängige Modelle; sein Alurahmen besteht aus nur fünf Teilen, die Rückenlehne ist mit Strickgewebe bespannt.

Bus-Sitze basieren zwar auf den Lkw-Modulen, werden jedoch an die besonderen Anforderungen angepasst. Die Bedienelemente befinden sich auf der rechten Seite, in den Sitz ist ein Mikrofon integriert, optional eine Memoryfunktion mit Chipkartenleser – damit stellt sich der Sitz automatisch auf den nächsten Fahrer ein, ideal für den Stadtverkehr mit häufig wechselnden Fahrern. Sicherheit spielt bei Bussen eine große Rolle: "Man kann die Sitze mit Vibrationsmotoren ausstatten, die mit Fahrspurhaltesystemen gekoppelt sind. So erhält der Fahrer haptisch Rückmeldung, wenn er die Spur verlässt", erklärt Isringhausen-Entwicklungsleiter Pawlowski. Leicht umsetzbar wäre auch ein Toter-Winkel-Vibrationsalarm, dafür müsste lediglich das entsprechende Signal bereitstehen. Hier könnten die Fahrzeughersteller einen Beitrag zu mehr Sicherheit leisten, auch wenn der Sitz dann etwas teurer werden würde.

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
lao 06 2022 Titel
lastauto omnibus 06 / 2022
18. Juni 2022
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