Mercedes Integro Quadratisch, praktisch…

Mercedes Integro, Fahrbericht Foto: © Jacek Bilski 9 Bilder

Der Euro-6-konforme Kompakt-Diesel mit nur 7,7 Liter Hubraum zeigt im großen Überlandbus Mercedes Integro überraschend viel Temperament und ausgezeichnete Manieren.

Tapfer wirft sich der Integro mit vollem Schwung in die deftige Steigung. Jetzt hilft nur noch Vollgas, der kompakte Sechszylinder und das automatisierte Powershift-Getriebe müssen zeigen, was sie können. Kurz nach Ortsende steht Tempo 50 im vierten Gang mit stolzen 2.200 Touren an. Gleich darauf schaltet das Getriebe flott in Gang fünf, macht 1.500 Umdrehungen. Passt perfekt, der Sechszylinder steht voll im Saft, der Integro nimmt weiter Fahrt auf. Die nächsten Schaltdrehzahlen liegen etwas niedriger.

Mit knapp 80 Sachen und 1.600 Touren stapft der Integro den Berg hinauf

Schließlich stapft der Bus im siebten Gang mit knapp 80 Sachen und 1.600 Touren den Berg hinauf. Kompliment an die Maschine – dieser Kleine ist ein Großer.

Drinnen ist vom Cockpit aus nicht zu erkennen, ob sich die mild lächelnde Bugmaske des Integro beim Kampf mit dem Berg vor Anstrengung verzerrt. Und draußen schaut mal wieder keiner hin – der kantige metallicbraune Integro pendelt optisch zwischen dem Charme eines Stromkastens und einer bekannten quadratischen Schokoladentafel.

Ort der Handlung ist Hirsau im Nordschwarzwald, historischer Ortsteil des Städtchens Calw und ein interessantes Etappenziel für Touren mit dem Omnibus: ehemaliges Kloster, malerische Schlossruine, pittoreskes Fachwerk, Café, Restaurant mit Außenbewirtschaftung, Omnibus-Parkplatz– das alles kommt für Ausflüge gerade recht. Links und rechts hält die Landschaft neben viel Grün jedoch zahlreiche anstrengende Steigungen bereit. Genau die richtige Prüfung für den Mercedes Integro, der erstmals mit seinem neuen Sechszylinder im Euro-6-Trimm antritt.

Dieselmotor mit 7,7 Liter Hubraum und 1.400 Nm Drehmoment

Auswärtige müssen weder die gepflegte Ausfallstraße von Hirsau über Ottenbronn nach Simmozheim noch die Ortsnamen unbedingt kennen. Der Integro jedoch studiert hier jeden Meter und jeden Asphaltkrümel, jeden Kanaldeckel: Über mehrere Kilometer geht’s fast schnurgerade mit bis zu zwölf Prozent Steigung den Berg hinauf. Und hinten im Bus ackert ein schlanker Diesel mit gerade mal 7,7 Liter Hubraum und 1.400 Nm Drehmoment.

Ist der Integro als gediegener Überlandbus längst ein alter Fuchs, so zählt der Motor zu den Jungspunden. Entsprechend ausgeprägt und fast überschäumend ist sein Temperament. Er akzeptiert beim Dahinrollen klaglos Niedrigdrehzahlen von 900 Touren. Gibt der Fahrer ihm die Sporen, lässt das Getriebe das Triebwerk bei Bedarf bis weit über 2.000 Touren jubeln. Das juckt die Maschine wenig, sie kennt kein Vibrieren und kein Dröhnen, läuft einzig im Bereich der Nenndrehzahl ein klein wenig härter. Schnurrt aber oben hinaus wieder wie ein Kätzchen. Nur im Leerlauf schüttelt sich der Motor im Testwagen etwas nervös, ähnlich einem feinnervigen Rennpferd vor dem Start.

Das ausgeprägte Drehvermögen des Triebwerks kommt angesichts der Bergstrecken wie gerufen, ebenso die acht Gänge des automatisierten Powershift-Getriebes. Beides zusammen macht wett, dass es die Maschine zwar auf 265 kW (360 PS) Leistung wie der zwölf Liter große Vorgänger bringt, jedoch auf weniger Drehmoment. Selbst aufwendige Technik wie zweistufige Aufladung, oben liegende Nockenwellen, eine Sammlung von zwei Dutzend Ventilen und eine Common-Rail-Einspritzung mit einem gehörigen Druck von bis zu 2.400 bar stößt eben irgendwann an Grenzen.

200.000 Euro plus 2.000 Euro für acht automatisierte Gänge

Serienmäßig spendiert Mercedes nach alter Sitte ein Sechsgang-Schaltgetriebe. Doch bei einem Bus für mehr als 200.000 Euro tun obendrauf gut 2.000 Euro für acht automatisierte Gänge nicht weh. Zumal das belastbare Reisebusgetriebe nicht nur flott und sanft schaltet, sondern in Verbindung mit der überschaubaren Größe des Motors lange Haltbarkeit verspricht, auch für die Kupplung. Hinzu kommen Feinheiten wie die Kriechfunktion beim Rangieren und die generelle Entlastung des Fahrers, denn Powershift macht seine Sache ausgezeichnet – nicht nur am Berg. Nur die umständliche Bedienung im Integro mit Joystick und zwei Knöpfen ist von gestern – mit dem vorbildlichen Lenkstockhebel im Travego Edition 1 geht’s viel besser.

Mercedes spendiert dem Integro zusammen mit Euro 6 auch den neuen, spritsparenden Voith-Luftpresser sowie ein Batterie- und Lichtmaschinen-Management. Das verlängert die Lebensdauer der Komponenten und verringert den Verbrauch. Zum Einsatz kommt ebenso der neue Wasser-Retarder von Voith. Er überzeugt mit hoher Leistung, setzt jedoch recht ruckartig ein. Spürbar wird dies sowohl bei Bedienung per Handhebel als auch beim Übergang der verschiedenen Bremsmodi während des Tritts aufs Pedal. Darüber hinaus fällt der Retarder im sparsam gedämmten Überlandbus mit niedrigem Fußboden unangenehm durch sein Geräusch auf – muss die Wasserspülung des Retarders so laut aufheulen?

Bei Tempo 100 schlägt die Lautstärke mit nur 68 dB(A) zu Buche

Vielleicht fällt der Verzögerer deshalb unangenehm auf, weil der Mercedes von Hause aus zu den Leisetretern gehört. Trotz knapp 1.600 Umdrehungen bei Tempo 100 flüstert er im Heck dank des gedämpft arbeitenden Motors mit nur 68 dB(A). Damit liegt er auf Reisebusniveau und fährt deutlich dezenter als das bisherige Modell. Und vorn halten sich trotz der steilen Linienbusscheibe die Windgeräusche in Grenzen, macht ebenfalls 68 dB(A).

Wer nicht im Schwarzwald, sondern in der norddeutschen Tiefebene herumrutscht, wählt zu dieser Motor-Getriebe-Kombination vielleicht eine längere Achsübersetzung. Oder greift zur schwächeren Motorausführung mit 220 kW (299 PS) Leistung und 1.200 Nm Drehmoment. Wie auch immer: Mercedes verspricht einen spürbar niedrigeren Dieselverbrauch, erheblich weniger Adblue-Konsum sowie lange Wartungsintervalle von 90.000 Kilometern. Hinzu kommt neu jedoch der Service für den zusätzlichen Partikelfilter nach 240.000 Kilometern oder zwei Jahren.

Hinterachse mit Namen RO 440 und neuer Technik

So zurückhaltend wie das Triebwerk arbeitet im Integro auch die Hinterachse. Bei ihr hat sich nicht nur die Mercedes-Bezeichnung von HO6  in RO 440 geändert, auch die Technik macht einen Satz nach vorn: Reduzierung des Ölvolumens, höherer Wirkungsgrad durch weniger Planscharbeit, Wartungsintervall um 60.000 auf 240.000 Kilometer verlängert, ein anderer Querschnitt, geringeres Gewicht, leiserer Lauf – könnte man bei einer Achse von einem Facelift sprechen, hier wäre es angebracht.

Hinter der runderneuerten Achse ragt der stehende Motor im Heck mit seinen oben liegenden Nockenwellen trotz kompakter Bauweise höher auf als bislang die große, aber bequem liegende Maschine. Deshalb setzt Mercedes im Fahrgastraum das Podest in der letzten Reihe etwas nach oben. Obwohl genug Kopffreiheit bleibt – auch wegen der seitlich unter dem schrägen Luftkanal angeordneten Leselampen und Luftdüsen –, will Mercedes die Gepäckablagen kürzen. Tipp: Man könnte auch drauf verzichten.

Mercedes-Benz Integro wiegt 200 Kilo weniger als sein Vorgänger

Auffallend ist das knappe Gewicht des schlanken Motors, der Vorteil seiner kompakten Bauweise. Trotz des großen Aufwands rund um die Abgasanlage speckt der Bus deshalb mit dem Schritt zu Euro 6 im Vergleich zum Vorgänger um etwa 200 Kilogramm ab. Das ist willkommen, denn wer den gediegenen Integro so fein wie den Testwagen ausstaffiert, muss auf die Pfunde achten. Mit Klimaanlage, Reisebestuhlung, Begleitersitz, Wechselpodest gegenüber der Mitteltür, Doppelverglasung und weiteren gern gesehenen Annehmlichkeiten klettert das Gewicht in Richtung 13 Tonnen. Macht im Falle des Testwagens 53 Sitz- und 18 Stehplätze.

In der 13 Meter langen Ausgabe des Integro mit zwei Achsen könnte es deshalb eng werden, falls im Überlandverkehr Stehplätze gefragt sind. Dann müssten Interessenten schon zum 15 Meter langen Integro greifen. Der aber ist teuer und mit seinen üppigen Abmessungen nichts für den typischen Überlandverkehr. In den engen Kurven des Schwarzwalds jedenfalls ist er wie  ein Riese unter Liliputanern fehl am Platze.

Reihenzylinder OM 470 mit 10,7 Liter Hubraum

Trotzdem ein Wort zum Riesen-Integro: Mercedes gönnt ihm beim Schritt zu Euro 6 den neuen Reihensechszylinder OM 470 mit 10,7 Liter Hubraum. Darüber hinaus ist der Lulatsch nun wie die anderen Modelle der Baureihe mit elektronisch geregelter Bremsanlage, ASR und ESP verfügbar, das war überfällig. EBS, ASR und auch der Bremsassistent sowie die elektronische Niveauregulierung gehören beim Integro jetzt durchweg zum Serienstandard. Auf Wunsch ist als weitere Neuheit eine Reifendruckkontrolle zu bekommen.

Geblieben sind die Vorzüge des Integro. Da wäre seine Vielseitigkeit mit individueller Ausstattung für alle Einsätze vom Überlandbus bis zum vergleichsweise fein angezogenen Kombi für Kurzreisen. Ob Türvarianten, komfortable Bestuhlung namens Travel Star Eco, der etwas zugig-kalte Begleiterplatz vorne direkt an der Tür, ein Kühlschrank oder die Klimaanlage mit Leistung à la Reisebus – der Integro ist in allen Sätteln gerecht.

Theaterbestuhlung im Fond ist gelungen

Dazu passen Gepäckablagen mit geschlossenen Böden und freundlichen Stoffbahnen und die glatte, formschöne Innendecke. Nur die zahlreichen, wenn auch filigranen Halterungen der Ablagen erinnern beim Blick durch den Bus an die Geweihsammlung im Jagdzimmer. Stichwort Blick: Gelungen ist die gleichmäßig ansteigende Theaterbestuhlung im Fond, die den hinteren Passagieren eine hervorragende Sicht bietet. Nach Art des Hauses sind hier die Radkästen komplett überbaut. Der siebenprozentige Anstieg des Laufgangs im Heck entspricht den Vorschriften. Vorn muss man beim klassischen Überland-Bodenmaß von 860 Millimetern unweigerlich mit Radkästen im Fußraum leben.

Das schlanke und fahrerbetonte Cockpit ist unverändert, verfeinert nur mit einem Farbdisplay zwischen den Armaturen. Nett wär’s, könnte jemand bei Gelegenheit die Flut der Tasten auf der linken Seite aufräumen, die Mercedes dort ausschüttet. Aber Platz, Sicht, Spiegel, Materialqualität – alles erreicht gehobenes Niveau. Bestens bekannt sind auch die Scheinwerfer vom Ur-Travego, indes nach wie vor zum Birnenwechsel nur umständlich von innen zugänglich.

Integro mit neu gestaltetem Heck

Beim Kontrollgang um den Bus bleibt das Auge unweigerlich am neu gestalteten Heck hängen. Analog zu den Reisebussen hat der Kühler jetzt auf der rechten Seite hinter einer Schottwand Platz genommen. Links ist die raumgreifende Abgasanlage angeordnet. Der Motor steckt hinter einer neuen Klappe aus Kunststoff mit Aluminiumrahmen. Das Entlüftungsgitter rechts und die symmetrische Blende dazu links kennen Beobachter vom Travego. Oben führt der Motor seine Wärme über einen Luftschlitz ab. Er atmet tief und etwas aufgeregt – wo bitte geht’s zur nächsten Steigung?

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