Lkw-Fahrer als Gaffer Panoptikum der Sinnlosigkeit

Polizei Dortmund Foto: Polizei Dortmund
Meinung

Die Polizei Dortmund hat Bilder von Lkw-Fahrern veröffentlicht, die mit ihren Smartphones Videos von einem schwer verletzten Kollegen drehten, als sie dessen verunfalltem Lastwagen passierten. Damit verhielten sich Gaffer einmal mehr daneben. Dieses Verhalten sollte alle Verkehrsteilnehmer aufrütteln.

Die Meldung verbreitete sich am Freitag vergangener Woche wie ein Lauffeuer durch die Publikumsmedien. Sie war krass genug, um weiteren massiven Schaden am bereits stark angekratzten Image der Transportbranche anzurichten. Schaden, den nicht die Presse durch die Veröffentlichung der Mitteilung bewirkte, sondern den rund 50 Lkw-Fahrer durch ihr vollkommen unangebrachtes Verhalten verursacht haben. Auf der A1 hatte es am späten Vormittag hinter dem Kreuz Dortmund/Unna in Fahrtrichtung Bremen mal wieder gekracht. Vier Lkw waren am Unfall beteiligt, drei Fahrer wurden dabei teils schwer verletzt.

Unglaubliche Szenen spielten sich ab

„Leider spielten sich auf der Gegenfahrbahn wieder unglaubliche Szenen ab“, schrieb Kim Ben Freigang, seit sieben Jahren Pressesprecher der Polizei Dortmund, in seiner Meldung. „Dutzende Verkehrsteilnehmer, insbesondere Lkw-Fahrer, präsentierten ein offenkundig erkenntnisfreies Verhalten. Beim Vorbeifahren zückten Dutzende Verkehrsteilnehmer ihre Smartphones und fotografierten beziehungsweise filmten, wie die Rettungskräfte an der Unfallstelle mit der Befreiung und Versorgung der Eingeklemmten und Verletzten beschäftigt waren.“

Weiter heißt es in der Mitteilung: Es wurde versucht die schwerverletzten Unfallbeteiligten in ihrer hilflosen Lage unmittelbar abzulichten und das aus möglichst optimaler Position – also durch deutliche Reduzierung der Geschwindigkeit auf dem jeweiligen Fahrstreifen. Das sinnlose und rücksichtslose Verhalten der Gaffer führte auf der Gegenfahrbahn in Richtung Köln zu ‚Beinahe-Unfällen‘, die nur durch die Reaktion anderer Verkehrsteilnehmer in letzter Sekunde verhindert wurden. Verschärfend kommt hinzu, dass die ‚Kamerakinder‘, während sie das Leid der Verletzten filmten, selbst im Blindflug über die Autobahn fuhren. Erst das Aufstellen des Sichtschutzzaunes entschärfte die Situation.

50 Anzeigen gegen hemmungslose Gaffer

Ich spreche oft mit der Polizei über Lkw-Unfälle, aber selten habe ich so einen aufgewühlten Pressesprecher erlebt, der vor allem über das Verhalten der sogenannten „Profis am Steuer“ entsetzt war. Das war ein „Panoptikum der Sinnlosigkeit“, wiederholte er im Gespräch noch einmal den Grund, warum die Polizei 50 Lkw-Fahrer selber fotografiert und einige davon zur Veröffentlichung freigegeben hat – presserechtlich korrekt durch einen schwarzen Balken unkenntlich gemacht, ihre Lkw so ausgeschnitten, dass die Firma für Außenstehende nicht erkennbar ist. Die rechtliche Seite ist eindeutig, wie die Polizei aus Nordrhein-Westfalen schon vor einiger Zeit unter dem Titel „Gaffer gefährden mit ihrer Sensationsgier das Leben anderer“ im Internet veröffentlich hat

Klagen von Angehörigen können hohe Strafen bewirken

Das unverantwortliche Verhalten dieser Verkehrsteilnehmer werde sich für diese in Form von Strafanzeigen wegen der Verletzung gegen den höchstpersönlichen Lebensbereich (§201a StGB) und wegen der verbotenen Nutzung von Smartphones "auszahlen", heißt es weiter von der Polizei. Die betroffenen Fahrer erwartet ein Bußgeld in Höhe von 150 Euro, ein Monat Fahrverbot und ein Punkt in Flensburg“, erläutert Freigang. „Dazu könnten noch zivilrechtliche Forderungen in Höhe von Tausenden Euro von den Menschen kommen, die sich oder ihre Verwandten in diesen unrechtmäßig in den sozialen Medien veröffentlichen Fotos oder Filmen wieder erkennen.“ Sie wissen offenbar nicht, was sie tun, so bezeichnet Freigang dieses unüberlegte Handeln der beschuldigten Berufskraftfahrer. Denn dazu könnte es durchaus auch noch Abmahnungen der Arbeitgeber geben. Das, was ich bereits in dem Recht Aktuell „Vorsicht bei Facebook-Posts“ geschrieben hatte.

Die Grenze zwischen gesunder Neugier und Gaffen

Im Zuge der Veröffentlichung wurde in den Medien auch die grundsätzliche Frage diskutiert, ob dieses Phänomen der Gaffer besonders durch die sozialen Medien gefördert wird. Die Rede ist dabei vom unmittelbaren Erfolgserlebnis, wenn man in seiner Gruppe als erster etwas veröffentlicht, was andere nicht haben, und dadurch durch möglichst viele Klicks und Likes belohnt wird. Der Verkehrspsychologe Thomas Pirke, einer der Experten auf www.eurotransport.de, hat es mir so beschrieben: „Neugier ist ein normales, gesundes Verhalten“, sagt Pirke. „Jeder hat ein Informationsbedürfnis. Wir orientieren uns in unserer Umwelt; auch um Gefahren beurteilen zu können. Immer häufiger wird jedoch durch Gaffen eine Grenze überschritten, Hilfe verweigert und Menschen in Not werden beschämt. Damit werden Straftaten begangen und andere in Gefahr gebracht. Grund kann fehlende Empathie sein. Ein solches Verhalten ist hochgradig erschreckend und verletzt jede ethische Norm.“

So macht's der Blaulichtreporter

Im FERNFAHRER 4/2019 wird eine Reportage über die „Lebensretter“ der Freiwilligen Feuerwehr Königswinter erscheinen, genau genommen über den Löschzug Ittenbach, der gerade genauso alt geworden ist wie die bekannte Nummer des Notrufs, also 112 Jahre. Darin gibt es Bilder des Fotografen Ralf Klodt, der für die lokale Presse auch die Einsätze der Feuerwehr auf der A3 verfolgt – wenn sie schwer verletzte Lkw-Fahrer aus den bis zur Unkenntlichkeit verbeulten Wracks ihrer Fahrerhäuser schneidet. Sein Motto richtet sich nach der gängigen Ethik des Pressecodex: „Man muss keine Opfer eines Unfalls im Bild zeigen, um die Zerstörung zu demonstrieren.“ Sollte er dennoch in der Hektik vor Ort solche Bilder eingefangen haben, dann leitet er sie gar nicht erst an die Redaktionen weiter.

Foto: Jan Bergrath
Fotograf Ralf Klodt: „Man muss keine Opfer eines Unfalls im Bild zeigen, um die Zerstörung zu demonstrieren.“

Der gesunde Menschenverstand ist verschwunden

„Mit der Allgegenwart mobiler Dokumentation und sozialer Medien ist schlicht und einfach ein Stück gesunder Menschenverstand und auch Bodenständigkeit abhandengekommen“, beklagt Klodt. „Alles wird sofort zur selbstproduzierten Nachricht, dabei wird thematisch nicht mehr eingeordnet. Manche meinen, dass die Information so verdemokratisiert wird und sich die Dinge sich selbst regulieren werden. Viele Beispiele lassen jedoch das Gegenteil vermuten. Was eigentlich nötig wäre, ist der stärkere und sehr frühe pädagogische Ansatz in jungen Jahren, sprich in der Schule: Umgang mit mobiler Kommunikation, den sozialen Medien und der dazugehörenden Ethik.“

Besonnene Berufskraftfahrer fordern höhere Strafen

Erstaunlicherweise fordern gerade besonnene Berufskraftfahrer in ihren Kommentaren auf dieses extreme Beispiel sogar höhere Strafen für die Schuldigen. „So ein krasses Beispiel habe ich jetzt auch noch nicht erlebt“, sagt Klodt. „Fakt ist, dass die Polizei vor Ort oft nicht die Zeit hat, sich um Gaffer zu kümmern. Das sollte sich ändern, auch wenn es in der Praxis kaum umsetzbar ist. Mittlerweile muss sich Klodt dieses Schauspiel zu oft ansehen. „Ich löse mich eigentlich immer mal räumlich und innerlich vom direkten Unfall-Geschehen“, erzählt er. „Das gibt mir dann Gelegenheit, sich das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer anzuschauen.“

Beim Unfall mit einem UPS-Lkw, den er ebenfalls für den Express fotografiert hat, sah man laut Klodt, was man immer sieht: „Autos und Lkw, die auf der Gegenspur teilweise abrupt abbremsen und langsamer werden, um zu schauen. Huperei anderer Verkehrsteilnehmer, Gebrüll und Arm-Ruderei der Polizei und der Feuerwehrleute. Das ist heute Standard. Bis die Sichtschutzwand kam. Aber selbst dann setzt sich das Trauerspiel fort. Es ist einfach nur noch schlimm.“

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