JansBlog Selbstmörderische Abstände auf der Autobahn

Jan Bergrath Foto: Jan Bergrath

Eine Serie schwerer Lkw-Unfälle am Stauende hat diese Woche ganz Deutschland erschüttert. Gegen zu geringen Abstand und zunehmende Ablenkung am Steuer hilft am Ende auch kein Notbremsassistent.

Es ist nicht sonderlich schwer, einen 40-Tonner mit 85 Stundenkilometern und ausreichendem Sicherheitsabstand durch den Verkehr auf einer europäischen Autobahn zu steuern. Man muss es nur wirklich wollen. Letzten Montag, den 12. Februar, hatte ich wieder einmal die Gelegenheit. Als Gast bei einem deutschen Lkw-Fahrer, den ich im Rahmen unserer Serie “Profi im Profil“ im FERNFAHRER 5/2018 vorstellen werde. Ich hatte Lust, sein Chef hatte nichts dagegen, und so durfte ich mit einem voll ausgeladenen MAN TGX 18.440 von Bergamo in Italien über den Gotthard bis nach Rastatt fahren. Ich fahre schon seit 1981 Lkw, und ich habe gelernt, jederzeit den Überblick zu behalten. Ich erkenne möglichst frühzeitig, ob sich vor mir ein Stau bildet, und im Rückspiegel sehe ich jederzeit, ob sich ein Pkw anschickt, vor mir noch schnell einzuscheren, um eine Ausfahrt zu schaffen. Ich habe den Verkehr immer im Blick. So bin ich in all den Jahren noch nie in die gefährliche Situation einer Notbremsung geraten.

Notbremsassistenten sind kein Allheilmittel

Bevor ich mich ans Steuer des TGX setzte, las ich die erste Meldung über einen der schweren Lkw-Unfälle, die diese Woche das Land erschüttert haben. Ein Kühlzug war auf der A3 in einen Flix-Bus gerast, zwei Menschen starben. Bis zum Verfassen dieses Blogs ereigneten sich noch insgesamt vier schwere Unfälle mit sechs Toten. Allein auf der A3 waren es zwei nahezu identische Unfälle an fast derselben Stelle. Und sofort kam die reflexartige Behauptung, dass diese Unfälle verhindert werden könnten, wenn die Fahrer ihre Notbremsassistenten (NBA) nicht ausschalten würden. Diese These hatte ich bereits in meinem Blog "Trügerische Sicherheit" angezweifelt.
Auch die Pressestelle der Polizei in Wiesbaden weiß bislang nur, dass der Lkw des niederländischen Unfallverursachers auf der A3 bei Limburg ein Scania, Baujahr April 2015 war. Fraglich, ob ein NBA verbaut war – ein Gutachter wird nun den Unfallhergang klären. Und laut der Pressestelle von Volvo in Deutschland war der Volvo, dessen polnischer Fahrer einer deutschen Firma auf der A5 nahe Walldorf bei diesem fürchterlichen Unfall das Leben einer Kölner Familie auslöschte, aus dem Jahr 2014 und hatte keinen NBA verbaut.

Schlechte Information selbst bei Experten

Doch einmal mehr muss ich feststellen, dass die meisten Kollegen der Tagespresse, aber auch so manche Polizeiexperten schlicht nicht wissen, dass zum einen die Ausstattungsquote auf deutschen Autobahnen immer noch bei nur rund 50 Prozent liegt. Auch haben sie kaum eine Ahnung, wie diese Systeme wirklich funktionieren. Viele Fahrer und Fuhrparkleiter sind davon leider ebenfalls nicht ausgenommen. Selbst die jüngste Ausstattungsvariante ist kein Allheilmittel. Wie ich in meinem Blog “Kettenreaktion durch Ausbremsen“ bereits beschrieben habe, kann es auch mit aktiviertem NBA zu einem Unfall kommen, wenn der Fahrer im letzten Moment den NBA völlig legal übersteuert.

Kolonnenfahrten sind kein Platooning

Soeben hat MAN die ersten Fahrzeuge an Schenker übergeben, um demnächst mit dem Regelversuch des Platooning zu beginnen. Der Unterschied zum herkömmlichen Kolonnenfahren – und das scheinen viele möglicherweise zu vergessen – besteht vereinfacht gesagt darin, dass das Bremssignal des ersten Lkw an die nachfolgenden Fahrzeuge weitergeleitet wird. Sie kommen im Idealfall gleichzeitig zum Stehen. Wenn aber mehrere normale Lkw mit derselben Geschwindigkeit und einem viel zu geringen Abstand hintereinander in einer Kolonne fahren, dann reicht auch das beste Notbremssystem nicht, um einen Unfall zu verhindern. Denn auch der NBA hat eine rein technische Reaktionszeit von 1,4 Sekunden, in der er den Fahrer zunächst warnt, bevor er eingreift. Meines Wissens gibt es aber kaum einen Fahrer, der dann im entscheidenden Moment der Technik vertraut. Hier tut weitere Aufklärung wirklich Not.

Selbstmörderisch geringe Abstände, zunehmende Ablenkung

Wenn ich heute auf einer vielbefahrenen Autobahn wie der A2 oder der A6 unterwegs bin, dann habe ich den Eindruck, viele Fahrer spielen bereits Platooning, was aber derzeit eher Russisch Roulette ist. Daher ähneln sich viele Unfallmeldungen so sehr: der erste Lkw-Fahrer kann noch rechtzeitig auf ein Hindernis reagieren, der zweite mit Mühe und Not, der dritte rast dann voll ins Heck. So wie bei diesem Unfall mit gleich vier Lkw, ebenfalls auf der A3.

Ich habe meinen Blog deshalb mit einem Foto der Autobahn 4 in Norditalien belegt, ein Schnappschuss bei 85 Stundenkilometern aus unserem Lkw, der zeigt, mit welchen irrwitzigen Abständen Lkw-Fahrer bisweilen unterwegs sind. Abstandsverstöße sind in Deutschland längst die Regel. Nur ein Beispiel: Im Rahmen einer Aktionswoche wurden Ende Januar allein im Rheinland an fünf Tagen 1.300 Verstöße gegen den Mindestabstand festgestellt. Satte 81 Mal erwischte die Polizei die Fahrer zudem mit verbotenen Geräten wie Mobiltelefonen während der Fahrt. Sie spielen nicht nur mit ihrem eigenen Leben, sondern auch mit dem der anderen Verkehrsteilnehmer, wie diese traurige Woche beweisen hat. Das ist unverantwortlich. Das allerdings können nur die Fahrer selber ändern. Möglich ist es.

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
Rechtsanwalt Matthias Pfitzenmaier Matthias Pfitzenmaier Fachanwalt für Verkehrsrecht
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