JansBlog Notstandsklausel: Voll auf die Zwölf

Jan Bergrath Foto: Jan Bergrath
Meinung

In der Diskussion über mögliche Auswirkungen des vorerst gescheiterten EU-Mobiltätspaketes auf die Verkehrssicherheit gerät völlig außer Acht, dass es allein der Fahrer ist und nicht der Disponent, der von der sogenannten Notstandsklausel in Form des "Artikels 12" Gebrauch machen darf

Schuld ist immer der böse Disponent. So sehen es viele Fahrer, immer öfter natürlich in den sozialen Netzwerken, wo die Meinung die Fakten gelegentlich an die Wand zu drücken droht. Nicht anders ist es derzeit bei der Diskussion über die möglichen Auswirkungen des vorerst gescheiterten EU-Mobiltätspaketes auf die Verkehrssicherheit, die ich in Teilen bereits in meinem Blog "Chaos im Europäischen Parlament" beschrieben habe. Nun muss ich gleich noch einmal nachlegen – denn mir scheint, dass einige Kommentatoren die sogenannte "12-Tage-Regelung", die ausschließlich für Busfahrer gilt, mit dem "Artikel 12" der VO (EG) 561/2006 durcheinander bringen. Was derzeit nicht gerade hilfreich ist.

Die bestehende Regelung

Es geht um die Frage, wie lange ein Fahrer die Lenkzeit überschreiten darf, um noch einen Halteplatz zu finden. Bis auf weiteres gilt für Lkw-Fahrer im "Artikel 12" folgende Regel: "Sofern die Sicherheit im Straßenverkehr nicht gefährdet wird, kann der Fahrer von den Artikeln 6 bis 9 abweichen, um einen geeigneten Halteplatz zu erreichen, soweit dies erforderlich ist, um die Sicherheit von Personen, des Fahrzeugs oder seiner Ladung zu gewährleisten. Der Fahrer hat Art und Grund dieser Abweichung spätestens bei Erreichen des geeigneten Halteplatzes handschriftlich auf dem Schaublatt des Kontrollgeräts oder einem Ausdruck aus dem Kontrollgerät oder im Arbeitszeitplan zu vermerken."

Das ist im Grunde, was viele Fahrer machen, wenn sie ab 18.00 Uhr entlang der deutschen Autobahnen keinen geeigneten Parkplatz finden. Sie müssen den Grund, wenn sie ihre Lenkzeit für eine hier nicht näher definierte Zeit überschreiten, auf dem Tagesausdruck vermerken. In Deutschland geht das bei den Kontrollbehörden durch, in Frankreich soll es damit Probleme geben.

Dazu gilt aber grundsätzlich die Leitlinie 1 zur VO (EG) 561/2006. Darin heißt es unter anderem: "Ein Verkehrsunternehmen hat den Einsatz eines Fahrers so sorgfältig zu planen, dass die Sicherheit gewährleistet ist, indem beispielsweise regelmäßig auftretende Verkehrsstaus, die Wetterbedingungen und die Verfügbarkeit angemessener Parkplätze bedacht werden.“ Zu den Leitlinien geht es hier. Eine Lektüre, die sich lohnt.

Die geplante Änderung

Es ist bekannt, dass Fahrer immer wieder zum Wochenende hin Sorge haben, dass sie nicht mehr heimkommen, wenn die Lenkzeit zu Ende geht, oder es gerade am Freitag noch eine Ladung gibt, die unbedingt mitgenommen werden muss – und dann oft doch nicht fertig ist. Im schlimmsten Fall, wenn der Chef niemanden mit dem Pkw schickt, um den Fahrer schnell abzuholen, droht also ein Wochenende draußen auf dem Parkplatz, manchmal auch nur ein Teil des Samstags. Wobei ja im Dezember 2017 wiederum vom EuGH klargestellt worden ist , dass die Verbringung der regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit im Lkw verboten ist – und es eigentlich schon immer war. Die EU-Kommission wollte daher den Klagen von Fahrern und Unternehmern, dass die aktuellen Lenk- und Ruhezeiten nicht flexibel genug seien, Rechnung tragen und hatte vorgeschlagen, den Artikel 12 der 561/2006 neu zu formulieren:

"Sofern die Straßenverkehrssicherheit dadurch nicht gefährdet wird, kann der Fahrer von Artikel 8 Absatz 2 und Artikel 8 Absatz 6 Unterabsatz 2 abweichen, um eine geeignete Unterkunft gemäß Artikel 8 Absatz 8a zu erreichen und dort eine tägliche oder wöchentliche Ruhezeit einzulegen. Eine solche Abweichung darf nicht zu einer Überschreitung der täglichen oder wöchentlichen Lenkzeiten oder einer Verkürzung der täglichen oder wöchentlichen Ruhezeiten führen. Der Fahrer hat Art und Grund dieser Abweichung spätestens bei Erreichen der geeigneten Unterkunft handschriftlich auf dem Schaublatt des Kontrollgeräts oder einem Ausdruck aus dem Kontrollgerät oder im Arbeitszeitplan zu vermerken."

Der Änderungsvorschlag aus dem Verkehrsausschuss

Nach den letzten Änderungsvorschlägen aus dem Verkehrsausschuss des Europäischen Parlaments sollte es in Zukunft allerdings so lauten: "Sofern die Straßenverkehrssicherheit dadurch keinesfalls gefährdet wird, kann der Fahrer von Artikel 8 Absatz 2 und Artikel 8 Absatz 6 Unterabsatz 2 abweichen, um nach einer Ruhezeit von wenigstens 30 Minuten die Betriebstätte des Arbeitgebers, der der Fahrer zugeordnet ist, innerhalb von zwei Stunden zu erreichen. Der Fahrer hat den Grund dieser Abweichung spätestens bei Erreichen der geeigneten Unterkunft handschriftlich auf dem Schaublatt des Kontrollgeräts oder einem Ausdruck aus dem Kontrollgerät oder im Arbeitszeitplan zu vermerken. Bis zu zwei Stunden werden durch eine gleichwertige Ruhepause ausgeglichen, die ohne Unterbrechung vor dem Ende der dritten Woche nach der betreffenden Woche genommen werden muss."

Die Sorge vor übermüdeten Fahrern

Kritiker dieser Änderung fürchten nun, dass die Unternehmen, also hier die Disponenten, diese zwei Stunden mehr an Lenkzeit grundsätzlich ausnutzen würden, um die Fahrer bewusst länger "draußen" zu lassen. In Kombination mit der gewagten Interpretation der "12-Tage-Regelung" für die Busfahrer, entstand so schnell das Bild von vollkommen übermüdeten Lkw-und Bus-Fahrern, die am Ende der überlangen Arbeitswoche ins Stauende krachen würden. Wobei sich mittlerweile längst die Vermutung bestärkt, dass die meisten Stauendeunfälle zu Wochenbeginn passieren, und die Polizei eher selten Übermüdung als Unfallursache feststellt, sondern in erster Linie zu geringen Abstand und Ablenkung.

Notstandsklausel kein Freibrief für die Tourenplanung

So ist diese Notstandsklausel auch nach all den juristischen Kommentaren zum Artikel 12 schon in der bestehenden Form kein Freibrief für die Disponenten, etwaige Verzögerungen der Tourenplanung auszugleichen. Die rechtliche Anwendung wäre auch bei einer eventuellen tatsächlichen Änderung der VO (EG) 561/2006 durch den Trilog zwischen Kommission, Parlament und Rat so geblieben. Der EuGH hat nämlich bereits in der Rechtssache C 235/94 die Rechte des Fahrers gestärkt.

Es heißt dort eindeutig: "Zum einen geht nämlich aus Artikel 12 hervor, dass die Entscheidung, die Lenkzeit über das gewöhnlich von der Verordnung erlaubte Maß hinaus auszudehnen, um die Sicherheit der Fahrgäste, des Fahrzeugs oder seiner Ladung zu gewährleisten, allein Sache des Fahrers ist, dass sie zu dem Zeitpunkt getroffen werden muss, zu dem es diesem in unvorhergesehener Weise unmöglich wird, die vorgeschriebenen Lenk- und Ruhezeiten einzuhalten, und dass sie die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Erfordernisse der Sicherheit des Straßenverkehrs berücksichtigen muss. Zum anderen steht Artikel 15 Absatz 1 der Verordnung der Planung einer Abweichung durch das Unternehmen vor Antritt der Fahrt dadurch entgegen, dass er von den Beförderungsunternehmen verlangt, die Arbeit der Fahrer so zu planen, dass diese die Verordnung einhalten können."

Fahrer müssen ihre Verantwortung wahrnehmen

So gilt nicht nur für die Zukunft, sondern eigentlich schon jetzt: Die Fahrer müssen ihre Verantwortung am Steuer eines Lkw am Ende auch wahrnehmen und, so muss man es leider sagen, den Mut aufbringen, auch mal "Nein!" gegenüber der Forderung des Disponenten zu sagen. Spätestens der akute Fahrermangel schiebt alle Argumente à la Jobverlust beiseite. Denn sonst ändert sich weiter nichts in der Transportbranche. Das gilt im Übrigen auch für die anderen Rechte und Pflichten aus den geltenden Sozialvorschriften und natürlich dem Paragrafen 21a des Arbeitszeitgesetzes.

Aber wenn ich gleichzeitig immer wieder lese, dass deutsche Fahrer vor Gericht stehen, die auf Weisung ihrer Chefs mit gefälschten Urlaubsbescheinigungen unterwegs waren oder den digitalen Tacho manipuliert haben, dann kann es in manchen Fällen mit der Verantwortungsbewusstsein nicht so weit her sein.

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
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