Fahrer vor Gericht Juristisches Trauerspiel

Foto: Langendorf

Eigentlich soll er den stillgelegten Lastwagen eines Kollegen mit dem Tieflader abholen. Doch dann gerät Bernd* selbst ins Visier der Polizei. Der Fall landet trotz eines Formfehlers vor Gericht.

Montagabend, 19.20 Uhr: Bernd sitzt mir gegenüber in der Autobahnkanzlei. Er ist mächtig sauer. "Das ganze Jahr lang freue ich mich auf den Kirmestanz. Das ist ein Heiligtum bei uns im Dorf. Da geht jeder hin. Jeder! Dieses Jahr war das für mich kein Kirmestanz, sondern ein Trauerspiel." Am Wochenende davor hatte er ein neues Kleid für seine Frau gekauft. Er hat sich sogar eine Krawatte zugelegt. Es hätte alles so schön sein können. Wenn dieser blöde Umschlag nicht gekommen wäre. Ich schaue ihn an und frage: "Was ist denn so Dramatisches in dem gelben Umschlag?" Er guckt mich etwas verzweifelt an und meint: "Das kann ich auch nicht sagen. Ich habe mich nicht getraut, ihn aufzumachen. Aber das weiß doch jeder: Wenn so ein gelber Umschlag kommt, dann ist das der Untergang oder der Beginn davon. Ich habe den ganzen Abend im Festsaal nur an diesen Umschlag gedacht."

Die Angst vor dem gelben Umschlag

Ich nehme den gelben Umschlag in die Hand und frage Bernd, ob ich ihm das abnehmen solle. In der linken Hand habe ich den Umschlag. In der rechten Hand den Brieföffner. Bernd guckt mich an. Das "Ja, bitte!" schluchzt er mehr, als dass er es ausspricht. Als ich den Umschlag aufmache, denke ich mir: "Wenn die wüssten, was sie mit den Dingern bei manchen verursachen …" Was ich sehe, als ich den Bußgeldbescheid aufklappe, ist nicht witzig, aber auch kein Untergang. Ich kenne Bernd schon seit Jahren als Mandanten. Er hat gerade mal einen Punkt, der aber in einem Jahr getilgt wird. Man kann wohl davon ausgehen, dass das Verfahren lange dauert. Das Gericht ist uns bekannt. Da wird fünf Monate vor der Verhandlung terminiert. Seit der Tat sind nun schon vier Monate um. Ich lese Bernd den Bußgeldbescheid vor. Er atmet erst mal durch. Ich komme nicht umhin, ihn zu fragen, mit welchem Drama er denn gerechnet habe. "Nichts Konkretes." Er habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Aber es gibt schon Dinge, vor denen man Angst hat: Eigenbedarfskündigung des Vermieters, Kündigung des Arbeitsverhältnisses, Kündigung des Darlehens.

All seine Horrorvisionen fangen mit dem beknackten "K" an. Ich frage ihn, ob er noch einen Kaffee möchte, bevor wir über die Sache in Ruhe reden. Er nickt. Später sitzen wir wieder mit zwei dampfenden Pötten Kaffee am Tisch, und Bernd erzählt mir haarklein, was passiert ist. Mit einem Tieflader sollte er den stillgelegten Lkw seines Kollegen abholen. Als er den Laster gerade aufladen wollte, kam der Polizeibeamte, der den Lkw des Kollegen stillgelegt hatte, und nahm nun Bernds Tiefladergespann unter die Lupe. Er fand auch etwas. Leichte korrosionsbedingte Verfärbungen am Druckluftbehälter. Stillgelegt wurde der Tieflader nicht. Aber Bernd musste mit zum TÜV. Der TÜV hat ein Gutachten ausgestellt; dem Fahrzeughalter wurde zur Mängelbeseitigung eine Frist von einem Monat eingeräumt. Anschließend durfte Bernd den anderen Lastwagen aufladen und damit zurück in die Firma fahren.

"Eine Anhörung fand nicht statt."

Im Bußgeldbescheid heißt es jetzt: "Sie führten das Kraftfahrzeug bzw. dessen Anhänger, obwohl die Verkehrssicherheit durch den Verstoß gegen eine Vorschrift über Bremsen wesentlich beeinträchtigt wurde." Das soll jetzt 155 Euro kosten, und außerdem winkt ein Punkt. Ich lasse mir von Bernd haarklein erklären, was er denn mit den Beamten besprochen habe. Sie hatten ihm auf jeden Fall den Tatvorwurf mitgeteilt. Sie hatten ihm auch mitgeteilt, dass sie Anzeige erstatten würden und dass ein Bußgeldverfahren eingeleitet werde. Und außerdem, dass er sich warm anziehen solle, das hatte ihm der eine Polizist noch mit auf den Weg gegeben. Ich erkläre Bernd, dass das eine klassische Anhörung war. Wenn diese Anhörung am Tattag stattgefunden hat, dann muss der Bußgeldbescheid innerhalb von drei Monaten zugestellt werden. Weil das nicht der Fall ist, dürfte der Tatvorwurf glasklar verjährt sein. Bernd soll sich keine Sorgen machen, hier gibt es einen formellen Einwand, der auf jeden Fall sticht. Um 20.45 Uhr verlasse ich zusammen mit Bernd die Autobahnkanzlei in Schwegenheim. Ich schließe ab, bringe Bernd noch zum Lastwagen. Den zeigt er mir stolz. Ich schaue mir sein fahrendes Wohnzimmer interessiert an und verabschiede mich.

Am nächsten Tag lege ich gleich schriftlich Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein, fordere die Akte an und harre der Dinge, die da kommen. Und sie kommen. In der Akte findet sich nichts sonderlich Relevantes. Es ist grob das Gespräch mit dem Betroffenen skizziert. Darunter steht: "Eine Anhörung fand nicht statt." Ich mache einen Schriftsatz und rüge, das sei ja wohl reichlich paradox. Wenn ein Gespräch über den Tatvorwurf stattgefunden habe, dann sei das auch eine Anhörung. Eine Antwort bekomme ich darauf nicht. Dafür kommt vier Monate später eine Ladung durch das zuständige Amtsgericht. Ich weise das Amtsgericht noch mal auf das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung hin. Keine Reaktion. Bernd ruft mich eine Woche vor dem Verhandlungstermin an und teilt mir mit, dass er aus Angst vor dem Termin nachts nicht mehr schlafen könne. Ich rufe am nächsten Tag die Richterin an und beantrage die Befreiung von der Anwesenheitspflicht. Die Richterin folgt dem Antrag. Bernd muss nicht mitkommen.

Verfahren weist eine Schwachstelle auf

Das Gericht hat das Argument der Verfolgungsverjährung offensichtlich nicht sonderlich ernst genommen. Es hat nämlich den TÜV-Gutachter und zwei Zeugen geladen. Ich erwarte mit Freude die Zeugenvernehmung. Das mache ich am liebsten, es ist sozusagen das Salz in der Suppe meiner Tätigkeit. Der erste Zeuge meint, er habe das alles nur so am Rande erlebt. Er sei nicht der Anzeigeerstatter. Konkret könne er sich nicht erinnern. Er habe sich die Anzeige auch vorher nicht mehr durchlesen können. Mir rutscht ein "Gott sei Dank" heraus. Ich hasse es, wenn Zeugen das wiedergeben, was sie einen Tag vorher noch gelesen haben. Das hat nichts mit der Erinnerung an das Geschehene zu tun.

Die Richterin macht kurzen Prozess mit diesem Zeugen und schickt ihn nach fünf Minuten nach Hause. Jetzt kommt der Anzeigeerstatter. Der weiß alles ganz genau: Ja, ja, die Bremse, davon gehe er aus, sei sofort repariert worden. "Sonst hätte der ja nicht weiterfahren dürfen." Ich verbitte mir, dass er von meinem Mandanten abwertend als "der" spricht. Er könne von dem "Betroffenen" reden oder meinen Mandanten beim Namen nennen, aber nicht so. Seine Aussage erstreckt sich, was die Bewertung der Qualität des Mangels anbelangt, auf Mutmaßungen. Woher er wisse, dass der Mangel sofort repariert worden sei, möchte ich gern wissen. Er antwortet, dass er davon ausgehe. Ich erkläre dem Gericht, dass ein "Davonausgehen" kein Wissen sei. Das Gericht möge den Zeugen ermahnen, das zu sagen, woran er sich sicher erinnern könne. Das Gericht folgt meiner Anregung. Der Zeuge sagt nun etwas differenzierter aus.

Diese Vernehmung dauert länger und ist erst nach einer halben Stunde beendet. Ich weise das Gericht nun noch einmal auf eine erhebliche Schwachstelle innerhalb dieses Verfahrens hin. Wir verhandelten gerade über eine Sache, bei der eigentlich eine juristische Mauer vor dem Gerichtssaal stehe. Es könne eigentlich gar nicht verhandelt werden. Es gebe ein Verfahrenshindernis, und das heiße Verfolgungsverjährung. Die Richterin meint, wir müssten ihr ihre Rechtsauffassung zu der Frage, wann eine Anhörung vorliege, schon zubilligen. Sie habe da eine andere als wir. Es erfolgt ein juristisches Streitgespräch. Mittlerweile dauert die Verhandlung anderthalb Stunden. Jetzt wird der Gutachter hereingebeten. Er legt Fotos vor, die meiner Meinung nach zeigen, dass, wenn hier überhaupt eine Korrosion vorliegt, dann eine höchst geringfügige. Danach erläutert er wortgewaltig sein Gutachten. Die Richterin will es damit gut sein lassen. Der Verteidigung reicht das nicht aus. Ich stelle noch ein paar Fragen, um dann zur Kernfrage zu kommen: Was war denn eigentlich die Folge dieses Gutachtens? "Na", meint der Gutachter, "der Fahrer durfte weiterfahren, und der Halter musste den Mangel innerhalb eines Monats beseitigen." Ich frage den Gutachter, ob denn Lastwagen weiterbewegt werden dürften, bei denen die Verkehrssicherheit erheblich beeinträchtigt sei. Der Gutachter verneint dies ausdrücklich. Nein, das sei hier nicht so gewesen.

Ich erkläre der Richterin, dass der vorgeworfene Tatbestand damit nicht erfüllt sei. Sie unterbricht die Sitzung. Nach wenigen Minuten kommt sie zurück und verkündet eine Entscheidung. Das Verfahren wird eingestellt. Ich packe meine Siebensachen zusammen und verlasse schweigend den Gerichtssaal. Den Kirmestanz vergeigt, Bernds Nerven belastet – ganz viel Aufwand für etwas, das man vorher hätte aufklären können und das außerdem aufgrund eines Formfehlers gar nicht hätte zur Verhandlung kommen dürfen. In diesem Verfahren hat sich der Rechtsstaat nicht von seiner besten Seite gezeigt.

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
FF 03 2020 Titel
FERNFAHRER 03 / 2020
12. Februar 2020
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