Notbremsassistenten Zu spät erkannt

Foto: Michael Strohmeyer
Meinung

Bereits 2020 habe ich Zweifel daran geäußert, dass Notbremsassistenten die Warnanhänger vor Baustellen rechtzeitig erkennen. Eine niederländische Studie bestätigt es nun.

In den vergangenen Wochen häuften sich einmal mehr die Unfallmeldungen mit den folgenden Schlagzeilen: „Ein Lastwagen ist am Freitagvormittag auf der A9 schwer mit einem Schilderwagen der Autobahnmeisterei zusammengestoßen. Der Unfall ereignete sich kurz vor der Anschlussstelle Leipzig-West in Fahrtrichtung München.“ Ein Lebensmittellaster krachte am 14. Mai am Elzer Berg in einen Warnanhänger und Lkw: Die A3 bleibt stundenlang voll gesperrt. Am Tag zuvor titelte die BILD: „Auch auf der A72 zwischen Stollberg-West und Hartenstein kam es Freitagmorgen gegen 8 Uhr zu einem schweren Unfall. Ein Lkw krachte offenbar fast ungebremst auf einen Schilderwagen der Autobahnmeisterei.“

Eine Frage – sieben unterschiedliche Antworten

Es war vor allem die letzte Meldung, die mich aufhorchen ließ. Die weiße Zugmaschine von Charterway war sichtbar ein Actros mit Mirror Cams und damit wohl mit einem der aktuell modernsten Notbremsassistenten ausgestattet – dem Active Brake Assist (ABA) 5 mit seinem Kamera-Radar-System. Sie erinnerte mich schlagartig daran, dass ich bereits 2020 in meinem Blog-Artikel „Fahren auf Sicht“ erhebliche Zweifel geäußert hatte, dass die jeweils aktuellen Notbremsassistenten der sieben europäischen Hersteller schwerer Nutzfahrzeuge die meist rot-weiß markierten Warnanhänger der Baustellenfahrzeuge der Autobahnmeistereien, die nun zur Autobahn GmbH gehören, rechtzeitig erkennen. Sieben Pressestellen reagierten seinerzeit unterschiedlich.

Gut zwei Jahre und leider viele identische Unfälle später bin ich mehr den je überzeugt: Die Technik mit der auf die Sekunde ausgerechneten Bremskaskade der Notbremsassistenten mit ihrer vorgeschriebenen Warnphase (von 1,4 bis zwei Sekunden je Hersteller) reagiert offenbar erst auf das eigentliche Fahrzeug direkt vor dem Anhänger. Die Vollbremsung setzt dann natürlich zu spät ein – bis zum vorausberechneten Stillstand unter idealen Bedingungen steht der Warnanhänger praktisch im Weg, falls der Fahrer in einem halsbrecherischen Manöver nicht noch das Lenkrad herumreißt. Ein Problem, wie mir eine Sprecherin von Daimler Trucks auf Nachfrage jetzt sagte, ist die Tatsache, dass es erst eine Freigabe der Kunden braucht, damit die eigene Unfallforschung im Fahrzeug selbst ermitteln kann, wie der verbaute Active Brake Assist in diesen Sekunden reagiert hat – und was der Fahrer im Einzelfall tatsächlich getan hat. Die liegt oft nicht vor. Das Problem selbst ist den Herstellern aber grundsätzlich bekannt. Von selbst gehen sie allerdings nicht gerade offensiv in die Aufklärung nach außen.

Neue Erkenntnisse auf dem Zukunftskongress Nutzfahrzeuge

Seit Jahren beobachte ich das Unfallgeschehen auf den deutschen Autobahnen am Stauende auf deutschen Autobahnen und tausche mich dazu mit Dr. Erwin Petersen, dem langjährigen Vizepräsidenten der Landesverkehrswacht Niedersachsen, aus. Ein Ergebnis war auch die 72. Sendung von FERNFAHRER LIVE am 2. Dezember 2021 zum Thema „Die Warnphase im Fokus“ beim Stand von 65 an einem Stauende getöteten Lkw-Fahrern – aus denen bis Jahresende leider 70 geworden sind. Seinerzeit war Petersen als ein Referent beim Kongress geladen – der auf Grund der Corona-Pandemie damals ausfiel. Im Jahr 2022 findet der Kongress am 2. und 3. Juni 2022 statt. Das Thema ist geblieben – die aktive Sicherheit von Nutzfahrzeugen und der Stand der Entwicklung von Notbremsassistenten.

Und so darf ich hier vorab verraten, dass Petersen dort auch Thema Warnanhänger aufgreifen wird. Denn in der kürzlichen abschließenden Sitzung der internationalen Arbeitsgruppe der UNECE-GRVA „AEBS-HDV“ – an der Petersen teilgenommen und mitgewirkt hat, und von der verschiedene Änderungen der ECE-Regelung 131 „Serie 02“ erarbeitet worden sind – wurde auch intensiv über derartige Unfälle von Lkw auf Baustellensicherungen gesprochen. „Die Niederlande“, so verrät Petersen vorab, „haben mithilfe von TNO, einem öffentlichen, aber nicht von der Regierung abhängigen wissenschaftlichen Forschungsinstitut, das auf vielen Gebieten auch außerhalb des Verkehrs wissenschaftlich forscht und veröffentlicht, eine umfangreiche Studie erarbeitet und mögliche alternative Maßnahmen für die bessere Erkennbarkeit solcher Fahrzeuge und Sicherungsmittel aufgezeigt.“ In den Niederlanden, so heißt es darin, ereignen sich fast wöchentlich Unfälle auf Autobahnen, weil Lkw in Baustellen fahren. „Die heute verkauften Lkw müssen mit einem AEB-System ausgestattet sein. Die Zahl der Unfälle ist jedoch nicht nachweisbar zurückgegangen. Eine mögliche Erklärung, die in diesem Bericht weiter untersucht wird, ist, dass das AEB-System die Baustelle nicht erkennen kann und daher nicht aktiviert wird.“

Technische Grenzen

Denn, das habe ich ebenfalls bereits in meinem Blog-Beitrag „Trügerische Sicherheit“ ausführlich beschrieben: Die Notbremsassistenten funktionieren in technischen Grenzen, basierend auf der UN/ECE R131. Die aktuelle gesetzliche Vorgabe seit November 2018, dass sie einen Lkw vor einem stehenden Hindernis lediglich von 80 auf 60 km/h abbremsen müssen, basiert auch nur auf einem leicht zu bestehenden Test. Das Versprechen der aktuell fünf Hersteller Daimler, MAN, Renault, Scania und Volvo, dass ihre Lkw „unter idealen Bedingungen“ auch vor einem Stauende bis zum Stillstand abbremsen können, bleibt daher weiter nur ein Versprechen und muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt vor keiner Instanz belegt werden. Das ginge auch gar nicht, denn keiner der Radarsensoren (hier: Continental und Wabco), der von den Herstellern extern eingekauft wird und mit dem fusionierten Kamerabild zusammen die Straße „beobachtet“, kann derzeit jedwede auftretende Verkehrssituation 100-prozentig berechnen.

Zielfahrzeuge sind genau definiert

Die Warnanhänger mit ihrer filigranen Struktur, das hatte auch bereits die deutsche Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) erkannt, sind demzufolge keine relevanten Hindernisse. Weiter heißt es in der TNO-Studie: „Es sei darauf hingewiesen, dass die derzeitigen Vorschriften für die Typgenehmigung von AEB-Systemen darauf abzielen, Auffahrunfälle auf der Fahrbahn zu verhindern oder deren Schwere zu verringern (-10 / -20 km/h), wenn das Zielfahrzeug als Klasse M (Kraftfahrzeuge zur Personenbeförderung mit mindestens 4 Rädern), N (Kraftfahrzeuge zur Güterbeförderung mit mindestens 4 Rädern) und O (Sattel-Anhänger) spezifiziert ist. Die Zulassung wird anhand einer Prüfung mit einem Standard-Pkw (Limousine) (oder einem repräsentativen weichen Zielfahrzeug) überprüft.“

Das ist etwa so ein genormter Dummy, mit dem FERNFAHRER, MAN und Dekra bereits 2018 auf dem Lausitzring eindrucksvoll belegt haben, dass die richtige Aufklärung für die Fahrer dringend erforderlich ist. „Eine Überprüfung gegen andere Objekte ist nicht vorgeschrieben“, heißt es weiter bei TNO. „Außerdem wird nur eine einzige Prüfbedingung verwendet: eine ebene, trockene Betonfläche, kein Wind, der die Ergebnisse beeinflussen könnte, ein Abstand der Zielscheibe von der Mittellinie von weniger als 0,5 m und eine Geschwindigkeit des geprüften Fahrzeugs von 80 km/h. Ein falsch positiver Test ist in der Zulassungsanforderung enthalten.“

Auch der DVR drängt auf bessere Aufklärung

Nun soll zwar die Warnphase ab 2025 wegfallen. Doch bis alle Fahrzeuge mit der neuen Technik ausgestattet sind, müssen die Fahrer noch viele Jahre mit den teilweise auch noch sehr unterschiedlich arbeitenden Systemen auskommen, mahnte auch DVR-Präsident Walter Eichendorf in der 79. Sendung von FERNFAHRER LIVE und wies dabei eindringlich darauf hin, dass es eine Pflicht zur Unterweisung der Fahrer auf neue Lkw und Techniken gibt. „Der ideale Moment für die erste Unterweisung ist bei der Übergabe des Fahrzeugs,“ so Eichendorf. „Der Moment muss genutzt werden. Die Hersteller sind sogar dafür verantwortlich.“ Ich ergänze es hier um den Punkt, dass die Hersteller bitte auch ihre Kunden und deren Fahrer auf die eingeschränkte Warnung der AEB-Systeme vor den Warnanhängern warnen sollten.

Könnten einfache Radarreflektoren Unfälle verhindern?

„Die TNO hat jetzt mögliche alternative Maßnahmen für die bessere Erkennbarkeit solcher Fahrzeuge und Sicherungsmittel aufgezeigt“, so Petersen. „Eine mögliche Maßnahme ist, die Pfeilanhänger mit einfachen Radarreflektoren zu versehen. Das soll aber wohl auch Nachteile haben.“ Bislang setzt die Autobahn GmbH auf die Zukunft, in der die Warnanhänger mit den herannahenden Fahrzeugen direkt, also Car-to-Car, kommunizieren. sollen. Was noch Jahre bis zur hundertprozentigen Ausstattung dauern wird. Auch der DVR sei an dem Thema der Radarreflektoren als mögliche Zwischenlösung dran, verrät Petersen. „Die Einführung der jetzt in Genf beschlossenen wichtigen Änderungen zur Regelung 131-02 soll durch diese Frage allerdings nicht verzögert werden.“

Immerhin: Unter Leitung der Niederländer in Zusammenarbeit mit den einschlägigen Stellen der europäischen Länder, in Deutschland also der Autobahn GmbH und der Industrie, sollen weitere technische Lösungen zur Verhinderung der Auffahrunfälle mit Warnanhängern erarbeitet und beschlossen werden.

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