Lkw-Unfälle am Stauende Der nachdenkliche Held

Foto: Jan Bergrath

Durch seine beherzte Blitzreaktion hat der 24-jährige Berufskraftfahrer Marvin Reichert auf der A 27 bei Verden eine größere Unfallkatastrophe verhindert. Nun macht sich der verlobte Mann Gedanken, wie lange er unter den Bedingungen auf den deutschen Autobahnen seinen Traumberuf überhaupt noch ausüben will.

Nach menschlichem Ermessen hat der Schutzengel gewirkt. Erst am Samstag zuvor hatte Marvin Reichert, der 24 Jahre alte Berufskraftfahrer des Transportunternehmens Viktor Mehl aus Hünfeld, diese schöne Erinnerung von einem Kind als Beifahrer für einen unvergesslichen Tag in seinem DAF bekommen. Er hat ihn an der Sonnenblende aufgehängt. Am Donnerstag danach, Fronleichnam, zu einem Gespräch auf dem Autohof Fulda-Nord, trägt der Held von der A 27, wie ihn die lokale Presse am Montag nach seiner perfekten Reaktion am Ende eines Staus beschrieben hat, daher noch einmal das rote T-Shirt als einer der „Kindertaxifahrer“ der wunderbaren Initiative „Bewegen mit Herz“.

Video zum Thema
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Wie ein mutiger Lkw-Fahrer Leben rettete

Katastrophe nach Polizeiangaben verhindert

Mit seinem Lastzug hat Marvin wie viele andere Kollegen auch am Konvoi der Aktion „A Happy Day of Life“ rund um Gotha an der A 4 teilgenommen – bevor er Montagfrüh gegen ein Uhr mit Seefracht als Sammelgut Richtung Bremen aufbricht. Dort verhindert er frühmorgens durch eine blitzartige Reaktion nach Schilderung der zuständigen Polizei in einem Video der NWZ Online wohl ein Desaster. Jetzt, wo die Bilder des Geschehens nach und nach die Oberhand über das aktive Handeln vor Ort gewinnen, macht sich Marvin zusammen mit seiner gleichaltrigen Verlobten Nadja Meyer, die gerade ihre Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement abgeschlossen hat, ernsthaft Gedanken, wie lange er seinen Traumberuf unter den aktuellen Zuständen auf den deutschen Autobahnen noch ausüben will.

Immer mit voller Aufmerksamkeit

Sein beiger DAF XF 460 Super Space Cab, den er bei seinem neuen Chef Viktor Mehl aus Hünfeld bereits im letzten Jahr nach dem Firmenwechsel von seinem Ausbildungsbetrieb in Fulda übernommen hat, ist Baujahr 2015 und hat daher noch keinen Notbremsassistenten. Der schwarze Planauflieger von Schmitz Cargobull hatte gut acht Tonnen Sammelgut geladen, darunter auch Fässer mit Gefahrgut. Marvin kennt die Tour. Zweimal die Woche pendelt er aus dem Raum Stuttgart nach Bremen und zurück. „Es ist mein Traumberuf“, erzählt er. Kein Zufall, denn auch sein Vater ist begeisterter Lkw-Fahrer und hat ihn überzeugt, in seiner eigenen Spedition in Fulda von 2011 bis 2014 eine sehr gute Ausbildung zu machen. Die bessere Bezahlung sei der Grund für den Wechsel in die kleine Firma mit sechs Lkw gewesen. „Ich liebe meinen Beruf“, so Marvin. „Ich fahre immer aufmerksam. Keine Ablenkung, kein Telefonat mit dem Smartphone. Nur über die Freisprechanlage. Und ich schaue immer nach vorne.“

Foto: Polizei Verden
Mit einem instinktiven Manöver rettet Marvin Reichert einen Bus voll Schulkinder.

Der lebensrettende Blick in den Rückspiegel

Marvin kennt natürlich die Dauerbaustelle auf der A 27 bei Verden. Lkw bilden hier in der Regel gerade in der Frühe einen Stau. Die linke Spur ist bis zum Reißverschluss vorne meist frei. Als er im Berufsverkehr auf den Stau fährt, überholt ihn noch eben ein Bus. An Bord Jugendliche der neunten Klasse, wie er später erfährt. „Ich habe den Bus per Lichthupe noch reingelassen. Dann habe ich die Warnblinkanlage aktiviert und bin gut 20 Meter hinter dem Bus stehen geblieben.“ Auch ein blauer MAN nähert sich mit Warnblinkanlage dem Stau, auch er hält deutlich Abstand. „Normalerweise schaue ich dann nach vorne, ob es weiter geht. Doch diesmal habe ich noch einmal in den Rückspiegel geschaut. Und dann habe ich einen weiteren Sattelzug gesehen, der mit unverminderter Geschwindigkeit auf den Stau zurast. Ich habe sofort gedacht, der schafft das nicht mehr. Es muss der Schutzengel gewesen sein.“

Ungebremst ins Stauende

Ohne weiter zu überlegen gibt Marvin Gas und beschleunigt den DAF auf die linke Spur. Er hat Glück, dass kein Pkw kommt. Als er mit seinem Fahrerhaus neben dem Heck des Busses vorbei ist, spürt er im Heck schon den Einschlag. Der rumänische Fahrer war da mit seinem blauen Actros Baujahr 2012 bereits ungebremst in den Sattelzug vor ihm eingeschlagen und hatte diesen noch ins Heck von Marvins Auflieger gedrückt. „Ich konnte nicht viel machen“, beschreibt Marvin diesen Augenklick. „Ich wurde mit dem kompletten Zug in die Leitplanke gedrückt.“ Er trägt nur eine leichte Wunde am Ellenbogen davon. „Über Funk habe ich dann sofort die Kollegen vor dem Unfall gewarnt.“ Als er über die Leitplanke auf die Autobahn trat, hatten Pkw-Fahrer offenbar bereits die Rettungskräfte informiert. Marvin nimmt seinen Feuerlöscher. „Die Kabine des Actros war komplett abgerissen, der Fahrer saß daneben. Weil es plötzlich Flammen gab, habe ich das erste kleine Feuer gelöscht. Dann waren auch schon die Einsatzkräfte da. Ich glaube, die Rettungsgasse hat diesmal funktioniert.“

Die Helden sind die Einsatzkräfte

Marvin selbst will gar kein Held sein. „Die eigentlichen Helden sind doch die Einsatzkräfte vor Ort, die fünf Stunden lang in der Hitze alles gegeben haben“, sagt er bei einem Kaffee im Autohof. „Ich habe nur spontan gedacht, wenn ich mit meinem Lkw ins Heck des Busses geschoben werde, dann gibt es eine richtige Katastrophe. Busse fangen doch so leicht Feuer.“ Die Erinnerungen lassen ihn jetzt ein wenig zittern. Seine Verlobte, die erst eine Stunde nach dem Unfall seine Nachricht bekommen hatte, nimmt ihn in den Arm. Es tut ihm gut. Marvin erzählt von „Manni“, dem Fahrer des blauen MAN, den er im Krankenhaus gesprochen hat. Das Lenkrad des MAN hat seinen Bauch schlimm gequetscht, ein Bein ist verletzt. Warum der rumänische Fahrer den Stau übersehen hat, wird derzeit noch ermittelt.

Mit dem Mietauto zurück

Stunden, nachdem sein fahrunfähiger Lkw von einem ortsansässigen Abschleppunternehmen von der Autobahn geholt wurde, geht er von der Polizeistation, die gerade keinen Wagen frei hatte, wie er sagt, zu Fuß die knapp fünf Kilometer dort hin. „Etwas Bewegung“, lacht er, „den Kopf frei kriegen.“ Dort räumt er die Kabine aus. Nach Rücksprache mit seinem Chef bekommt er einen Mietwagen, mit dem er nach Hause fährt. „Ich hätte auch dort bleiben können, aber ich wollte zurück.“ Er holt seine Verlobte ab und fährt mit ihr zu seiner Mutter in den Nachbarort. Vor allem, um sie zu beruhigen. „Mein Vater hätte alles stehen und liegen gelassen, wenn mir etwas passiert wäre“, erzählt Marvin weiter. „Aber er hatte Verständnis, dass ich selber zurück gefahren bin.“ Das anstehende lange Wochenende wollen Marvin und seine Verlobte nun erstmal nutzen, um alles sacken zu lassen – und auch über die Zukunft zu sprechen.

Die Angst vor dem Wahnsinn auf den deutschen Autobahnen

Erst einmal ist geplant, dass Marvin nach einer Zeit der Ruhe vorerst als Springer die Urlaubsvertretung machen soll. „In den alten DAF werde ich mich nicht mehr reinsetzen“, sagt er. Sollte ihn die DAF-Werkstatt Noll in Eichenzell wieder reparieren können, soll der Lkw verkauft werden. „Für mich soll es einen neuen DAF mit allen Sicherheitssystemen geben“. Beim Gespräch darüber, dass, wie es im Fernfahrer 7/2019 zu lesen ist, auch die besten Notbremsassistenten kein Allheilmittel sind, wenn die Fahrer sie jederzeit in Panik vor dem drohenden Crash übersteuern können, kommt er weiter ins Grübeln. Und er denkt zum ersten Mal seit der Ausbildung über mögliche Weiterbildungen nach. „Obwohl ich weiß, dass ich nicht für einen Acht-Stunden-Tag im Büro gemacht bin. Oder vielleicht bekomme ich mehr Touren im Nahverkehr.“ Sein Blick geht zu Nadja. „Wir wollen doch einmal eine Familie gründen.“

Die bisherige Leichtigkeit ist verflogen

Nadja, seine Verlobte, hat er erst ein Jahr zuvor nach dem Kennenlernen zu einem Trucker Festival in Fulda mitgenommen. Ihr gefällt die Szene schon. Auch bei „A Happy Day of Life“ war sie mit dabei. Ein Kollege von Marvin hat sie nach Fulda mitgenommen, als er Richtung Bremen aufgebrochen ist. „Sie kennt natürlich das Risiko, wenn ich im Lkw unterwegs bin“, versichert Marvin. Doch die bisherige Leichtigkeit des Fahrerseins ist verflogen. „Jetzt wissen wir beide, wie schnell es durch so einen Unfall am Stauende vorbei sein kann.“

Die größte Sorge bereitet ihm die zunehmende Rücksichtslosigkeit vor allem der Fahrer aus Osteuropa, die, wie er sagt, unter dem Motto „möglichst billig, billig“ den Freiraum, dass sie bei Abstands- oder Überholverstößen kaum zu fassen sind, immer öfter ausnutzen. „Die Polizei muss hier viel öfter zugreifen“, fordert er, „damit durch stärkere Kontrollen solche Unfälle vielleicht im Vorfeld unterbunden werden können.“ Der Schutzengel, das weiß er genau, wird sicher kein zweites Mal wirken. „Ich bin 24 alt. Ich habe bislang nicht vor, auf der Autobahn zu sterben.“

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