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Sozialdumping einen Riegel vorschieben Politik der Augenklappe beenden

Foto: Johannes Roller, Thomas Küppers, Montage: Oswin Zebrowski
Meinung

Die Politik darf nicht mehr länger wegschauen. Sie muss den Fahrern in Gräfenhausen helfen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, fordert eurotransport-Chefredakteur Matthias Rathmann.

Links das Schaufenster, rechts die Schmuddelecke. Hier fährt die Zukunft vor, dort liegen die Probleme. Das südhessische Gräfenhausen ist der Ort der Kontraste: Auf der benachbarten A5 verkehren Oberleitungs-Lkw – quasi als Ausdruck einer erfolgreich gestalteten Antriebswende. Und auf den Parkplätzen Gräfenhausen West und Ost spielen sich Szenen ab, die lieber niemand sehen sollte – weil sie wenig zuträglich sind für den Standort, für das Bild Deutschlands in der Welt und natürlich für das Ansehen der Logistik insgesamt. Mehr als 100 Fernfahrer aus Osteuropa, Vorder- und Zentralasien sitzen dort fest. Ihr Streik geht in die nunmehr siebte Woche.

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Und die Verantwortlichen in Deutschland? Tragen sie alle Augenklappen wie in diesen Tagen Kanzler Olaf Scholz nach einem Sturz? Zugegeben, Häme und Polemik lösen das Problem nicht, doch hat die Augenklappe nicht auch eine gewisse Symbolik? Es hat den Anschein, als wollten die politisch Verantwortlichen in Brüssel und Berlin lieber wegschauen. Aber durch Ausblenden löst sich die prekäre Lage der Fahrer nicht. Und wie so häufig – zum Beispiel auch im Umgang mit Flüchtlingen – bleibt die Lage nur beherrschbar, weil sich unzählige Ehrenamtliche in ihrer Freizeit selbstlos aufopfern. Alle helfen mit, um die gebeutelten Fahrer zu versorgen – ob mit Nahrung oder Medikamenten.

EU-Mobilitätspaket nur ein stumpfes Schwert

Doch so grenzenlos die Solidarität ist, so offenkundig ist die Überforderung des Staates oder vielmehr der Staatengemeinschaft. Die EU-Kommission hatte das Mobilitätspaket geschnürt, um Fahrer vor Ausbeutung zu schützen. Sie sollten ihre wöchentliche Ruhezeit außerhalb des Fahrzeugs verbringen und nach vier Wochen in ihre Heimatländer zurückkehren dürfen. Firmen wiederum wurden dazu verpflichtet, ihre Lkw alle acht Wochen in das Land ihrer Niederlassung zu disponieren. Bei Nichteinhaltung drohen Konsequenzen. Es gibt also Gesetze, doch in der Praxis entpuppt sich das Mobilitätspaket als stumpfes Schwert. Es hat weder einen ruinösen Wettbewerb noch ein Nomadentum verhindert.

Das zeigt: Es herrscht akuter Handlungsbedarf, die Dinge hier nachzubessern – durch entschlosseneres Vorgehen der Behörden, eine bessere Koordination und Vernetzung sowie drastischere Bußgelder, die keiner mehr aus der Portokasse zahlen kann. Es gilt, dubiosen Organisationen, deren Geschäftsmodelle auf Ausbeutung fußen, schnellstmöglich das Handwerk zu legen. Wer Mitarbeiter mit falschen Versprechungen ködert, ihnen das Ersparte als Eintrittskarte für den neuen – vermeintlich lukrativen – Job abluchst, sie Verträge in unverständlicher Sprache unterschreiben lässt und sie in Not und Abhängigkeit stürzt, ist als Unternehmer untragbar.

Leidtragende sind die seriös arbeitenden Firmen

Ein schnelles und beherztes Durchgreifen ist im Sinne der gebeutelten Mitarbeiter dringend geboten. Es ist aber auch im Sinne der Branche unerlässlich. Leidtragende sind all diejenigen seriösen Unternehmen, die sich an Recht und Gesetz halten und die bei ihrem Handeln auch an morgen denken – also die ganz überwiegende Mehrheit der Betriebe. Sie stehen im Wettbewerb zu den Dumpinganbietern und müssen sich gegenüber ihren Kunden für ihre Kostenstrukturen rechtfertigen.

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Erst vor wenigen Wochen hatten die Fraktionen der Ampel-Regierung ein Papier mit dem Titel „Transportlogistik für Deutschland sichern – mit fairen Arbeits- und Wettbewerbsbedingungen im Straßengüterverkehr“ verabschiedet. Die Bekämpfung wettbewerbsverzerrender und unfairer Arbeitsbedingungen stand an erster Stelle. Es ist höchste Zeit, diesen Plänen nun Taten folgen zu lassen. Sonst leidet die Glaubwürdigkeit massiv, und das schöne Schaufenster bekommt Risse.

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