Sisu Polar 900 Hybrid mit 900 PS Extrapower aus dem Elektromotor

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In Finnland dürfen Lkw knapp 80 Tonnen wiegen. Dank Hybridtechnik kommt dieser bärenstarke Sisu problemlos damit klar.

Der Finne Jari Halinen fährt einen smarten 900-PS-Truck. FERNFAHRER besuchte den Transportunternehmer, der von seinem Kraftpaket rundum begeistert ist. "Du musst natürlich viel Gefühl im Finger haben!", sagt Jari Halinen schmunzelnd, als er mit seinem Daumen den fragil wirkenden blauen Knopf – ein Potenziometer – oben auf dem Gangstock vor und zurück schiebt, immer wieder im schnellen Wechsel. Im Takt beginnt sein Gespann zu schaukeln, ohne dass sich das Geräuschniveau des Motors verändert. Der Sechszylinder tuckert gemächlich im Leerlauf bei 600 Umdrehungen.

Die Freischaukel-Funktion ist das erste "Kunststück" seines neuen Trucks. Bei dem Neuen handelt es sich um einen Sisu Polar 900 Hybrid, ein erstaunliches Fahrzeug, das sicher auch einem Großserienhersteller gut zu Gesicht stehen würde. Das äußert sich laut Halinen auch im "großen Interesse" seiner Kollegen, die mit Scania- und Volvo-Fahrzeugen im Wald arbeiten.

Kunde und Praxistester

Für den Kleinserienhersteller Sisu ist Halinen mehr als nur ein Kunde. Er ist auch als Praxistester unterwegs und hat den 900-PS-Truck daher lange vor dessen Markteinführung erhalten, um ihn gemeinsam mit den Sisu-Ingenieuren zu testen und marktreif zu machen. Auf die Frage, ob das Hybridsystem samt der erforderlichen IT-Steuerungstechnik zugekauft und im Hause adaptiert wurde oder eine komplette Eigenentwicklung darstelle, lacht der junge Petri Kananen, Business Director Sisu Polar: "Wir haben drei Ingenieure, die sich damit intensiv beschäftigt haben. That’s it!" Drei Jahre lang hat das Trio an dem Konzept gefeilt, ehe der Praxistest gemeinsam mit Jari Halinen beginnen konnte.

Zwei Superkondensatoren als Energiespeicher

Zugekauft wird für das Hybridmodell ein Elektrobauteil, das Motor und Generator in einem ist und sowohl mit rekuperierter Energie arbeitet als auch vom Dieselmotor gespeist werden kann. Die Betriebsspannung beträgt 750 Volt. Als Energiespeicher für den E-Motor fungieren zwei Superkondensatoren, die hinter der Kabinenrückwand montiert werden. Die beiden Bauteile werden von Danfoss kombiniert und "ready to use" nach Karjaa geliefert. Die restlichen Komponenten sind, wie bei Sisu üblich, entweder hausgemacht – zum Beispiel Achsen und Rahmen, alles in massiver Ausführung – oder kommen von Daimler (Kabine und Motor). Nach Auskunft von Kananen sind die Kondensatoren sowohl wartungsfrei als auch extrem langlebig: "Normalerweise müssen die im Verlauf eines Lkw-Lebens nicht getauscht werden." Mit den Superkondensatoren kann die maximale Zusatzleistung von 200 kW 21 Sekunden lang abgerufen werden.

Begnügt man sich mit weniger E-Power, reicht die Speicherkapazität zwei Minuten, ehe wieder geladen werden muss. "Das Laden dauert aber nur ebenso lange wie die Entladung. Das heißt, dass die Speicher im besten Fall nach nicht einmal einer halben Minute wieder voll sind", erläutert der Sisu-Manager. Wie es um den jeweils aktuellen Arbeits- und Beladezustand bestellt ist, sieht der Fahrer auf einem zusätzlichen Display, das oben auf dem Armaturenträger sitzt und übersichtlich die wichtigsten Informationen anzeigt.

Die kleine Entwicklertruppe hat in den Hybrid einige clevere Features integriert, zum Beispiel die erwähnte Freischaukel-Funktion, die im Hybrid sinnigerweise nur mit dem E-Motor arbeitet, der sofort sein volles Drehmoment an die Räder liefert. Der Generator ist im Antriebsstrang zwischen Motor und Getriebe montiert, die Kupplung zwischen den beiden Motoren. Für den konventionellen Vortrieb sorgt der bekannte Mercedes-Reihensechszylinder OM 473 mit 625 PS und 3.000 Nm Drehmoment.

Finnische Fahrer bevorzugen Schaltgetriebe

Die Gänge schaltet Halinen manuell, was nach Auskunft von Petri Kananen zwei Gründe hat: "Hier in Finnland bevorzugen viele Fahrer, die mit den Timber-Trucks oder einem Kipper unterwegs sind, angesichts der oft extremen Topografie und der hohen Gesamtgewichte ein Schaltgetriebe. Damit fühlen sie sich vor allem im Winter auf den ungeräumten und meist vereisten Waldwegen sicherer. Darüber hinaus verkraftet das Eaton Fuller RTLO 22918B das extreme Drehmoment besser als die üblicherweise verbaute Powershift-Version."

Das unsynchronisierte Getriebe verfügt über 18 + 4 Gänge und ist für Halinen die beste Wahl. Beim Kick-down steht sofort das maximale Drehmoment von insgesamt 3.600 Nm zur Verfügung, wobei der Elektroantrieb solo im Höchstfall 1.500 Nm in den Antriebsstrang einspeisen kann. Der E-Motor lässt sich auch als Retarder mit hoher Bremswirkung nutzen, wobei die Rekuperation auch läuft, wenn das Fahrzeug mit der Betriebs- oder Motorbremse verzögert wird, weil das System dabei zuerst den Generator aktiviert. Sowohl Retarder als auch Motorbremse lassen sich in drei Stufen justieren. Auch beim Anfahren verlässt sich Halinen jetzt meist auf den E-Motor: "Du trittst auf die Kupplung, fährst sanft mit E-Power los, und wenn sich der Truck in Bewegung setzt, nimmst du den Motor mit dem vorgewählten Gang dazu. Das klappt auch im Wald bestens." Und es passiert ebenso wie das Freischaukeln ohne Kupplungsverschleiß.

Ein weiterer Pluspunkt ist der positive Effekt beim Laden und Entladen der Baumstämme: "Wenn ich mit dem Kran arbeite, lässt der E-Motor den Diesel mit konstanter Drehzahl laufen, was gut für den Treibstoffverbrauch ist und zudem dafür sorgt, dass auch die Hydraulikpumpe gleichmäßig arbeitet und damit der Arbeitsdruck im System konstant bleibt." Das funktioniert, weil der Nebenabtrieb vom E-Motor betrieben wird und der die Leistungsspitzen abdeckt. Ist nur wenig Pumpleistung gefordert, lädt der Motor die Kondensatoren. Der E-Antrieb arbeitet automatisch mit, wenn der Fahrer den Tempomaten aktiviert. Eine Motorleistung von 900 PS mag sich für mitteleuropäische Ohren zunächst einmal viel zu üppig und unnötig hoch anhören, auch wenn der Höchstwert nicht über längere Zeit verfügbar ist. Allerdings gelten in Skandinavien ganz andere Gewichtslimits als im südlicheren Rest Europas. Seit einigen Jahren liegt das erlaubte Maximum in Finnland bei 76 Tonnen. Dabei verhält es sich ähnlich wie überall auf der Welt mit der Höchstgeschwindigkeit: Man reizt ja vielleicht nicht nur den auf dem Papier erlaubten Grenzwert aus, sondern rechnet immer auch die jeweilige Toleranzgrenze der Ordnungshüter mit ein.

81 Tonnen, verteilt auf neun Achsen

Beim Gewicht beträgt die in Finnland fünf Prozent, bei einem 76-Tonnen-Zug also 3,8 Tonnen – womit de facto alle Lkw, die schwere Ladungen transportieren, mit knapp 80 Tonnen Gesamtgewicht unterwegs sind. Jari Halinen und seine Hybrid-Kollegen profitieren seit Kurzem zusätzlich von einer Tonne extra, die der Gesetzgeber spendiert, wenn Lastwagen mit innovativen Technologien wie dem Hybridantrieb ausgerüstet sind. Das soll die Nutzlastnachteile ausgleichen. In der Summe ergibt das ein realistisches semilegales Gesamtgewicht von maximal 81 Tonnen, die sich auf die vorgeschriebenen neun Achsen verteilen.

Für die Transporteure bedeuteten die neuen Limits zunächst eine Verbesserung der Rendite. Wer schwere Ladungen fährt, kann trotz der höheren variablen Kosten, beispielsweise für Reifen und Bremsen, ein Plus erwirtschaften. Inzwischen, sagt Halinen, sei der Vorteil perdu: "Die großen Verlader haben die Preise so gedrückt, dass wir im Vergleich zu früher auch keinen Vorteil mehr haben." Die Branche besteht traditionell aus vielen kleinen Unternehmen, die sich nur schwer gegen die geballte Marktmacht der Großbetriebe wehren können. Was wiederum ein Grund dafür sein könnte, sich den Kauf der bärenstarken Hybridversion zu überlegen.

Im Moment – das geben sowohl Halinen als auch Verkaufsdirektor Kananen zu – lässt sich der Mehrpreis von rund 42.000 Euro gegenüber einem ansonsten identischen Baumuster mit 625-PS-Motor kaum zurückerwirtschaften; wer sich zum Kauf des Hybrid-Trucks entschließt, muss folglich noch mit anderen Faktoren kalkulieren. Der Return on Investment besteht neben deutlich geringeren Verbrauchswerten vor allem in einem Imagegewinn, an dem auch die großen Holzkonzerne wie UPM interessiert sind: "Die machen ja viel, um ihr Ansehen zu verbessern, es geht immer auch um den CO2-Footprint und solche Sachen", erklärt der Transporteur. Deshalb sei es den Verladern nicht völlig egal, mit welchem Equipment ihre Aufträge abgearbeitet werden. Auch ein Transportunternehmen könne sich mit einem derartigen Truck als fortschrittlich präsentieren und so von den Konkurrenten abheben. Den jenseits dieser weichen Faktoren in Euro und Cent ermittelbaren Vorteil des Hybrid-Lkw beziffert Halinen im Moment auf einen Minderverbrauch von vier Liter Treibstoff pro 100 Kilometer Fahrtstrecke, es soll aber noch besser werden: "Nach meiner Erfahrung erreicht ein Motor erst bei rund 70.000 bis 100.000 gefahrenen Kilometern seinen Bestwert. Das neue Fahrzeug hat aber erst gut 54.000 Kilometer auf dem Tacho."

Beim Vorgänger lag der Verbrauch nach der Einlaufphase bei 64 bis 65 Litern, mit dem Hybrid benötigt Halinen aktuell zwischen 60 und 61 Litern, jeweils gemessen im Winter. Mit Winterdiesel im Tank steigt der Verbrauch um einige Prozentpunkte; in der Summe mit dem oft erhöhten Rollwiderstand gilt in Finnland ein Winterplus zwischen fünf und zehn Prozent als üblich. Eingerechnet ist dabei der komplette Arbeitszyklus mit einem hohen Anteil an Kranarbeiten und den Offroadstrecken zu den Holzlagerplätzen, die oft kilometerweit im Wald versteckt sind. Die Nutzlast beträgt beim neunachsigen Zug um die 50 Tonnen.

Hybrid braucht Übung

Wie lange braucht man, um den Hybrid-Truck wirklich zu beherrschen und seine Vorteile optimal auszunutzen? Diese Frage quittiert Jari Halinen mit einem Schmunzeln: "Mindestens ein halbes Jahr", meint der Finne. Und dann, ernster: "Du musst natürlich in der Lage sein, die Straße zu lesen, um zu erkennen, an welchem Punkt du mit dem E-Motor nachhelfen und damit den Verbrauch reduzieren kannst." Aber das ist genau die Herausforderung, die der Unternehmer sucht: "Ich mag es, ein Fahrzeug zu testen und zu probieren, was man noch besser machen kann. Am liebsten würde ich nichts anderes tun." Wenige Sekunden später sitzt er lächelnd hinter dem Lenkrad und schiebt das Potenziometer nach vorne – es sind noch viele Baumstämme, die er in dieser Schicht abholen muss.

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
FF 01 2020 Titel
FERNFAHRER 01 / 2020
7. Dezember 2019
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