Wartezeit an der Rampe Theorie und Praxis

Mathias Mertens, Harry Binhammer, Fachanwalt für Arbeitsrecht (rechts) Foto: Jan Bergrath

Ein Fahrer bekommt kurz hintereinander drei Abmahnungen, weil er sich beim Warten auf eine Ladung an das Arbeitszeitgesetz halten will. Er klagt gegen das Unternehmen und gewinnt in erster Instanz vor dem Arbeitsgericht.

Das Thema Laderampe kommt nicht zur Ruhe. Eine aktuelle Studie des Bundesamtes für Güterverkehr, BAG, bringt wieder einmal erstaunliche Erkenntnisse ans Licht: Während Rampenbetreiber die aktuelle Situation an der Laderampe durchaus positiv bewerten, stellt sie für Transportunternehmen nach wie vor eine Herausforderung mit negativen Vorzeichen dar. Heißt, es klappt oft nicht so, wie geplant, trotz Zeitfensterbuchung. Mit anderen Worten – ausbaden müssen es am Ende dann vielfach die Lkw-Fahrer.

Zehn Stunden am Tag

Und das geht so: Die tägliche Arbeitszeit des Lkw-Fahrers ist hierzulande durch das feine Zusammenspiel von Paragraf 21a des deutschen Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) und den Lenk- und Ruhezeiten aus der EU-Verordnung 561/2006 begrenzt, und zwar auf zehn Stunden am Tag. Macht im Mittel von vier Monaten im Schnitt 48 Stunden pro Woche aus – oder 208 Stunden im Monat. Das ist die in den Tarifverträgen der Transportbranche zugelassene Höchstarbeitszeit pro Monat. Das sollte dann auch so im Arbeitsvertrag stehen. In vielen Tarifverträgen zwischen der Gewerkschaft Verdi und den Landesverbänden der Arbeitgeber ist zudem eine weitere Bereitschaftszeit vereinbart, so dass die Arbeits- und Bereitschaftszeit der Fahrer bis maximal 244 Stunden betragen kann. Selbstverständlich von der ersten bis zur letzten Minute bezahlt. Jedenfalls auf dem Papier. In der rauen Wirklichkeit der Logistik ist Bereitschaftszeit ihrer Fahrer jedoch oft der Puffer, den die Transportunternehmer überhaupt noch haben, um die Marktmacht der Verlader oder Warenempfänger an der Rampe halbwegs auszugleichen.

Viele Fahrer stellen den Tacho auf Pause

Die einfachste Möglichkeit, aus diesem Dilemma herauszukommen, ist anscheinend der Betrug. Viele Fahrer stellen in der Wartezeit oder, noch schlimmer, beim Abladen ihren Tacho auf Pause. Manche auf Druck der Arbeitgeber. Das ist ein klarer Verstoß gegen die Sozialvorschriften. "Viele Fahrer schneiden sich dadurch zudem ins eigene Fleisch", sagt der Fachanwalt für Arbeitsrecht, Harry Binhammer. Denn kommt es zum Streit mit dem Chef und zur Kündigung, und der Fahrer fordert, was im Gewerbe offenbar Usus ist, nachträglich die Bezahlung von Überstunden ein, dann kann er sie schlicht nicht nachweisen. Andererseits scheint es in der Transportbranche ebenso üblich zu sein, dass viele pauschale Arbeitsverträge immer noch die Zeit, die ein Fahrer für seinen Lohn arbeiten muss, nicht genau ausweisen, obwohl dies das sogenannte Nachweisgesetz verlangt. Die Bereitschaftszeit ist dann quasi der Joker. Bei vielen Arbeitsverträgen, die zwar einen pauschalen Lohn aber eben keine genaue Arbeitszeit ausweisen, ist sie, traurig aber wahr, mit eingerechnet. Und so beschweren sich viele Fahrer immer wieder, dass sie im Monat auf bis zu 260 Stunden Arbeit kommen. Wenn der clevere Unternehmer dann für die Wartezeit seines Lkw auch noch Standgeld bekommt lacht er sich doppelt ins Fäustchen.

Was ist eigentlich Bereitschaftszeit?

Über die Frage, was denn nun im Rahmen der Wartezeit auf eine Be- oder Entladung ganz konkret Arbeitszeit, Bereitschaftszeit oder sogar Pause ist, gibt es bei den Beteiligten der Logistikkette viele unterschiedliche Auslegungen, denn die entsprechenden Formulierungen im ArbZG bieten Raum für Interpretationen. Zuletzt hat das Dezernat 55, der technische Arbeitsschutz der Bezirksregierung Köln, eine sehr leicht verständliche grafische Darstellung  der Problematik veröffentlicht. Sie dreht sich letzten Endes um die Frage, ob dem Fahrer vorher bekannt war, wie lange er warten muss. Auch das, so zeigt die Praxis, ist mitunter reine Auslegungssache.

Im Konflikt mit dem Arbeitszeitgesetz

Und so gibt es immer wieder Fahrer, die hier in einen Konflikt geraten – wenn sie sich ans Arbeitszeitgesetz halten wollen. So wie Mathias Mertens aus Eschweiler. Er ist Mitglied bei Verdi. Seit 1979 fährt er Lkw, in den letzten Jahren für ein traditionsreiches tarifgebundenes Transportunternehmen aus dem Raum Aachen. Nie hat er in seinem bisherigen Berufsleben eine Abmahnung bekommen, im vergangenen Sommer gleich vier, eine davon betraf eine angebliche Schuld bei der Verladung von Glas. Die spielt hier keine Rolle. Dreimal jedoch mahnte ihn seine Firma ab, weil er den Tacho anders eingestellt habe, als ihm die Disposition vorgegeben hat. Und jedes Mal ging es um die Frage, ob er sich bewusst gegen eine klare Dienstanweisung gestellt habe. Doch Mathias ließ sich das nicht gefallen. Er suchte Rat bei Rechtsanwalt Binhammer und klagte. Der Gütetermin Anfang des Jahres scheiterte. Mathias wollte ein Urteil. Auch um zu wissen, ob nicht doch das Arbeitszeitgesetz für ihn bindend ist. Denn Mathias argumentiert, dass er vor Ort unter den vom ihm geschilderten Bedingungen gar keine wirkliche Pause machen konnte. Also warten musste.

Überraschung im Gerichtsverfahren

Am 16. Februar kam es zur mündlichen Verhandlung. Und die begann – jedenfalls für die Insider - gleich mit einer Überraschung. Der Disponent kann den Fahrer anweisen, den Tacho auf Pause zu stellen, so die Richterin, die zuvor betonte, dass das Verfahren grundsätzlich arbeitsrechtlich nicht spannend und jeder Fall einzeln zu prüfen sei. Und solange sich hinter der Weisung kein Verstoß verbirgt, muss sich der Fahrer daran halten. Das heißt: Wenn der Disponent etwa schreibt, du hast einen Ladetermin um 16.30 Uhr, dann kann der Fahrer zwar jede Stunde vor Ort nachfragen, ob die Ladung vielleicht früher fertig ist, aber er kann daraus nicht ableiten, dass ihm – vonseiten des Werks – nicht gesagt wurde, wie lange er warten muss. Selbst wenn der Fahrer aus Erfahrung weiß, dass es in diesem Werk nie verlässliche Termine gibt.

Das macht einerseits Sinn. Wenn die Disposition erkennt, dass sich ein Ladetermin soweit verzögert, dass der Fahrer besser seine Pause nimmt statt während einer Bereitschaft Zeit zu verlieren, kann sie das im Einzelfall entscheiden. So kann etwa die elfstündige Pause auch gesplittet werden – und der Fahrer macht vor Ort drei Stunden Pause statt zu warten. Doch dieser angeordnete Dienst nach Vorschrift hat für den Unternehmer unter Umständen einen gewaltigen Nachteil. Denn in seiner Pause kann der Fahrer über seine Zeit frei verfügen, in letzter Konsequenz bedeutet es, der Fahrer stellt den Lkw vor dem Werk ab, schaltet sein Diensthandy aus und ist in dieser Zeit auch für den Disponenten nicht mehr zu erreichen – falls sich doch wieder etwas ändert. In der Praxis ist das natürlich schwer durchzusetzen. Es sei denn, ein Fahrer hat Nerven wie Drahtseile.

Das Urteil – und seine Begründung

Schließlich folgt ein paar Tage nach der Verhandlung das Urteil (AZ: 4 Ca 3123/15) des Arbeitsgerichts Aachen. Das Unternehmen muss alle vier Abmahnungen zurücknehmen, in der ersten Instanz ist das Verfahren gewonnen. Die schriftliche Urteilsbegründung folgt später – und sie ist im Sinne der Wahrheitsfindung nicht ganz zufriedenstellend. "Die Abmahnungen scheitern zum Teil schon aus dem Grund, dass Sie nicht formell richtig sind beziehungsweise die Tatsachen nicht richtig wiedergegeben wurden", so Binhammer. Nur ein Beispiel: Das Unternehmen hatte Mathias abgemahnt, weil er den Tacho statt auf Pause auf Arbeit stehen hatte. Doch vor Gericht konnte Mathias anhand einer eigenen Auswertesoftware der Richterin belegen, dass sein Tacho in der maßgeblichen Zeit sehr wohl mehrmals auf Pause stand. Und somit ist die Abmahnung schlicht falsch formuliert. "Insofern hat es sich das Gericht etwas einfach gemacht und die Abmahnungen deswegen scheitern lassen", so Binhammer. "Ob sie aus anderen Gründen unwirksam wären, hat das Gericht nicht beurteilt."

Eigene Auslesesoftware bringt die Entscheidung

Was lernen wir daraus? Eine eigene Auslesesoftware kann für einen Fahrer durchaus sehr nützlich sein, etwa auch, siehe oben, um seine eigenen, korrekt aufgezeichneten Stunden zu belegen. Ganz abgesehen davon, dass Mathias in einem Zug der Richterin eindrücklich belegen konnte, dass die betreffende Tour von Süditalien nach Frankreich in der von der Disposition vorgegebenen Zeit legal nicht machbar gewesen wäre. Was zwar, da vor dem Arbeitsgericht immer nur zur Sache verhandelt wird, keinen unmittelbaren Einfluss auf das Urteil haben darf, aber das vom gegnerischen Anwalt immer wieder betonte Bild von der stets korrekten tarifgebundenen Firma etwas in ein anderes Licht stellt.

Abmahnungen für nachgewiesenes Fehlverhalten

Eine Abmahnung ist ein Warnschuss des Arbeitgebers, quasi die gelbe Karte. Das Arbeitsrecht hält Arbeitgeber dazu an, bei einem Verstoß gegen vertragliche Pflichten nicht sofort zur Kündigung zu greifen, sondern das mildere Mittel zu wählen und den Mitarbeiter zunächst zu warnen. Abmahnungen finden jedoch Eingang in die Personalakte und können bei späteren gerichtlichen Auseinandersetzungen eine entscheidende Rolle spielen. Ihnen liegt normalerweise ein nachgewiesenes Fehlverhalten zu Grunde. Im Straßengütertransport ist das, wie im Fall Mertens, mitunter heikel. Denn laut der Klageerwiderung wurde er ja regelmäßig im korrekten Umgang mit dem digitalen Tacho geschult. Doch es gibt schriftliche Belege, dass das Unternehmen über Jahre mindestens geduldet hat, dass eine tägliche Arbeitszeit von 12 Stunden möglich war. Das nennt man Organisationsverschulden. Erst durch einen Besuch des Arbeitsschutzes wurde dieses Fehlverhalten im vergangenen Jahr abgestellt - auf legale zehn Stunden am Tag. In diesem Zusammenhang einen Fahrer, der sich bei der Wartezeit an das Arbeitszeitgesetz halten möchte, so wie er es versteht, abzumahnen, ist schon fragwürdig.

Was ist die Konsequenz?

Eine Abmahnung muss zeitnah erteilt werden, um eine Verhaltensänderung zu bewirken. Seit den drei Vorfällen, die Mertens zum Vorwurf gemacht werden, ist nun ein Dreivierteljahr vergangen. Das Unternehmen hat natürlich die Möglichkeit, in Berufung zu gehen. Die Frist läuft am 18. April ab. "Sollte tatsächlich ein Fehlverhalten vorliegen, kann dies immer noch abgemahnt werden", so Binhammer. "Die muss dann halt denn genauen Verstoß bezeichnen und nicht so fehlerhaft wie die vier ersten sein." So kann die erste Abmahnung "wiederholt" werden, insoweit  die Zeiten genau definiert sind. Pause zwischen Anmeldung und Beladung, wie vom Disponent angewiesen. Nur: anders als geplant hat sich an diesem Freitag die Entladung am Morgen verzögert. Eine Ruhezeit ist nur dann korrekt, wenn sie in voller Länge genommen wird. Dann hätte Mathias bestenfalls am späten Nachmittag zum ersten Mal nachfragen können, was mit der Beladung ist. Im schlimmsten Fall, wenn das Werk bereits geschlossen hat. Hat er nicht gemacht, sondern eben im Sinne der Firma versucht, die Ladung zu bekommen. Dafür hat er sich die ganze Zeit bereit gehalten.

Mathias hat sich durchaus auf ein weiteres Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht eingestellt, denn im Grunde ist er mit der halben Wahrheit nicht glücklich. Der ganze Vorgang vermittelt auch eher den Eindruck, dass hier ein unliebsamer Fahrer, der sich an das Arbeitszeitgesetz halten wollte, aus dem Unternehmen gedrängt werden soll. Noch ist Mathias krankgeschrieben, es wird dann sicher interessant, wie er behandelt wird, wenn er wieder mit dem Lkw unterwegs ist und es bei dem vorliegenden Urteil bleibt. Er hat sich auf alle Fälle vorgenommen, sich weiter an das Arbeitszeitgesetz zu halten. Und das bedeutet in diesem Fall: Nur wenn die Wartezeit im Voraus bekannt ist, zählt sie als Bereitschaftszeit. Ist sie nicht bekannt, ist sie Arbeitszeit. "Damit sich in der Transportbranche endlich etwas grundlegend ändert, müssten allerdings noch viel mehr Fahrer den Mut dazu haben", so Binhammer. Dann kommt vielleicht eines Tages auch das Thema Laderampe zur Ruhe.

Terminhinweis:

Am Mittwoch, dem 4. Mai 2016, ist der Fachanwalt für Arbeitsrecht, Harry Binhammer, ab 19 Uhr zu Gast beim beliebten Fernfahrer-Stammtisch der Autobahnpolizei Köln auf der Raststätte Aachener Land Süd an der A 4 und beantwortet grundsätzliche Fragen zum Thema Arbeitsrecht.

 Weitere Termine finden Sie in unserer Terminübersicht.

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