Streik in Gräfenhausen: Gefangen im Spinnennetz

Sieben Wochen Fahrerstreik in Gräfenhausen
Gefangen im Spinnennetz

Edwin Atema ist Verhandlungsführer der streikenden Lkw-Fahrer in Gräfenhausen. Er beschreibt im Gespräch mit der Fachzeitschrift trans aktuell die Situation der Betroffenen, die seit Monaten auf ihr Geld warten.

Gefangen im Spinnennetz
Foto: Johannes Roller
trans aktuell: Herr Atema, wie stellt sich die Situation in Gräfenhausen aktuell dar?

Atema: Das Ganze gleicht schon fast einem Krieg. Die Fahrer haben ihn nicht begonnen, müssen sich aber mit allen Kräften gegen die haarsträubenden Anschuldigungen verteidigen.

Sind die Fahrer vor Ort versorgt – was zum Beispiel Essen und sanitäre Einrichtungen angeht?

Gott sei Dank gibt es eine sehr große Solidarität mit den Fahrern. DGB und Verdi machen einen tollen Job und sind jeden Tag vor Ort. Die medizinische Versorgung ist gewährleistet, der Notarzt war vor Ort, sonst wäre wohl schon ein Fahrer gestorben. Die Kirche hilft bei der Essensversorgung, die Stadt Darmstadt hat Duschmöglichkeiten organisiert.

Jana Bronsch
Verhandlungsführer Edwin Atema: Seit Wochen lebt und nächtigt der Gewerkschafter in Gräfenhausen, wo er täglich mit den dortigen Fahrern im Austausch steht.
Haben die Fahrer nach mehr als sechs Wochen Streik noch genügend Energie, um zu kämpfen?

Der Fahrerstreik in Gräfenhausen ist der längste Streik, den wir im europäischen Güterverkehr je hatten. Die Fahrer sind nach Woche sechs verständlicherweise sehr müde, aber es ist noch genügend Energie da. Für viele Fahrer gibt es keine andere Option: Wenn man hart gearbeitet hat, Familie zu Hause hat und das Geld braucht, kann man nicht einfach weglaufen, sondern muss kämpfen. Doch der Gegner bemüht sich nicht um eine Lösung, sondern führt die Fahrer vor und stellt sie als Geiseln zur Schau. Dabei hätten wir in Europa Gesetze, um Sozialdumping einen Riegel vorzuschieben.

Aber?

In der Praxis unterschreiben Fahrer Dokumente, die sie nicht verstehen. Sie werden in ihren Fahrzeugen isoliert und wirtschaftlich abhängig gemacht. Die ersten Monate arbeiten sie komplett ohne Lohn. Sie sind gefangen im Spinnennetz.

Sie waren bereits beim ersten großen Streik in Gräfenhausen im April der Verhandlungsführer der Fahrer. Hätten Sie damit gerechnet, dass es eine zweite, größere Streikwelle geben würde?

Der zweite Streik kam nicht überraschend. Denn die Firmen haben ihre Geschäftsmodelle nicht geändert. Die Fahrer des ersten Streiks fahren nicht mehr für Mazur. Aber es kommen neue nach, und die Dinge sprechen sich unter den Fahrern herum.

Wo kommen die Fahrer, die nun in Gräfenhausen streiken, her?

Der größte Teil der Fahrer stammt aus Georgien und Usbekistan, weitere aus Kasachstan, Tadschikistan, einige kommen aus der Ukraine und Türkei. Wir sprechen russisch mit ihnen und haben dafür russischsprachige Mitarbeiter und Übersetzer. Die Fahrer können also immer ihre Landessprache sprechen.

Eine Lösung des Konflikts kann nur mit Lukasz Mazur erfolgen. Doch wie gehen Sie vor, wenn er alle Gespräche verweigert?

Er spricht leider nicht mit uns, daher können wir mit ihm auch nicht das Problem lösen. Der Weg muss über die Auftraggeber führen. Wir kennen die Namen der Geschäftspartner und haben sie kontaktiert. Ich kann aber noch nichts zum Inhalt der Gespräche sagen. Diese Firmen haben die Möglichkeiten, ihren Lieferkettenpflichten nachzukommen, die Zahlungen zu leisten und den Streik zu beenden. Das ist nicht nur eine moralische, sondern auch eine gesetzliche Verpflichtung.

Sie beziffern die Forderungen der Fahrer auf etwas mehr als eine halbe Million Euro. Wie belastbar ist diese Zahl?

Diese Forderung von 543.000 Euro ergibt sich nur aufgrund der eigenen Berechnungen durch die Fahrer. Sobald die Behörden Betriebsführungen durchführen und Bußgelder festsetzen, wird die Rechnung für Mazur noch viel höher.

Wie bewerten Sie es, dass Mazur Anzeige gegen die Fahrer wegen Nötigung und Erpressung erstattet hat?

Er macht die Opfer zum Täter. Beim ersten Streik war er wegen seiner Praktiken vorübergehend in Haft. Das zeigt, wer für die Eskalation verantwortlich ist. Ich habe die Staatsanwaltschaft Darmstadt angeschrieben und ihr die Zusammenhänge und das Ausmaß des Sozialdumpings im europäischen Straßengüterverkehr dargestellt. Die Staatsanwaltschaft vertritt die Position, dass sie den Sachverhalt prüfen muss, was wir als Gewerkschaft anders sehen. Bei dieser Art von Verträgen, die die Fahrer unterzeichnet haben, ist klar, dass sie gegen das Recht verstoßen.

Wie sehen diese Verträge aus? Klassische Arbeitsverträge sind es ja offenbar nicht.

Die Fahrer sind auf der Basis von Dienstleistungsverträgen angestellt. Zum Beispiel gibt es darin Formulierungen, wonach ein Fahrer sich für drei Jahre bindet, bei einem Stundenlohn von vier Euro. Es gibt auch Klauseln, nach denen die Fahrer freiwillig darauf verzichten, nach vier Wochen in ihr Heimatland zurückzukehren.

Wie erklären Sie es sich, dass Fahrer solche Knebelverträge unterschreiben? Es herrscht Fahrermangel, es gibt genug andere Arbeitgeber – und erst recht solche, die nach Recht und Gesetz arbeiten.

Die Fahrer verstehen die Sprache nicht. Teilweise unterzeichnen sie Verträge, die auf Deutsch oder Französisch verfasst sind. Nur so ist auch der Fall des Fahrers Y zu erklären, den auch der DGB aufgearbeitet hat. Der Fahrer aus Usbekistan sieht eine verlockende Stellenausschreibung im Supermarkt. Bei der polnischen Spedition kann er angeblich 2.400 Euro im Monat verdienen. Doch erst einmal muss er 1.000 Euro bezahlen, damit er überhaupt nach Polen vermittelt wird. Und von da an ist der Fahrer abhängig, ein Gefangener, und es gibt für ihn keinen Weg mehr zurück. Ich nenne das Zwangsarbeit. Das ist ein hartes Wort – aber es gibt eine klare Indikation für das Vorliegen von Zwangsarbeit.

Die Behörden hätten die Möglichkeit, solchen Praktiken einen Riegel vorzuschieben. Warum sind Organisationen wie das Firmengeflecht von Mazur weiter am Markt?

Weil die Sozialgesetzgebung nur auf dem Papier existiert. Wenn man am Wochenende von Amsterdam nach Berlin fährt oder von Berlin nach Paris, kann man so viel Bußgeldbescheide schreiben, dass es für das Jahresgehalt eines Kontrolleurs reichen würde. Die Behörden hätten die Möglichkeiten, diesen Praktiken die Stirn zu bieten. Es scheint am Willen zu fehlen.

So sehr die Situation auch die Fahrer und alle Helfer vor Ort belastet – gibt es vielleicht doch einen positiven Nebeneffekt, eine Lehre aus Gräfenhausen?

Es ist schwer für die Fahrer, keine Frage. Aber es ist positiv, dass sie sehen: Sie sind nicht alleine. Das motiviert andere, es ihnen gleichzutun. Und die Politik wird auf das Thema aufmerksam und sieht, dass sie erneut handeln muss. Es herrscht größter Handlungsbedarf bei der Organisation von fairen und menschenwürdigen Lieferketten in Zentraleuropa.

Wie lange wird der Streik Ihrer Einschätzung nach anhalten?

So lange, bis die Fahrer ihr Geld bekommen haben. Das kann in einer Stunde sein, das kann aber auch drei Wochen dauern.

Zur Person

  • Edwin Atema ist seit 15 Jahren Gewerkschafter. In den Niederlanden war der 43-Jährige lange bei der dortigen Arbeitnehmervertretung FNV tätig. Auf internationaler Ebene engagiert er sich für die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF), seit zwei Jahren arbeitet er als Manager für die Road Transport Due Diligence Foundation (RTDD), die ihren Sitz in Atemas Heimatland, den Niederlanden, hat.
  • Atema kennt die Sorgen und Nöte der Fernfahrer: Zehn Jahre ist er selbst gefahren, danach studierte er Jura, schloss das Studium aber nicht ab. Seit Wochen lebt und nächtigt Atema in Gräfenhausen, wo er täglich mit den dortigen Fahrern im Austausch steht.