Nachwuchs dringend gesucht: Bis zu 115.000 Fahrer fehlen

Nachwuchs dringend gesucht
Bis zu 115.000 Fahrer fehlen

Der Fahrermangel spitzt sich drastisch zu. BGL-Vorstandssprecher Prof. Dirk Engelhardt erläutert im Gespräch mit der Fachzeitschrift trans aktuell, wie sich die Situation entschärfen lässt.

trans aktuell: Herr Prof. Engelhardt, der Fahrermangel spitzt sich weiter zu. Der BGL sprach bereits von rund 100.000 fehlenden Lkw-Fahrern, eine neue Studie beziffert die Lücke auf rund 70.000 Fachkräfte. Welche Zahl gilt denn nun?

Prof. Engelhardt: Belastbar ist eine Zahl von bis zu 100.000 im laufenden Jahr, für 2024 rechnen wir mit bis zu 115.000 fehlenden Fahrern. 2022 hatten wir einen Bedarf von 80.000 Fahrern ermittelt. Jedes Jahr gehen etwa 30.000 bis 35.000 Fahrer in den Ruhestand, aber nur 15.000 bis 20.000 kommen neu hinzu.

Ein Hebel wäre der Klassiker BKF-Ausbildung. Die öffentliche Hand fördert die Ausbildung auch 2023 massiv. Trotzdem stagniert die Zahl neuer BKF-Azubis seit Jahren, 2021 gab es mit 2.825 einen neuen Negativ-Rekord. Woran liegt's?

Corona hin, Corona her – diese 2.825 sind in der Tat die niedrigste Zahl seit 2010, da dürfen wir uns nichts vormachen. Und es wird immer schwieriger. Wenn sich jemand für den Fahrerberuf entschließt, macht er den Führerschein und die beschleunigte Grundqualifikation. Immer weniger Leute sind bereit, eine Ausbildung zu beginnen. Ich könnte mir daher eine zweijährige Ausbildung vorstellen, etwa für Fahrer, die nur national tätig sind. Wer international fährt, könnte bei drei Jahren bleiben. Wir brauchen bei den Lerninhalten generell einen Paradigmenwechel.

Was heißt das konkret?

Die meisten Leute, die es in den Fahrerberuf zieht, wollen Fahren und die Technik bedienen – Lkw, Ladekran, Mitnahmestapler. Sie brauchen nicht unendlich viel Theorie. Früher haben wir die Anforderungen immer höher geschraubt, um dem Beruf ein anderes Standing zu geben. Jetzt müssen wir davon wieder weg – das Umfeld und die Bedingungen haben sich verändert.

Geht das ohne Abstriche bei der Qualität?

Wir müssen unsere nicht-sicherheitsrelevanten Anforderungen runterschrauben und zu einer Situation wie früher kommen: Ich mache meinen Führerschein bei der Bundeswehr, lasse ihn umschreiben und kann sofort in der freien Wirtschaft starten.

BGL
BGL-Vorstandssprecher Prof. Dirk Engelhardt: Es gibt keinen Königsweg. Um zum Ziel zu kommen, müssen wir ein ganzes Bündel an Maßnahmen in Angriff nehmen.

Der ganze Aufwand mit dem Berufskraftfahrer-Qualifikationsgesetz und der Weiterbildung sowie mit ärztlicher Untersuchung treibt die Fahrer in die Flucht. Sie suchen sich andere Branchen und Einsatzgebiete. Als müssten sie sich nicht schon genug anstrengen, um die gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen, kämpfen sie obendrein mit schlechten Rahmenbedingungen

Sie spielen aufs Image an?

Auf eine Vielzahl an Dingen: neben dem negativen Image auf die 40.000 fehlenden Parkplätze und auf eine negative Berichterstattung – wohlgemerkt nicht in der Fachpresse. Der Lkw wird in den allgemeinen Medien dargestellt, als wäre er das Krebsgeschwür der deutschen Wirtschaft. Der Fahrerberuf ist bisher auch nicht sehr familienfreundlich. Fährt man morgens los, weiß man mitunter nicht, ob man abends bei der Frau zu Hause ist oder auf einem Rastplatz steht.

Gut ausgebildete Fahrer sind ein Garant für Sicherheit. Wie lassen sich Lerninhalte kürzen, ohne dass die Zahl der Unfälle steigt?

Die Zeiten haben sich gewandelt, die Fahrzeuge sind einfacher in der Bedienung, sie haben mehr Assistenzsysteme an Bord. Statt Fahrer verpflichtend übergreifend zu schulen, empfehlen wir, viel stärker in die betriebliche Ausbildung zu gehen, um Fahrer mit den individuellen Anforderungen vertraut zu machen. Arbeite ich bei Stöhr, bediene ich Lkw mit Ladekränen, bei Bork bin ich Spezialist für Lebensmittel-Kühltransporte und bei Hoyer fahre ich Tankwagen. Ähnlich wie bei einem Qualitätsmanagementsystem könnte man die Schulung der Fahrer dergestalt verpflichtend machen, dass Unternehmen sie anbieten und dokumentieren müssen.

Die Branche könnte auch noch stärker auf Zuwanderung setzen. Doch hier tut sich aktuell nicht so richtig viel, oder?

Es braucht größere Anstrengungen. Der BGL macht sich dafür stark, dass die Bundesregierung einen Piloten startet, an dem sich nicht nur das Verkehrsministerium, sondern auch das Wirtschafts- und das Arbeitsministerium beteiligen.

Wir sollten uns einen Zielmarkt auswählen, etwa die Türkei oder Marokko, dort zum Beispiel einen Bildungsträger hinschicken, der vor Ort ausbildet, damit die fertig ausgebildeten Fahrer dann sofort in Deutschland und Europa eingesetzt werden können. Das Problem für die Umsetzung aktuell: die Bürokratie. Bis Fahrer ein Visum bekommen, vergehen Monate. Sie brauchen ein gutes Sprachniveau, den Führerschein, die BKF-Qualifizierung oder den ADR-Schein. Das ist so aufwendig, dass Unternehmen die Geduld fehlt und sie das auch nicht so einfach vorfinanzieren können.

Auch Rentner wären eine wichtige Gruppe, die man bei der Stange halten könnte. Welches sind hier die Hürden?

Viele würden gerne weiter fahren, sind aber nicht bereit, sich den Stress mit Aus- und Weiterbildung anzutun. Zum Amtsarzt zu gehen und fünf Samstage für die Weiterbildung zu investieren – darauf hat keiner mehr Lust. Dann gehen sie lieber in die Landwirtschaft oder fahren Kleinbus. Hier könnte der Gesetzgeber ansetzen und Rentnern die Weiterbildung ersparen, wenn sie über ausreichend Berufserfahrung verfügen. Oder man knüpft an den Wegfall der Weiterbildung die Auflage, dass der Fahrer nur 30 bis 40 Tage im Jahr fährt. Das ließe sich lösen. Wir verschenken das Potenzial der Erfahrenen.

Sie haben mit drastischen Worten bereits mehrfach vor einem Kollaps gewarnt – und waren damit unter anderem in der Bild-Zeitung und der Tagesschau. Ihre Äußerungen waren in der Verbandswelt nicht unumstritten. Würden Sie Ihre Warnungen so wiederholen?

Ich halte komplett an meiner Richtung fest. Ich darf mich doch der Realität nicht verschließen: Transportunternehmen reagieren nicht mehr auf Ausschreibungen, geben Kapazitäten zurück und Firmeninhaber sitzen selbst auf dem Bock.

Aus Baden-Württemberg kommen Horrormeldungen, dass ÖPNV-Leistungen eingestellt werden, weil Busfahrer fehlen. Wir können nicht einfach so tun, als könne die Logistik immer alles stemmen. Das Verkehrsaufkommen wird weiter deutlich steigen, wie aktuelle neue Prognosen zeigen. Die Warnung vor einem Versorgungskollaps kommt also nicht von ungefähr.

Volkswirte argumentieren, dass sich alles über die Löhne regeln lässt. Bezahlt die Branche zu schlecht?

Es liegt nicht am Geld. Schon auf der IAA 2018 habe ich gesagt, dass sich die Einkommen in Richtung 4.000 bis 6.000 Euro entwickeln müssten – und wurde dafür ausgelacht. Nun sind die Löhne in der Zwischenzeit stark gestiegen und wir bekommen trotzdem keine Fahrer. Walmart hat in den USA Fahrern 100.000 Dollar Jahreslohn geboten, und trotzdem wurde das Unternehmen nicht überrannt.

Wenn es nicht das Geld ist, wie kann ein Unternehmen dann einem Interessenten den Fahrerberuf schmackhaft machen?

Es braucht neue Arbeitszeit-Modelle, eine Autarkie der Fahrzeuge – zum Beispiel für Frauen ein WC oder eine Dusche an Bord. Es braucht mehr Begegnungsverkehre, damit Fahrer abends zu Hause sind und es braucht mehr Teilzeitverträge. Die Quintessenz ist: Es gibt keinen Königsweg. Um zum Ziel zu kommen, müssen wir ein ganzes Bündel an Maßnahmen in Angriff nehmen.

Zur Person

  • Prof. Dr. Dirk Engelhardt, Jahrgang 1973, leitet seit Januar 2017 die Geschicke des Bundesverbands Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL), erst als Hauptgeschäftsführer, später als Vorstandssprecher.
  • Von 2003 bis 2016 leitete er den Geschäftsbereich Logistik/Fuhrpark der Genossenschaft RWZ Rhein-Main. Als Student verdiente er sein Geld mit Lkw-Fahren.

Was die Verbände fordern

Als Antwort auf den Fahrermangel regen die Verbände BGL, BDE, BDO und DSLV in einem Positionspapier Folgendes an:

  • Integration der BKF-Qualifikation in die Fahrausbildung („2 in 1“)
  • Abbau der Sprachbarrieren bei der BKF-Qualifikation
  • Führerscheinerwerb in zusätzlichen Fremdsprachen
  • Öffnung des Prüfmonopols zur Entzerrung der Engpässe bei Prüfterminen
  • Unbürokratische Anerkennung ausländischer Führerscheine
  • Aufhebung des Wohnortprinzips für den Führerschein und die BKF-Qualifikation
  • E-Learning in der Aus- und Weiterbildung
  • Anpassung der Mindestalter-Regelung für Berufseinsteiger
  • Reduktion der Pflichtstunden für den Busführerschein der Klasse D