Dr. Bernd Bienzeisler: Für die Analyse haben wir hochrangige Führungskräfte aus dem KEP-Bereich befragt, ebenso Betriebsratsvertreter. Ich war zum einen überrascht, wie viele KEP-Sendungen gestohlen werden, das ist wohl vor allem in den Großstädten ein Thema. Zum anderen fand ich interessant, dass das Top-Management auch tatsächlich ein Bewusstsein für die Qualität der Arbeit hat und weiß, wie die Prozesse von dieser Qualität abhängen.
Die Dynamik des Sendungsaufkommens ist gewaltig, die Unternehmen arbeiten am Anschlag. Auch deshalb drängt Amazon weiter in den Zustellmarkt, weil dem Konzern bewusst ist, dass die Kapazitäten der Dienstleister nicht ausreichen, um das Wachstum mitzugehen. Was mich als Arbeitswissenschaftler aber wundert, ist die Nachhaltigkeit der Zustellung. Dabei geht es meistens nicht um den Punkt Arbeit, sondern eher um ökologische Fragen wie etwa die Zustellung mit Lastenrädern. Viele Verantwortliche stellen sich aber gar nicht die Frage, was das für die Arbeit heißt.
Der Trend zu alternativen Zustellkonzepten heißt beispielsweise, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf der letzten Meile unter Umständen wieder mehr fußläufig zustellen. Haben sie dafür auch die richtigen Zustellhilfen? Denn das heißt auch körperlich schwere Arbeit.

Das Thema Lastenrad hat natürlich positive Effekte, weil Emissionen gespart werden und das Image aufgewertet wird. Aber es entstehen eben auch Veränderungen in den Prozessen, weil manche Pakete nicht gleich mitgenommen werden können und einer Extratour bedürfen. Auch ist der Einsatz nicht überall optimal: Nehmen Sie Freiburg als Universitätsstadt, da gibt es vielleicht einige junge Leute, die Spaß daran haben, einen halben Tag mit dem Fahrrad zuzustellen. Aber es ist etwas anderes, wenn man das einen ganzen Arbeitstag lang bei Wind und Wetter machen muss. Das ist durchaus körperlich belastend.
Das ist die Folge des Kosten- und Effektivitätsdrucks, der an die Mitarbeiter weitergegeben wird. Die einzelnen Zustellgebiete werden immer optimaler auf die Prozesse zugeschnitten, um etwa die unproduktive Fahrzeit pro Mitarbeiter zu reduzieren und die Stoppdichte auf der Route zu erhöhen. Nicht zu vergessen ist aber, dass diese Fahrzeit oftmals auch Erholzeit ist – 20 Minuten Überlandfahrt im gesetzlich vorgeschriebenen Tempo und Radio hörend können für einen gestressten Fahrer sehr entlastend sein.
Die Kunden sind immer weniger zu Hause, und jedes Paket, das nicht gleich zugestellt werden kann, ist defizitär. Der Druck für die Fahrer ist also groß, es gibt gleichzeitig auch eine Ausweitung der Zustellzeiten nach vorn und nach hinten. Ein weiterer Faktor ist der B2B-Bereich, immer mehr Händler lassen sich über KEP-Dienstleister beliefern. Da rennen die Fahrer in den großen Einkaufszentren rum und suchen den Ort, wo sie das Paket abgeben müssen. Hier steigt ebenfalls der Druck für ein Matching.
Das spielt bislang dort eine große Rolle, wo man es im Allgemeinen nicht sieht, etwa bei der automatischen Sortierung von Paketen, aber auch bei der Routenplanung. Das Thema Robotik ist bei der letzten Meile noch überbewertet, man kann die jetzige Produktivität nicht erreichen, auch gesetzlich und gesellschaftlich sind wir noch nicht so weit. Die größten Produktivitätsvorteile erreicht die Branche, wenn der Kunde Leistungen übernimmt, wenn er etwa eine Packstation nutzt oder sich das Paket an eine Tankstelle liefern lässt und dort selbst abholt. Damit übernimmt dann der Kunde die Organisation der letzten Meile.
Wenn das Wissen der Fahrer in Prozesswissen überführt werden könnte – etwa, dass die Familie Bienzeisler nie am Vormittag zu Hause anzutreffen ist –, würde das die Produktivität enorm erhöhen, weil das Paket dann gar nicht erst auf die Tour verladen werden würde. Das kann wegen Datenschutz kompliziert sein, aber mithilfe künstlicher Intelligenz könnten Verfahren entstehen, die solche Schlüsse anonymisiert und dank aggregierter Daten auch zuverlässig zulassen. Bei diesem Thema ist noch gewaltig Luft nach oben.
Wenn ein Unternehmen wie Amazon, das sein Geld eigentlich mit Software und Automatisierung verdient, sich verstärkt des Themas Paketdistribution annimmt, wird es auch versuchen, die Anteile der Tätigkeit zu steuern, die in sein Kerngeschäft fallen: Prozessmanagement, Planung, Analyse. Alles andere wird outgesourct. Und weil es vor allem darum geht, Peaks abzudecken, werden auch verstärkt Zusteller gesucht, die vielleicht nur drei Stunden am Abend beschäftigt sind. Es finden sich auch immer Leute, die solche Jobs suchen. Aber tatsächlich ist die Zustellung dann keine Vollerwerbstätigkeit mehr, von der man leben kann. Das ist der Kern der Plattformökonomie – sie schafft Flexibilität, durchaus auch für den Arbeitnehmer, aber es gibt keine Sicherheiten: Wenn die Nachfrage ausbleibt, gibt es keine Aufträge für die Zusteller.
Es gibt Korrelationen zwischen der Qualität der Arbeit, der Entlohnung und der Fluktuation. Positiv hervorzuheben wäre etwa die Firma UPS mit ihrer qualitätsorientierten Strategie, auch wenn sie viel in dem besonderen B2B-Bereich macht. UPS hebt sich nicht nur bei der Entlohnung, sondern auch etwa bei der Ausstattung der Fahrzeuge hervor. Für die KEP-Branche ist für uns Wissenschaftler beides denkbar: Die Plattformökonomie als Geschäftsmodell, flexibel, aber mit wenig Sicherheit für die Mitarbeiter, und als gegenteiliges Modell ein Qualifizierungsszenario mit einer stärkeren Kundenbindung, verknüpft mit mehr Dienstleistungen, einem höheren Mehrwert und dadurch auch einer höheren Wertschätzung für die Zustellarbeit.
Es ist natürlich schwierig, eine Dienstleistung nachträglich zu bepreisen, wenn die Leute sich schon daran gewöhnt haben, dass sie kostenlos ist. Was eher funktionieren könnte, ist, die Dienstleistung zu verändern und ein differenziertes Preisniveau einzuführen. Wenn ich den Ort oder den Zeitpunkt der Zustellung frei wählen oder Sendungen bündeln lassen will, ist das ein kostenpflichtiges Premiumangebot. Das wird dann natürlich für die Unternehmen wieder ein arbeitsorganisatorisch spannendes Thema.
Die KEP-Unternehmen bewegen sich derzeit im Spannungsfeld zwischen einer Zunahme der Automatisierung und immer mehr Flexibilisierungswünschen der Kunden. Hier Lösungen zu finden, die auch sozial und ökologisch sind, wird spannend werden. Vermutlich gibt es unterschiedliche Entwicklungslinien zwischen Discount, Standard und höherwertigen Angeboten. Außerdem müssen sich die KEP-Unternehmen stärker Ökosysteme erschließen, um entsprechende Umschlag- und Abstellflächen zu bekommen. Denn die immer höheren Anforderungen an die letzte Meile müssen auch an die städtischen Gegebenheiten angepasst werden. Und welche Stadt hat Platz?
Zur Person
- Dr. Bernd Bienzeisler ist seit 2003 als Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO tätig.
- Seit 2019 leitet er das Forschungs- und Innovationszentrum Kognitive Dienstleistungssysteme am Standort Heilbronn. Seine Schwerpunkte in Forschung und Beratung liegen in der Entwicklung und Erprobung datenbasierter Services und Geschäftsmodelle für unterschiedliche Branchen und Industrien.
- Bernd Bienzeisler ist nebenberuflich Dozent für Dienstleistungsmanagement und Vorstandsmitglied im Verein Wissensstadt Heilbronn.
Die Studie
- Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO hat mit dem Unternehmen Input Consulting die 360-Grad-Analyse „Zustellarbeit 4.0“ vorgelegt
- Darin gebündelt sind Erkenntnisse aus mehreren Forschungs- und Gestaltungsprojekten sowie aus Expertengesprächen
- Untersucht wurde, wie der Onlinehandel die Zustellarbeit verändert und wie KEP-Unternehmen darauf reagieren müssen – hinsichtlich der Prozesse, der Daten und vor allem im Hinblick auf den Menschen