Es gehört zu den berühmt-berüchtigten Eigenarten der Volkswagen AG, bei technischen Neuerungen und Trends nicht in der ersten, sondern lieber in der zweiten oder dritten Welle zu schwimmen. Dann kann man im Zweifel nicht so viel verlieren, wenn andere schon fleißig das Feld bestellt haben. Und nach eingehender Analyse des Wettbewerbs legt man dann den ganz großen Auftritt hin – so zumindest das Kalkül. Auch der seit 2014 komplett zum niedersächsischen Weltkonzern gehörende, hochprofitable Lkw- und Busbauer Scania passt hier ganz gut ins Bild. Zwar legten die Schweden seit einigen Jahren den Fokus deutlich auf alternative Kraftstoffe, aber genauso wie die Konzernbrüder und -schwestern von MAN in München hatte man es in Södertälje mit der Elektrifizierung nicht sonderlich eilig. Allein den einen oder anderen Hybridbus mit Parallelkonzept baute man – und für 2022 immerhin wurde gerade sogar ein neuer Vollhybrid angekündigt, der den Mildhybriden der Konkurrenz deutlich den Diesel abgraben soll.

Aber bei den Elektrobussen ist man nun mit einem Serienstart Ende 2021 wirklich der allerletzte große europäische Hersteller, der in das Rennen um den besten emissionsfreien ÖPNV einsteigt. Das hat sicher auch damit zu tun, dass der neue Stadtbus des Modells Citywide LE so spät fertig geworden war (gezeigt wurde er erstmals 2019 auf der Busworld in Brüssel), und nicht zuletzt mit der angespannten Batteriesituation, in der Volkswagen auf der Nutzung der Konzernzellen bestand – was auch MAN zu einer Verzögerung von rund einem Jahr nötigte. Dabei ziehen die Schweden ihr Konzept etwas anders auf als die Münchner Kollegen (siehe auch den Test auf S. 66). Man setzt nicht auf die schiere Masse an Energiegehalt auf dem Dach, sondern dosiert deutlich zurückhaltender mit maximal 320 kWh, wovon 53 beziehungsweise 73 Prozent innerhalb des georderten Ladehubs (Depth of Discharge – DoD) nutzbar sind. Das wären also maximal 233 kWh im Vergleich zu 384 kWh beim Lion’s City 12E (bei einem maximalen DoD von 80 Prozent). Da man mit einem solch zurückhaltenden Batteriekonzept kaum einen schweren Gelenkbus befeuern kann, verschiebt Scania diesen folgerichtig gleich auf den Anlauf der nächsten Volkswagen-Batteriegeneration, die für 2024 in den Startlöchern steht und rückwärtskompatibel sein soll.
Beim Thema Reichweite gibt man sich in Södertälje denn auch weniger kämpferisch als in München: 115 bis 280 Kilometer versprechen die Experten bei einem durchaus realistischen SORT-1-Verbrauch (ohne Heizung und Klimatisierung) von 0,94 kWh auf den Kilometer. Der reale Energieverbrauch wird sogar mit 0,75 bis 1,6 kWh angegeben; die Testbusse, die seit 2019 in Östersund laufen, würden diese Werte bestätigen. Die Batterielebensdauer hängt neben den "Fahr-, Betriebs- und Umgebungsbedingungen" natürlich auch vom Ladehub (DoD) ab. Rechnerisch und bei einmaliger Tagesladung geht Jens Ludwigkeit, Verkaufsleiter Elektrobusse, bei einem DoD von 53 Prozent von einer Lebensdauer von 8,3 Jahren oder mehr aus, bei einem DoD von 73 Prozent von rund 6,3 Jahren. Wer als Betreiber auf maximale Reichweite setzt, der wird im ersten Leben des Busses eine zweite Batterie gleich mit einrechnen dürfen – für einen sechsstelligen Betrag. Kein Thema für Jubelschreie irgendwelcher Art. Und ein "zweites Leben" wird es wohl kaum geben für diese Busse.
Reichweite ist nicht alles
Auch in Sachen Packaging fahren die Schweden einen anderen Kurs und belassen den guten alten Motorturm in der Karosserie – nicht zuletzt, weil man ja auch noch ein paar Diesel verkaufen will, bevor die strengere Euro-7-Norm kommt. Die Karosserie ist neuerdings nicht mehr wie bisher aus Aluminium, sondern aus hochfestem Stahl gefertigt, allerdings bleibt sie ohne heute fast selbstverständliche KTL-Behandlung – auch wenn man die im polnischen Słupsk (ehemals Stolp) gefertigten Karossen bei MAN in Starachowice ganz brüderlich tauschen könnte! Im Motorturm werden hier standardmäßig vier wassergekühlte NMC-Batteriepakete mit jeweils 33 kWh untergebracht, wahlweise weitere vier oder gar sechs Packs finden dann ihren Platz auf dem Dach. Platz für einen fahrzeugfesten Pantografen bleibt dadurch erst mal nicht – für Skandinavien ist diese Version aufgrund der winterlichen Klimabedingungen sowieso gänzlich ungeeignet.
Die beheizten Ladeschienen des invertierten Laders dagegen passen genau. Zwar gibt es derzeit nur einen Montageplatz, aber der Scania bietet auch einen CCS-Stecker vorne rechts für die Ladung mit bis zu 150 kW. Der anfängliche Kulturkampf zwischen Depot- und Gelegenheitsladung hat sich damit wohl endgültig erledigt und wird derzeit von dem um den Wasserstoff als Energiespeicheralternative abgelöst. Die Scania-Batterien im Heck sitzen links und mittig in massiven Aluminiumtrögen. Zudem bietet der Wagen sowohl im Heck als auch in der Front einen massiven Auffahr-/Unterfahrschutz: Ähnlich wie bei Volvo im Reisebus ist dies Teil eines umfassenden Sicherheitskonzepts. Denn neben Daimler bietet Scania als einziger Hersteller ein eigenes, voll integriertes Radarsystem für Front und beide Seiten an! Sollte ein Hindernis im Weg oder in der Schleppkurve auftauchen, wird optisch, akustisch und auch haptisch im Sitz gewarnt. Das System erkennt auch Fußgänger und kann eine sanft kaskadierende Notbremsung einleiten. Leider konnten wir die Funktionsweise beim ersten Prototyp noch nicht testen, er hatte noch nicht die neueste Software aufgespielt. Komplett unverständlich nur, warum MAN dieses System nicht ebenso nutzt, sind es doch gerade diese kostenintensiven Bauteile, bei denen sich Stückzahlen am besten rechnen. Wozu sonst Marken in Konzernen bündeln?
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