Lkw-Unfall in Köln: Falsche Fakten, falsche Anschuldigungen

Lkw-Unfall in Köln
Falsche Fakten, falsche Anschuldigungen

Im September 2023 schockte ein Lkw-Unfall mit einer Radfahrerin in Köln-Sülz die Anwohner und die lokale Politik zugleich. Ausgangspunkt war die Berichterstattung auf Grund von ersten Augenzeugen.

Unfall
Foto: Jan Bergrath

Die Pressemeldung der Kölner Polizei zu einem Verkehrsunfall mit einem Lkw in Köln-Sülz am 8. September 2023 findet sich wenig später online in den Kölner Medien. „Nach ersten Erkenntnissen der Polizei war die Frau gegen 14.45 Uhr mit dem Rad auf der Sülzburgstraße in Richtung Uniklinik unterwegs. Der 40-Tonner, gesteuert von einem 43 Jahre alten Fahrer, soll laut Zeugenaussagen parallel zu der 28-Jährigen gefahren sein. Unmittelbar vor der Kreuzung an der Berrenrather Straße war die Fahrradfahrerin dann von dem Lkw erfasst und unter der Vorderachse des Fahrzeugs eingeklemmt worden. Durch den alarmierten Rettungsdienst und Notarzt wurde die 28-Jährige, die für die Helfer ansprechbar war, intensivmedizinisch versorgt.“

Immer wieder berichte ich über besonders tragische Unfälle zwischen Lkw-Fahrern und, leider, oftmals Radfahrerinnen an innerstädtischen Kreuzungen. Zuletzt im Februar 2023 in der Hamburger Hafen-City. Die dortigen Ermittlungen sind laut Staatsanwaltschaft immer noch nicht abgeschlossen. Für die Aufarbeitung des Unfalls in Köln und die Berichterstattung in den Medien musste ich dieses Mal allerdings nicht so weit fahren.

Beliebte Einkaufsstraße mit vielen Radfahrern

Das Unglück geschah in meinem Viertel an einer gefährlichen Kreuzung einer beliebten Einkaufsstraße, auf der ich selber oft mit dem Rad fahre. Im Sommer sind dort täglich Hunderte Radfahrerinnen und Radfahrer unterwegs. Und natürlich sitzen zahlreiche potenzielle Augenzeugen in der gut frequentierten Außengastronomie. Schnell kursierten auch verschiedene Fotos des schwarzen Actros mit den nach rechts eingeschlagenen Rädern. Nur in der Kölnischen Rundschau erschien dieses Bild, das einen dreiachsigen Actros Gigaspace zeigt. Man muss auch als Lokalreporter kein Fachjournalist sein, um zu erkennen, dass es sich um einen Motorwagen ohne Anhänger handelt.

Was letzten Endes eine entscheidende Rolle spielt, denn in den Tagen danach entwickelte sich in Köln eine haarsträubende Diskussion. Sie begann mit der Aussage eines vollkommen unbeteiligten Rentners im Kölner Express: „Ich frage mich wütend, warum ein 40-Tonner auf der kleinen Sülzburgstraße fahren muss. Dies geht doch gar nicht! Warum ist diese Straße nicht schon längst für Lkw über 7,5 Tonnen gesperrt?“ Es gibt im selben Beitrag allerdings auch durchaus kritische Stimmen der Anwohner: „Radfahrer fahren mit geschlossenen Augen. Selbst schuld“, kommentiert ein Mann. Ein anderer: „Immer draufhalten ist die Devise der Radfahrer, keine Sekunde mal abbremsen.“ Eine Frau gibt sogar zu, dass sie mittlerweile anfangen würde, Radfahrende zu hassen. Eine andere schreibt: „Als Radfahrer sehe ich den Lkw und fahre mit Vorsicht. Aber Lautsprecher im Ohr und Musik hören. Ich beobachte es täglich.“ Das deckt sich in der Tat auch mit meinen Erfahrungen – die fehlende gegenseitige Rücksichtnahme.

Selbst die Lokalpolitik reagiert

Wenig später findet die Debatte um den vermeintlichen 40-Tonner ihre Fortsetzung im Kölner Stadt-Anzeiger. „Die Bezirksvertretung Lindenthal hat sich in der vergangenen Sitzung des Problems angenommen und die Verwaltung beauftragt, zu prüfen, inwieweit sie den Verkehr von Lastkraftwagen mit einem Gewicht von über 7,5 Tonnen in den kleineren Straßen im Stadtbezirk untersagen, beziehungsweise auf den Anliegerverkehr beschränken kann.“ Wobei auch die Supermärkte im Viertel mit Sattelzügen beliefert werden. Freiwillig fährt hier kein ortsfremder Schwerverkehr als Abkürzung durch die Stadt.

Nur auf den ersten Blick sieht es aus wie ein Abbiegeunfall

Immer wieder habe ich die Bilder aus den verschiedenen Perspektiven betrachtet, die auf den ersten Blick einen klassischen Abbiegeunfall durchaus vermuten lassen können, wenn der Lkw an dieser Stelle in der Tat kurz zuvor die Radfahrerin überholt haben soll. Das wiederum ist fast unmöglich. Wenige Hundert Meter vor der Kreuzung verbreitert sich die Straße zu einer Geradeausfahrbahn mit Rechtsabbiegepfeil. Und daneben einer eigenen Spur für die Linksabbieger. In einer leichten „Links-Rechts-Kombination“ geht es weiter in die wirklich enge Sülzburgstraße. Es gibt Tage, das kenne ich selbst, da stehen auf der gesamten Breite der Fahrbahnen auf der Sülzburgstraße Radfahrer vor der Kreuzung. Für jeden Auto- oder Lkw-Fahrer wiederum ist es schwer einzuschätzen, wer rechts oder links abbiegt oder doch geradeaus fahren möchte. Weil dies so gut wie niemand per Hand anzeigt.

Actros Gigaspace mit Active SideGuard Assist

Auf der rechten Seite, vor dem Rewe, parken ständig Pkw und unmittelbar vor der Kreuzung ist ein beliebter Biergarten, der durch Steinplatten und Kleingewächs verdeckt, an die Straße und die Parkplätze heranreicht. Eine Rückfrage zuerst bei der Polizei und dann bei Daimler hat mir schnell bestätigt, was ich sofort gesehen habe. Der Actros Baujahr 2022, ein 26-Tonner, verfügt über die jüngste Generation der MirrorCams, die Teil des Active SideGuard Assist (ASGA) sind. Der ASGA warnt, wenn sich, hier konkret, eine Radfahrerin im Bereich der Radarabdeckung (siehe Grafik) aufhält, die in diesem Fall den kompletten Bürgersteig bis vor den Eingang des Supermarktes umfasst. Er greift auch aktiv ein, sollte die Radfahrerin den Actros, was ja grundsätzlich keine Seltenheit in den Städten ist, vielleicht rechts überholt haben. Was auch immer die Augenzeugen beobachtet haben wollen, es ist, zudem bei einem gesetzlichen Mindestabstand von 1,50 Metern, nahezu ausgeschlossen, dass Lkw und Radfahrerin auf diesem entscheidenden Teilstück nebeneinander gefahren sind.

Der aktive Anteil der ASGA-Bremsung liegt im Bereich zwischen 0 und 20 km/h“, heißt es dazu auf meine Anfrage aus der Pressestelle von Daimler Trucks. Also über die vorgeschriebene „Schrittgeschwindigkeit“ beim Abbiegen hinaus. „Für eine ASGA Bremsung braucht man zusätzlich einen gewissen Lenkwinkel und eine gewisse Lenkwinkeländerung.“ Genau dieser Lenkwinkel scheint auf den ersten Blick gegeben. Allerdings an dieser Stelle für einen nach rechts abbiegenden Motorwagen viel zu früh.

Eindeutige Markierungen durch die Polizei

Zudem zeigen die gelben Markierungen der Polizei, die ich nach dem Unfall aufgenommen habe, die finale Lage des Fahrrades nahezu quer auf dem Fußgängerüberweg, Das passt ebenfalls nicht zu einem Abbiegeunfall. Die Radfahrerin muss also an einer Stelle vor dem Überweg von rechts gekommen sein. Das einzige, was ich noch von der Polizei erfahre ist, dass es sich um einen Kölner Halter des Lkw handelt – und der Lkw für Blumentransporte eingesetzt ist. Weitere Anfragen beantwortet die freundliche Kölner Staatsanwaltschaft nur insoweit, dass die Akten zur Einsicht noch unterwegs sind. Ich stelle die weitere Recherche vorerst ein.

Reporterglück zur Adventszeit

Es ist das sprichwörtliche Reporterglück zur Adventszeit, dass ich in einem beliebten Bistro am Auerbachplatz in Köln-Sülz, diesmal direkt bei mir um die Ecke, zum Ende des Wochenmarktes am Freitagnachmittag noch schnell einen Kaffee trinke, als der schwarze Actros dort vorfährt. Ich stelle mich als Autor des FERNFAHRER vor und komme mit dem Bruder des Fahrers ins Gespräch, der dabei ist, die Gestelle für den Direktverkauf des Familienbetriebes einzuladen.

Natürlich darf auch der Bruder im Zuge der laufenden Ermittlungen im Grunde nicht über den Unfall sprechen, bei dem er nicht dabei war. Aber das Gespräch erlaubt es, einige grundsätzliche Fragen zu klären. Zunächst einmal handelt es sich in der Tat um den Lkw eines Anliegers wenige Kilometer vom Unfallort, der vor allem im Kölner Westen morgens die Ware zum jeweiligen Standort des eigenen Marktstandes bringt und am Ende dort wieder abholt. Der Gigaspace mit dem hohen Aufbau wurde bewusst angeschafft, um damit zu zweit bei Bedarf etwa schon am Sonntag zu Blumengroßmärkten in Nordholland zu fahren. „Ein Atego wäre für uns nicht in Frage gekommen.“

Seit Jahren an dieser Stelle immer geradeaus

Der ASGA ist bei diesem Baujahr des Actros mit den neuen MirrorCams mittlerweile die Serienausstattung. Die finale Stellung der Räder sei durch das Anheben und spätere Absetzen des Lkw durch einen Kran passiert. „Wir fahren an dieser Kreuzung seit Jahren immer geradeaus. Für einen versierten Fahrer ist auch der weitere Verlauf der Sülzburgstraße nicht zu eng. Es ist aber schlicht nicht möglich, auf dem besagten Stück davor, Radfahrer zu überholen.“

Mit den neuen Erkenntnissen und der Frage, woher die Radfahrerin denn bei der geschilderten Beschreibung tatsächlich gekommen ist, wende ich mich noch einmal an die Staatsanwalt Köln. Der Pressesprecher antwortet mir kurz vor Weihnachten. „Gegen den Fahrer des Lastkraftwagens sind Ermittlungen wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Körperverletzung zum Nachteil der betroffenen Radfahrerin aufgenommen worden. Der nächste Schritt wird sein, ein Sachverständigengutachten zur Unfallrekonstruktion in Auftrag zu geben und dem anwaltlich vertretenen Beschuldigten Akteneinsicht zu gewähren, dem es dann offensteht, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen oder nicht. Weitere Details insbesondere zum bisher bekannten Ablauf des Geschehens kann ich mit Blick auf die andauernden Ermittlungen leider nicht öffentlich machen. Erfahrungsgemäß werden bis zur Abschlussentscheidung der Staatsanwaltschaft noch mehrere Monate vergehen.“

Die entscheidende Frage wie bei allen derartigen Unfällen wird sein, ob der Gutachter feststellt, dass der Fahrer bei den Spiegeln und dem verbauten ASGA den Unfall hätte verhindern können, wenn er die Radfahrerin rein theoretisch selbst für wenige Sekunden hätte sehen können. Die Entscheidung hängt dann wohl davon ab, ob er an dieser Stelle mit ihr hätte rechnen müssen.