Notbremsassistenten im SPIEGEL Das Missverständnis

Polizei Dortmund
Meinung

In der aktuellen SPIEGEL-Reportage „Tödliche Laster“ fordern die Autoren den perfekten Notbremsassistenten. Sie können sich dabei weder von der Autofahrer-Perspektive lösen noch verstehen sie die komplexe Wechselwirkung von Mensch und Maschine bei den Fahrerassistenzsystemen.

Das klassische Stilmittel einer Reportage über Verkehrsunfälle und seine Folgen ist die Klammer aus Leid. Berichten Publikumsmedien über Unfälle mit Lkw, so geschieht dies in der Regel aus dem Blickwinkel des Autofahrers. So wie in der just zum Ende der Ferienreisezeit erschienenen SPIEGEL-Online-Reportage „Tödliche Laster“. Dort stellen die drei Autoren die große Frage: „Jedes Jahr sterben Dutzende Menschen bei Auffahrunfällen auf Autobahnen. Technik könnte das verhindern - doch Hersteller und Politik stemmen sich gegen strengere Regeln. Warum?“

Als Fachjournalist, der sich seit Jahren mit diesem Thema beschäftigt, kann ich mich nach Lektüre des Textes nur fragen: warum sind die Erkenntnisse dieser offenbar aufwendig recherchierten Reportage teilweise so falsch verstanden und daher auch falsch vermittelt? Die Antwort ist: Dem sicher gut geschriebenen Text mit seinem eigenen Video zum Thema gelingt es nicht, dem autofahrenden Leser des „Spiegel“ die komplexen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Maschine richtig zu erläutern – auch, weil die Autoren sie offensichtlich nur in Ansätzen verstehen. Er schürt vor allem die Angst vor dem Lkw im Nacken.

Ein fataler Unfall auf der A3

Diese Klammer des Leids beginnt mit einem tragischen Unfall auf der A3. Mitte November 2017 war ein mittlerweile zu einer Freiheitsstrafe verurteilter Lkw-Fahrer aus Ungarn auf der A3 bei Ratingen mit seinem MAN in einen Stau gerast. Drei Menschen kamen dabei ums Leben, darunter der damals 26 Jahre alte, in Bonn lebende Badminton-Bundesligaspieler Erik Meijs. Im SPIEGEL wird nun, ganz am Ende des Textes, dessen Vater zitiert: „Stef Meijs quält der Gedanke, dass Technik seinen Sohn hätte retten können. Es sei „zu 100 Prozent sicher“, dass der Unfall mit einem modernen Notbremsassistenten nicht passiert wäre.“

Die Rolle des Tempomaten

Genau das ist das Problem dieser Reportage. So tragisch es auch ist, aber der Notbremsassistent spielte vor Gericht keine Rolle, denn der MAN hatte noch keinen verbaut. Es ist zweifelslos das größte Hindernis bei der Einführung neuer Technologie in der Nutzfahrzeugindustrie, wie etwa die Pflicht, seit November 2015 eben einen Notbremsassistenten in neue Fahrzeuge einzubauen, dass die alte und irgendwann sicherlich überholte Technik nicht sofort von der Straße verschwindet. Der Fahrer hat versagt, so sah es auch das Gericht, weil er seinen Tempomaten auf 89 km/h eingestellt hatte und kurz vor dem Einschlag in den Stau entweder unaufmerksam oder kurz eingeschlafen war.

Früher Graben, heute Stauende

In vielen Unfällen, die ich selber analysiert habe, spielt der eingeschaltete Tempomat eine entscheidende Rolle. Er zieht den Fahrer, wenn dieser vor sich hin döst oder unterwegs aufs Handy schaut, immer weiter in Richtung eines Staus. Früher, in den 80er- und 90er- Jahren ohne Automatik und Tempomat, wurde man als müder Fahrer sukzessive langsamer. Entweder hat einen dann ein überholender Kollege per Hupe geweckt – oder man fuhr in den Graben. In den Unfallstatistiken der Lkw-Hersteller hat daher der Auffahrunfall mittlerweile das Abkommen zur Seite abgelöst. Auch weil es, besonders im riesigen Transitland Deutschland, so unendlich viele Baustellen mit Staus gibt.

Die meisten Unfälle passieren noch ohne Notbremsassistent

In einer aktuellen Studie für die Landesverkehrswacht Niedersachsen hat Dr. Erwin Petersen, der im SPIEGEL kurz zitiert wird, noch einmal betont, dass Lkw-Auffahrunfälle derzeit zu fast 70 Prozent immer noch von Lkw ohne einen Notbremsassistenten verursacht werden, obwohl die Durchdringung der Fernverkehrsflotte mit Notbremsassistenten auf deutschen Autobahnen inzwischen bei ca. 70 Prozent liegen dürfte.

Wollte man also, was allein die Ausstattungsrate der Fahrzeuge betrifft, für eine Sicherheit von 100 Prozent sorgen, müsste man sofort alle Lkw ohne Notbremsassistenten aus dem Verkehr ziehen. Das ist natürlich vollkommen illusorisch, so wie es nicht möglich ist, sofort alle in der Stadt verkehrenden Lkw mit Abbiegeassistenten auszustatten und den anderen die Zufahrt zu verweigern. Dafür gibt es hierzulande keine gesetzliche Grundlage.

Der Mensch begeht die Fehler, nicht der Lkw

Es gibt in diesem Sinne also keine „tödlichen Laster“. Es gibt Lkw-Fahrer, die mit ihren Lkw Fehler begehen, die für Dritte tödlich enden können und die dafür bestraft werden. Oder, in der Mehrzahl der Lkw-Unfälle am Stauende, selber schwer verletzt werden oder sterben. In meiner Reportage „Der Tod lauert am Schluss , die eine Klammer aus Leid aus der Sicht der Witwe eines verstorbenen Lkw-Fahrers hat, habe ich noch einmal eindringlich darauf hingewiesen, dass mittlerweile immer öfter Lkw-Unfälle am Stauende passieren, obwohl die Fahrzeuge mit einem hochmodernen Notbremsassistenten ausgestattet sind. So wie jener des erfahrenen Lenkers eines Scania S 450, der auf der A10 trotz dieser eigentlich lebensrettenden Technik ungebremst in das Heck eines anderen Lkw raste.

Wir sind noch nicht beim autonomen Fahren

Und so wie der MAN TGS mit der Erstzulassung 2018, der mit einem EBA2 ausgestattet war – einem der derzeit besten Notbremsassistenten auf dem Markt. Auf der A1 hinter dem Kamener Kreuz übersah der einheimische Fahrer ein Stauende. Laut der Polizei Dortmund riss er nach dem Warnton im Schreck das Lenkrad herum und landete trotzdem im Heck eines Holzlasters. Er hatte den EBA2 im letzten Moment „übersteuert“. Heißt: Die Radarkeule hat das Hindernis dadurch „aus den Augen“ verloren.

Es ist daher dem SPIEGEL anzukreiden, dass er in seinem Drang, vorwiegend Politiker und Hersteller anzuklagen, den Menschen in den aktuellen Fahrzeugen des „Level 2“ außer Acht lässt. Den Fahrer also, der vor dem drohenden Einschlag in ein Fahrzeugheck gewarnt wird und immer noch die gesetzlich vorgegebenen Möglichkeiten hat, die Bedienhoheit zurückzuerlangen. „Tödliche Laster“ gäbe es demzufolge allerhöchstens im „Level 4“, des weit in der Zukunft liegenden vollautonomen Fahrens – wenn der Mensch das Steuer aus der Hand gegeben hat und die Hersteller für die Folgen eines außer Kontrolle geratenen Lkw haften müssten.

Vier Sekunden Überlebenszeit und viele Übersteuerungsmöglichkeiten

Derzeit hat ein Fahrer am Steuer, so ist es von den Fahrzeugtechnikern genau berechnet, bei 89 km/h etwa vier Sekunden reine Überlebenszeit, wenn das Notbremssystem errechnet hat, dass der Lkw auf ein Hindernis zurast und der Fahrer selbst nicht eingreift. Falls er also nicht selber, aufgeschreckt durch den Warnton, eine veritable Vollbremsung hinlegt, sondern einen Kick-Down macht, den Blinker betätigt, lenkt oder, wie beim ABA3 von Daimler oder dem AEB von Scania, sogar das Bremspedal antippt, übersteuert er den lebensrettenden Notbremsassistenten und kann den Einschlag mit größter Wahrscheinlichkeit nicht mehr verhindern.

So wie mit dem MAN auf der A1 häufen sich daher im Augenblick die Unfälle, bei denen ein Fahrer in letzter Sekunde versucht, am Hindernis vorbeizukommen und dann zur Hälfte im Vordermann hängt. Unabhängige Unfallforscher fordern daher, einerseits den Fahrer noch früher zu warnen und gleichzeitig die aktuellen Möglichkeiten der Übersteuerung zu reduzieren.

Der SPIEGEL vereinfacht die Komplexität

So vereinfacht der SPIEGEL zunächst grundsätzlich die Komplexität des technischen Systems der Notbremsassistenten, wenn er im Zitat des betroffenen Vaters die These in den Raum stellt, Lkw-Unfälle an einem Stauende seien mit Notbremsassistenten „zu 100 Prozent vermeidbar“. Das ist schlicht falsch. Was vor allem damit zusammenhängt, dass es zwei vollkommen unterschiedliche Szenarien gibt, die zu einem Lkw-Unfall an einem Stauende führen. Das erste und leider häufigste Szenario heißt: Mehrere Lkw fahren zu dicht hintereinander her. Der erste Fahrer sieht einen Stau, er bremst ab, auch mal abrupt. Der zweite Fahrer erkennt es noch so gerade, der dritte nicht mehr.

Da ein Notbremsassistent laut den gesetzlichen Vorgaben eine genau festgelegte Warn- und Bremskaskade einhalten muss, reicht dann unter Umständen bei zu geringem Abstand die Zeit selbst für das System nicht mehr, um rechtzeitig zu reagieren. Der dritte oder sogar auch der vierte Lkw schiebt dann praktisch alle Fahrzeuge vor sich zusammen.

Ebenso kann diese Technik nicht so, wie es die Entwickler ersonnen haben, eingreifen, wenn unmittelbar vor einem Stau ein Lkw oder ein Pkw nach links ausschert und das System urplötzlich den Abstand zu einem am Ende eines Staus „neu“ auftauchenden Fahrzeug ebenso auch neu berechnen muss. Das ginge erst, wenn alle Fahrzeuge, so wie beim „Patooning“ miteinander vernetzt wären und quasi zeitgleich abbremsten.

Der aktuelle Stand der Technik

Das zweite Szenario ist die Anfahrt eines unaufmerksamen, abgelenkten oder müden Fahrers auf einen bereits stehenden Stau – ohne ein anderes Fahrzeug dazwischen. Fünf von sieben Herstellern haben mittlerweile Notbremssysteme auf dem Markt, die mehr können, als es die aktuellen gesetzlichen Vorgaben der EU verlangen. Unter idealen Bedingungen auf trockener Fahrerbahn können sie auch aus 89 km/h einen Lkw vor einem Stau bis zum Stillstand abbremsen.

Das sind zunächst die im „Spiegel“ erwähnten Hersteller MAN und Volvo, dazu Renault, weil sie dasselbe System wie Volvo nutzen, sowie Scania. Sie arbeiten mit einem Radarsystem, das von einer Kamera unterstützt wird, was auch die Fehlermeldungen reduziert. Es ist im Grunde das, was Petersen im SPIEGEL fordert: „Ein technisches System, das wie ein Auge ständig die Fahrbahn vor dem Lkw scannt, Hindernisse erkennt und im Notfall eine Vollbremsung einleitet.“

Marktführer Daimler kann das zunächst grundsätzlich auch, die gängigen Systeme ABA3 und ABA4 setzen allerdings nur auf Radar, erst der nun im neuen Actros eingeführte ABA5 setzt dazu ebenfalls auf eine Kamera. Die dann allerdings auch im Nahbereich bei bis zu 50 km/h auf Fußgänger reagiert.

Polizei Dortmund Foto: Polizei Dortmund

Iveco und DAF mit eigener Philosophie

Nur der soeben mit viel Show eingeführte Iveco S-Way behält weiter die derzeit vorgegebene gesetzliche Verzögerung von 80 auf maximal 60 km/h an einem Stauende auf Grund einer „etwas anderen Philosophie“ bei, wie mir der Pressesprecher bei der Präsentation am Nürburgring gesagt hat.

Auch DAF begründet dieselbe „Philosophie“ mit einer geringeren Fehlerquote. „Unser aktuelles System kann im Notfall ein Fahrzeug noch nicht aus 80 km/h bis zum kompletten Stillstand abbremsen“, so die Aussage der Pressestelle. „Dafür gibt es gute Gründe, da die aktuelle Sensorik bei Hindernissen, die eigentlich keine Bremsung benötigen, noch zu viele Falschmeldungen ausgibt. Wenn Lkw maximal bremsen, wenn dafür eigentlich kein Grund besteht, birgt das ein zusätzliches Unfallrisiko, dass DAF abwägen musste. Deswegen hat DAF einen Kompromiss gewählt: Auf der einen Seite verzögern unsere Fahrzeugen im Notfall stark – sogar sehr stark – aber nicht unbedingt bis zum kompletten Stillstand. Diese Einstellung trägt dazu bei, dass auf der anderen Seite Falschmeldungen limitiert werden.“

Sonderfall Daimler

Vollkommen zu Recht kritisiert nun auch der SPIEGEL den von mir immer wieder thematisierten Sonderfall bei Daimler. Der Hersteller hat den ABA3 bereits 2012 auf der IAA in Hannover sehr eindrucksvoll vorgestellt und verlangt seither für sein Sicherheitspaket einen satten Aufpreis – verbaut ansonsten aber weiterhin den ursprünglichen ABA. „Und so bestellen zwar 80 Prozent der deutschen Daimler-Kunden das Spezialpaket mit vollem Bremssystem“, heißt es im SPIEGEL. „Doch von allen europäischen Kunden des Stuttgarter Herstellers optieren nur 40 Prozent für maximale Sicherheit.“

Dass vom SPIEGEL ausgerechnet der litauische Logistikriese Girteka als Kronzeuge für seine in puncto Sicherheit vorbildlichen Volvos herangezogen wird, ist wiederum schlecht recherchiert: Gerade Girteka hatte in einem seiner Großeinkäufe ab 2016 stolze 1.000 Actros mit der Serienausstattung des rein gesetzlichen ABA bestellt. Einer von ihnen hatte auf der A14 einen schweren Stauendeunfall – dabei starben zwei Frauen. Für Girteka hat diese Massenbeschaffung in der Tat einen enormen Kostenvorteil bedeutet. Allerdings bevorzugt das litauische Unternehmen derzeit DAF.

Kostengünstigere Technik in Osteuropa bevorzugt

Ansonsten ist der SPIEGEL-Vorwurf, dass vor allem ausländische Frachtführer die Serienvariante des Actros bevorzugen, nicht von der Hand zu weisen. So wie es jüngst auf der A3 bei Würzburg in einem spektakulären Unfall zu sehen war, bei dem ein rumänischer Fahrer mit einem laut Polizeiangaben Actros Baujahr 2017 ungebremst in das Heck eines Girteka-Lkw raste. Ob der Fahrer nun allerdings den verbauten Notbremsassistenten in seiner Panik übersteuert hat oder ob ein Serienmodell den Unfall nicht verhindern konnte, wird wohl, wie andere derartige Unfälle, nicht geklärt werden können.

So oder so wird es nun wirklich langsam Zeit, dass der Erfinder dieser Lkw-Notbremssysteme seine bisherige Doppelstrategie beim Actros ändert.

Schwierige Beweislage

Allerdings ist der letzte Beweis, ob selbst die moderne Technik versagt oder der Fahrer diese übersteuert hat, schwierig. Bei Unfällen, bei denen „nur“ der Fahrer zu Schaden kommt, zahlt die Versicherung anstandslos wie bei jedem anderen Auffahrunfall. Da gibt es in der Regel keine Nachforschungen. Immerhin hält die Polizei gelegentlich das Alter des Lkw fest, welches zumindest verrät, ob ein Notbremsassistent eingebaut sein muss. Aber auch ein Notbremsassistent an Bord entbindet den Fahrer nicht vor seiner Verantwortung, immer den nötigen Sicherheitsabstand einzuhalten.

Im Falle des tödlich verunglückten Scania-Fahrers auf der A10 hat ein vom Fahrzeughalter in Auftrag gegebenes Privatgutachten ergeben, dass der für die Aufzeichnungen der Fahreraktivitäten verantwortliche Scania Communicator beim Unfall komplett zerstört worden war. Der Grund kann also nicht mehr geklärt werden. Und in einem aufsehenerregenden, sechs Tage dauerndem Verfahren vor dem Amtsgericht Mannheim konnte letzten Endes nicht eindeutig geklärt werden, was der Fahrer kurz vor dem Einschlag getan hat, weil der ABA3, Baujahr 2014, laut Daimler diese Aktivitäten des Fahrers noch nicht aufgezeichnet hat. Das ist erst seit 2015 möglich. Ein Fahrer der Spedition Ihro hatte damals auf der A9 nachweisbar vor einem plötzlich auf seiner Spur auftauchenden Pannenfahrzeug einen Kick-Down gemacht.

Wie bitte: Osteuropäer leisten Widerstand in Brüssel?

Und so wenden sich die SPIEGEL-Autoren sehr ausführlich ebenjener Frage zu, warum sich Hersteller und Politiker gegen zukünftige schärfere Gesetze wenden. Dass dabei „die Osteuropäer in Brüssel Widerstand leisten“, wie der SPIEGEL schreibt, kann eigentlich nur mit dem Widerstand gegen das Mobilitätspaket verwechselt worden sein, denn die osteuropäischen Frachtführer, jedenfalls im internationalen Transport, setzen ausschließlich westeuropäische Lkw ein. Auf deutschen Autobahnen haben sie dabei laut Mautstatistik mittlerweile einen Anteil von gut 45 Prozent. Laut Dr. Erwin Petersen steigt zumindest auf den niedersächsischen Autobahnen wie der A2 ihr Anteil als Unfallverursacher gegenüber den in Deutschland zugelassenen Lkw. Was auch mit der geringeren Rate an verbauten Notbremsassistenten zu tun hat.

Anforderungen auf dem Prüfstand

Doch längst werden die neuen Vorschriften für künftige Notbremsassistenten bei der Arbeitsgruppe WP.29 der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE), einer Unterorganisation der UNO, verhandelt. Sie sollen als gesetzliche Pflicht für alle Hersteller weltweit gelten. Über die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) hat Deutschland laut SPIEGEL folgenden Vorschlag eingebracht: „Lastwagen sollen im Ernstfall bis zum Stillstand abgebremst werden, wenn sie höchstens 70 km/h fahren. Darüber hinaus sind die Anforderungen mit Rücksicht auf die Hersteller geringer. Bei Tempo 80 etwa soll auf 23 km/h abgebremst werden, bei 90 auf 39 – deutlich stärker als heute. Zudem will Scheuer erreichen, dass ein Notbremsassistent nur noch bei niedrigen Geschwindigkeiten abgeschaltet werden kann.“

Diese „Rücksicht“ ist Humbug. Grundlage ist in der Tat ein Positionspapier der beiden Automobilverbände OICA und CLEPA. Das nur in englischer Sprache vorhandene Papier ist dabei allerdings weniger eine Liste geringerer Anforderungen, sondern beschreibt ein Umdenken der europäischen Entwickler bei zukünftigen Notbremsassistenten auf Grund bisheriger Erfahrungen. Denn längst ist bekannt, dass zu hohe Fehlermeldungen einiger Systeme eben auch zu vielen Übersteuerungen und einem möglichem Abschalten durch den Fahrer führen – oder zu einer „Reizüberflutung“ durch ständige Warnungen, die, wenn es dann wirklich ernst wird, nicht mehr wahrgenommen werden.

Auch das entscheidende Thema der „idealen Bedingungen“ steht in diesem Papier auf der Agenda. Denn der Notbremsassistent geht nach der Warnphase mit seiner Teilbremsung mit 6m/sec² voll in die Eisen, bei Nässe reduziert das ABS diese Bremsleistung auf 4m/sec² – der vorher berechnete Bremsweg reicht nicht mehr aus. Hier fordern die Verbände also einen Kompromiss aus einer früheren Warnung und einer geringeren Vollbremsung, was, wenn man so will, im Grunde der Philosophie von DAF sehr nahe kommt.

Erstaunlicherweise tauchen DAF und Iveco (was hier auch am geringen Marktanteil liegt) bei den täglichen Unfallmeldungen auf deutschen Autobahnen seltener auf. Sollte es am Ende vielleicht die bessere Strategie sein, den Fahrer früher zu warnen, damit er auch früher in der Lage ist, die Bedienhoheit über den Lkw zu behalten bzw. zurück zu gewinnen?

Die Angst im Nacken

Fest steht: Die Unfallsituation auf deutschen Autobahnen ist unerträglich geworden. So gab es allein am gestrigen Montag gleich zwei Unfälle mit mehreren beteiligten Lkw: auf der A5 und auf der A 27. Also unweit der Stelle, wo der junge Berufskraftfahrer Marvin Reichert durch sein beherztes Verhalten eine größere Katastrophe verhinderte, als der rumänischen Fahrer mit einem Actros aus dem Jahr 2012, also ohne einen Notbremsassistenten aber mutmaßlich mit eingeschaltetem Tempomat, mit 89 km/h ungebremst in den Stau krachte. Der schon damals nachdenkliche „Held“ aus Fulda macht jetzt, wie angekündigt, nur noch Touren im Nah- und Regionalverkehr. Bei ihm hat die Angst im Nacken tatsächlich zu einem Umdenken geführt.

Die Verantwortung des Fahrers

Leider geht in der SPIEGEL-Reportage der Aspekt der Verantwortung des Fahrers völlig unter. Es wird nur die Forderung von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer nach einer Nichtabschaltung der Notbremsassistenten wiederholt. Dabei, so weiß es die Unfallforschung von Daimler, hatten nur rund zwei Prozent der Fahrer bei den untersuchten Unfällen mit Actros wirklich den Schalter gedrückt.

Leider, wie es Diskussionen bei Facebook immer wieder ans Licht bringen, verwechseln immer noch viele Fahrer den Notbremsassistenten mit dem Abstandsregeltempomaten. Im Januar 2019 wurde daher beim Verkehrsgerichtstag in Goslar empfohlen, dass Lkw-Fahrer, die zum Teil keinen blassen Schimmer haben, welche Technik ihr Lkw verbaut hat, endlich praktisch auf diese Systeme geschult werden sollen. Aber da auch manche Fuhrparkleiter nicht wissen, wie das System, das sie kaufen, wirklich funktioniert, ist das kein Wunder.

Keine schlüssigen Konzepte zur Fahrerausbildung

Bis heute fehlen immer noch schlüssige Konzepte, wie Fahrer es lernen können, im Fall der Fälle eines drohenden Stauendeunfalls der teuren Notfalltechnik zu vertrauen – so wie es MAN bereits 2018 eindrucksvoll demonstriert hat. Denn es ist der größte Anachronismus, dass die lebensrettende Technik zwar vorhanden ist – der Fahrer sie aber zu jeder Zeit übersteuern kann. Dieses Dilemma wird bis zum autonomen Fahren auch nicht von der UNEC aufgelöst werden.

Auch für den autofahrenden SPIEGEL-Leser gilt bis dahin weiter der Grundsatz, an den ich auch meine Frau gerne erinnere, wenn sie mit dem Pkw auf die Autobahn fährt: Aufmerksam und ohne Handy am Steuer sitzen, so wie es von den Profis verlangt wird, den Verkehr beobachten und bei einem Stau möglichst auf die linke Spur wechseln. Dann droht in der Regel weniger Gefahr durch „tödliche Laster“.

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