Halbleiterkrise trifft auch die Automobillogistik: „Logistiker sind systemrelevant“

Halbleiterkrise trifft auch die Automobillogistik
„Logistiker sind systemrelevant“

Die Krise der Automobilindustrie schlägt sich auch auf die Logistiker nieder – Prof. Stefan Iskan rät Unternehmen zu mutigem Vorgehen gegenüber den OEM.

AndSus – stock.adobe.com, Montage: Stephanie Tarateta
trans aktuell: Herr Prof. Iskan, die Pkw-Neuzulassungen lagen im Oktober deutlich unter dem üblichen Monatsniveau. Was ist die Ursache?

Prof. Iskan: Ganz klar ist das die Halbleiterkrise, die die europäische Automobilproduktion weiter ausbremst. Die Nachfrage ist da, aber aufgrund der fehlenden Zwischenprodukte wie Halbleiter ist der Output der Hersteller nicht ausreichend. Auf dem Gebrauchtwagenmarkt ist die Situation ähnlich – das Angebot ist gering und dazu noch hochpreisig.

Das trifft alles ja auch die Logistiker. Wann ist eine Besserung in Sicht?

Die OEMs spielen gegenüber ihren Partnern in den Lieferketten nicht mit offenen Karten. Ich bin maximal überrascht, wie viele Logistiker noch von kurzfristigen Zeiträumen ausgehen, in denen es die Störungen gibt. Die Halbleiterkrise, die ja auch den Maschinenbau und die Elektro- und IT-Industrie betrifft, dauert weiter an, die langen Lieferzeiten werden sich meiner Meinung nach mindestens bis zum vierten Quartal 2022 hinziehen. Erste Entspannungen bei den Halbleitern sind frühestens zum ersten oder zweiten Quartal 2023 zu erwarten. Das sagen die OEMs aber nicht. Es mangelt übrigens nicht nur an Halbleitern; auf dem Rohstoffmarkt wird auch Magnesium knapp, das etwa für die Stahlproduktion der Karosserien gebraucht wird.

Also keine Krise, sondern eine Bedrohung?

Wenn man naiv ist und sich nicht darauf einstellt, dass die Krise mindestens noch ein Jahr dauert. Natürlich geht es in erster Linie um die Existenz der OEMs, die daher nicht umsonst jede Kompensation wegdrücken. Und dann geht es – in einer partnerschaftlichen Supply Chain – auch um die Lieferanten und Logistiker. In der Summe leidet die ganze automobile Lieferkette, auch die Logistiker für die Fertigfahrzeuge sind natürlich betroffen.

Mit welchen Problemen sind die Logistikunternehmen konfrontiert?

In der Kontraktlogistik sind die Verträge seit vielen Jahren maximal variabel, die Auslastungsrisiken schlagen dadurch sehr stark etwa in den Immobilien durch. Das gilt auch für die Cross-Dock-Betreiber – wenn die avisierten Volumen nicht kommen, gibt es in der Kalkulation erhebliche Lücken. Da kann man momentan gar nicht über Strategien sprechen; es geht vielmehr darum, die Liquidität abzusichern und wenigstens ein Grundrauschen zu akquirieren, damit nicht alle in Kurzarbeit müssen.

Prof. Stefan Iskan
Prof. Stefan Iskan ist Leiter des Master-Studiengangs Logistik an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen.
Und in der Transportlogistik?

Die erlebt in der momentanen Lage sehr starke Schwankungen zwischen Tagen mit Minderauslastung und Tagen mit Überauslastung, und das in Zeiten des Fahrermangels und deutlich gestiegener Frachtkosten auf dem Markt. Hier passt es auch nicht, weil es in den Mehrjahresverträgen mit den OEMs meist eine Preisbindung gibt.

Was können Logistiker tun, um Kompensationen zu bekommen?

Die Branchenunternehmen adressieren meiner Meinung nach zu oft an der falschen Stelle ihre Probleme, nämlich erst einmal bei dem verhandelnden Logistiker und nicht beim Geschäftsführer oder Vorstand. Dabei sollte man strategisch mit einer eher hohen Zahl an Kompensationsforderungen kommen. Denn in der Regel wird jede Nachverhandlung abgewiesen; aber je höher der gezeigte Finanzschmerz, desto höher ist auch die Bereitschaft, ansatzweise darüber zu reden.

Bestehen denn überhaupt rechtliche Ansprüche?

Die OEMs geben in ihren Rahmenverträgen in der Regel kein Auslastungsversprechen. Logistiker können sich bei Kompensationsforderungen daher eher auf einen Passus berufen, der oft zu finden ist und sinngemäß lautet, dass signifikante Mengenabweichungen auch eine Preisanpassung bedingen oder Grundlage für Vertragsgespräche sind.

Zugeständnisse an die Logistiker sind also angebracht?

Natürlich, denn es gibt immer weniger Mitspieler, allein in der Gebietsspedition. Die Konzerne ziehen sich zunehmend zurück. Die OEMs haben daher auch ein Interesse daran, manche der vorwiegend inhabergeführten Mittelstandsunternehmen zu stützen, weil diese für sie absolut wichtig sind und in der Region und sehr kurzfristig durch keinen anderen zu ersetzen sind. Ein Ansatz der Zukunft muss für die Logistiker daher sein, sich mit ihren Datenanalysen und Systemumgebungen tief in die Supply Chain der Fahrzeughersteller einzugraben.

Sie fordern also auch mehr Mut von den Unternehmen?

Absolut. Viele Logistiker lassen sich von den Preisrunden mit den entsprechenden Rollenspielen der OEMs so beeindrucken, dass sie selbst nicht realisieren, wie systemrelevant sie sind und dass sie auf gewissen Verkehrsachsen und an wichtigen Knoten an der Supply Chain nicht zu ersetzen sind. Phantomwettbewerb nennt sich das, wenn der Einkäufer den Preis des Logistikers zu drücken versucht, aber es vermutlich gar kein Zweitangebot gibt. Es gibt glücklicherweise auch leistungsstarke, selbstbewusste Spediteure, die lassen auch bewusst Verträge auslaufen, etwa wenn dafür ein Gegengeschäft verlangt wird – zum Beispiel die Abnahme einer bestimmten Anzahl von Fahrzeugen.

Im Transportbereich ist der Wettbewerb doch erheblich …

Das ist richtig, Relationsspediteure müssen mehr Angst haben, weil Verlader leicht auf dem Spotmarkt auf eine Masse von Anbietern zurückgreifen können. In Zeiten des Mangels bei Personal, Immobilien und Fahrzeugequipment werden wir aber eine noch stärkere Systembindung an die guten Unternehmen erfahren. Auch die neuen Logistikplattformen bringen es da nicht allein – es klappt nur in Verbindung mit der Verfügbarkeit über die genannten Ressourcen.

Die Fahrzeugindustrie ist in einem Transformationsprozess. Mit welchen Folgen für die Logistik?

Bei den meisten Herstellern haben bis 2030 die großen Betriebspakte Gültigkeit. Wenn diese auslaufen, werden manche Mitarbeiter demografiesensibel und sozialverträglich untergebracht werden müssen. An manchen Knotenpunkten müssen die Dienstleister also damit rechnen, dass es wieder mehr zum Insourcing von Leistungen durch das OEM-Stammpersonal kommt.

Gibt es durch die E-Mobilität neue Prozesse und damit neue Logistikaufgaben?

Den Batterie-Inbound-Prozess sehe ich nicht als neue Spielwiese der Logistikdienstleister. Chancen gibt es eher im Recycling und im Netzwerk zur Wiederaufbereitung von Batterien und im Aftersales-Geschäft. Dabei steht der Mittelständler aber im Wettbewerb mit den Großen der Branche.

Was würden Sie den Unternehmen für einen Ratschlag geben?

Sich schlau machen, punktuell externe Expertise reinholen und sich überlegen, in welche Richtung die Welt geht – ihre strategische Komponente müssen sie stark verbessern. Das Diversifizieren funktioniert, indem man mit den Erfahrungen aus dem Automotive-Bereich die erworbenen Kenntnisse und das Prozessverständnis auf andere Branchen transferiert und zum Beispiel das Know-how in der Beschaffungslogistik für Konsumgüter abbildet.

Als Macher der Lieferkette verfügen die Logistiker doch auch über viele Daten …

Die Dienstleister müssen sich aber deutlich stärker mit dem Thema Datenanalyse auseinandersetzen, das kann auch ein Geschäftsmodell sein. Unsere Transport- und Logistikdienstleister wären gut beraten, ihr Wissen mehr auf gewinnbringende mittelständische Partner zu transferieren. Analysen zeigen nämlich, dass Großkonzern-Kunden oftmals außer Grundrauschen kaum Rendite abwerfen, sondern vielmehr eigentlich einem oftmals nur Ärger einbrocken.

Wie leicht ist es für die Unternehmen, sich in andere Geschäftsbereiche zu wagen?

Das Stichwort für ein neues Geschäftsfeld ist Control-Tower. Die globalen Logistikkonzerne haben gebrochene Modi zwischen den einzelnen Geschäftseinheiten, die kontraproduktiv zu einer kompletten Supply Chain sind. Der Mittelstand hat daher gute Möglichkeiten, sich in Produktgegebenheiten wie eine Control-Tower-Lösung einzuarbeiten und das Feld nicht nur den Beratern zu überlassen. Denn nur die Spediteure haben das ehrliche Interesse, mit sauberen Stammdaten zu arbeiten und damit eine Prozessverbesserung herbeizuführen – denn das macht sich in ihrer Auslastung und ihrer Rendite direkt bemerkbar.

Welche Weichen sollten Unternehmen jetzt stellen?

Wir befinden uns in einer neuen Phase des Wirtschaftsgeschehens, geprägt von der Coronapandemie und dem Thema Industrie 4.0. Das ist der Unterschied zur Finanzkrise 2008: Sparen allein hilft nicht mehr, weder dem Staat noch den Unternehmen, sondern man muss in Form der Digitalisierung in die Zukunftsfähigkeit investieren. Vorsicht jedoch vor opportunistischem Kurzfrist-Denken. Manchmal wirkt sich eine Investition negativ auf die Rendite aus, aber sie sichert den Umsatz von übermorgen ab. Mein Respekt gehört denen, die diese Weitsicht haben und das heute auch durchgesetzt bekommen.

Zur Person

  • Prof. Dr. Stefan Iskan ist Gründer der Plattform „Supply Chain Machine“ und hat an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen die Professur für Logistik und Wirtschaftsinformatik, insbesondere Automotive SCM und Digitalisierung, inne

  • Davor war Iskan in der Konzernleitung von DB Mobility Logistics Stratege im Geschäftsfeld Transport und Logistik in Berlin und Istanbul und hatte leitende Positionen bei Schenker und der Deutschen Post Consult

  • Im Verlag Campus ist vor kurzem sein aktuelles Buch „Zukunftsbranche Logistik – Zwischen digitaler Industrialisierung und analoger Herausforderung“ erschienen