Interview Mobil Elektronik: Absicherung von Lenksystemen

Interview Mobil Elektronik
Absicherung von Lenksystemen

Mobil Elektronik ist für seine Lenksysteme bekannt. Wolfgang Stadie, Leiter Vertrieb und Marketing, über ein völlig neues Sicherheitslevel in der Spezialfahrzeugbranche.

Absicherung von Lenksystemen
Foto: Julian Hoffmann
Herr Stadie, kommen wir gleich und ohne Umschweife zum aktuellsten Projekt Ihres Unternehmens: Mobil Elektronik hat jüngst ein neues Lenk­system nach der ISO-Norm 26262 entwickelt, welches den Safety-Level ASIL-D erreicht. Vielleicht können Sie kurz erläutern, was es mit diesen Regularien auf sich hat?

Stadie: Lassen Sie mich etwas weiter ausholen: Die ISO-Norm 26262 ist eine Unternorm der IEC 61508, die auf den Automotive-Bereich zugeschnitten wurde und sehr streng ausgelegt ist. Bei einem unter dieser Norm hergestellten elektronischen Produkt wird der gesamte Lebenszyklus unter dem Sicherheitsaspekt betrachtet – wodurch nicht zuletzt auch ganz andere Anforderungen an die Lieferanten-Kunden-Beziehung gestellt werden.

Es gilt, das Produkt von der reinen Anfrage bis hin zum Ende der Produktion zu durchleuchten. Eine Baustelle davon ist ganz klar die Entwicklung. Wer die ISO-Norm 26262 erfüllen möchte, muss nachweisen können, dass sein Entwicklungsprozess eben dieser entspricht. Das ist mit einem großen Aufwand verbunden. Manpower und Know-how ist gefragt, viele Kontrollstationen müssen neu erdacht und eingerichtet werden. Momentan gilt diese besagte ISO-Norm zwar nur für Straßenfahrzeuge bis zu einem zulässigen Gesamt­gewicht von 3,5 Tonnen, doch in absehbarer Zeit wird sie auch für schwerere Fahrzeuge kommen. Das wird letztendlich die ganze Branche beschäftigen – und dort sehe ich uns jetzt klar in der Vorreiterrolle.

Letzten Endes auch wegen eines Großkundenauftrags: Parallel zu unserem internen Entwicklungsziel, die ISO-Norm 26262 darstellen zu können, kam die Anfrage auch von extern. Dem wollten wir natürlich gerne entsprechen. Auch auf das Safety-Level ASIL-D möchte ich kurz eingehen: Vor der Produktion eines Fahrzeuges muss vom Fahrzeughersteller eine Gefahren- und Risikoanalyse durchgeführt werden, aus der am Ende ein Safety-Level hervorgeht, dem das zu entwickelnde Produkt entsprechen muss. In der Regel muss ein Safety-Level SIL-2 – oder in ASIL gesprochen – ASIL-C erreicht werden. In diesem speziellen Fall aber kam bei der Gefahren- und Risikoanalyse heraus, dass ASIL-D erforderlich ist. Und hier schließt sich der Kreis: Um ASIL-D erfüllen zu können, muss man der ISO-Norm 26262 gerecht werden.

Würden Sie uns einen Einblick geben, wie viele Menschen hinter der Entwicklung dieses neuen Systems nach dem Safety-Level ASIL-D stehen – und welche Stationen die Technik in Ihrem Reifungsprozess durchlaufen musste?

Stadie: Insgesamt haben zehn Entwickler daran gearbeitet, das neue System auf den Safety-Level ASIL-D zu heben. Drei Kollegen beschäftigten sich intensiv mit der Hardware, sieben wurden damit beauftragt, die Software neu aufzusetzen. Wie ich schon erwähnt habe, ist der Prozess unter der ISO-Norm 26262 mit einem erheblichen Aufwand verbunden. Von der Anfrage des Kunden bis zum Ende der Produktion müssen wir beispielsweise jede Änderung bewerten, uns versichern, dass sie keine Auswirkungen auf die Sicherheit des Systems hat. Um genau das sicherzustellen, haben wir einen neuen Prozess mit insgesamt acht Qualitätschecks entwickelt. Schon die Anfrage des Kunden wird von uns bewertet – und auch beim Produktions­ende führen wir noch einmal eine Analyse durch, ob und was wir tun müssen, um beispielsweise die Ersatzteile so zu bevorraten, dass sie der vorher festgelegten Safety-Norm entsprechen.

Sie haben eine komplett neue Steuerungsgenera­tion entwickelt – von den Hardwarekomponenten bis zur Softwarearchitektur. Erhöht so ein völlig neues System nicht im ersten Moment die Fehleranfälligkeit, statt sie zu reduzieren?

Stadie: Die ISO-Norm 26262 zu erfüllen ist zwar recht aufwendig, hat aber einen riesigen Vorteil: Man muss viele, viele Tests durchführen. Bei der Softwareprogrammierung muss man in jedem Schritt der Entwicklung einen Test absolvieren. Falls ein Fehler auftritt, kann er schnell erkannt und behoben werden. Genau darauf zielt der ISO-26262-konforme Entwicklungsprozess ab – er stellt sicher, dass keine Produkte in den Verkehr kommen, die nicht zu Ende gedacht sind. Diese Frage kann ich also mit einem klaren Nein beantworten.

Sie bieten unterschiedlichste Hilfslenksysteme an – von der einfachen, lenkbaren Nachlaufachse über gelenkte, angetriebene Achsen bis hin zu Hilfslenk­systemen für Tandem- und Tridemanhänger. Wie können Sie diese Vielfalt mit Ihrem mittelständischen Unternehmen darstellen?

Stadie: Wir hören dem Kunden intensiv zu. Für jedes Projekt – egal, ob es sich dabei um ein einzelnes Fahrzeug oder eine Großserie handelt – erstellen wir eine komplette Liefer- und Leistungsspezifikation. Dafür benötigen wir natürlich ein großes Know-how. Schon
unsere Vertriebsmitarbeiter sind im Thema Zuhause. Dazu haben wir unseren sogenannten "ME-PEP" – den Mobil-Elektronik-Produktentwicklungsprozess –, welcher der ISO-Norm 26262 folgt und uns hilft, die Anfragen zu bewerten und hoch konzentriert anzugehen. Das empfinde ich in der Tat als sehr untypisch für eine Firma mit rund 100 Mitarbeitern.

Mobil Elektronik
Julian Hoffmann
In der Firmenzentrale werden Lenksysteme und Steer-by-Wire-Anwendungen entwickelt.
In welchen Branchen und in welchen Ländern sind Sie mit Ihren Systemen vertreten? In welchen Stückzahlen fertigen Sie?

Stadie: Wir beginnen tatsächlich bei der Stückzahl 1. Die Kunden schätzen es, dass ein einzelnes Fahrzeug bei uns genauso betrachtet wird wie eine Großserie. Dabei greifen wir auf Standardkomponenten unseres Baukastens zurück. Wir möchten das für den Auftraggeber optimale System zu vertretbaren Kosten entwickeln – so oder so. Die für uns größte Branche aber bleibt das Lkw- und Bus-Segment. Dort beliefern wir vorwiegend Unternehmen, die mittlere Serien von zehn bis 50 Fahrzeugen pro Jahr produzieren. Auch in der Baumaschinenbranche und bei den Mobilkranen, von denen wieder selten mehr als 100 Stück pro Jahr abgesetzt werden, werden unsere Systeme verbaut. Eher zu den Exoten zählen innerbetriebliche Fahrzeuge, Flugzeugschlepper, automatische Plattformen, die hohe Gewichte transportieren müssen, und Staplerfahrzeuge. In diesem Bereich sprechen wir häufig von kundenspezifischen Fahrzeugen, unsere Steer-by-Wire-Lösungen sind da sehr gefragt. In welchen Ländern unsere Systeme vertreten sind, vermag ich kaum zu beantworten. Da wir große OEMs und Spezialfahrzeughersteller zu unseren Kunden zählen, fahren die Fahrzeuge mehr oder minder auf der ganzen Welt. Besonders stolz sind wir darauf, bei namhaften Kunden in Japan und Korea Fuß gefasst zu haben.

Sie sprachen gerade schon von Steer-by-Wire-Lösungen aus Ihrem Hause. Die ersten Anwendungen dieses Systems hat Ihr Unternehmen bereits im Jahre 1973 im Segment der Schwerlasttransporte vorgestellt. Halten Sie es für möglich, dass diese Technologie in Zukunft in gängigen Lkw und Bussen Einzug halten wird?

Stadie: Wir waren da zunächst euphorisch, aber dann wurde die Einführung von Steer-by-Wire doch nach hinten geschoben. Das liegt daran, dass elektrische Servo-Unterstützungssysteme viele Vorteile von Steer-by-Wire ebenfalls bieten können – beispielsweise Assistenzsysteme wie die Einpark-, Spurhalte- und Seitenwindhilfe sowie eine variable Lenkkrafteinstellung über die Fahrgeschwindigkeit bis hin zum auto­nomen Fahren. Der große Vorteil der Steer-by-Wire-Anwendung ist, dass sie an Bauraum spart und flexibler eingesetzt werden kann. Wenn man in Arbeitsmaschinen beispielsweise den Fahrersitz samt Lenkrad oder gar die ganze Kabine drehen möchte, ist ein ESP-System untauglich. Nur mit Steer-by-Wire kann man auf mechanische Übertragungsglieder wie die Lenksäule verzichten. In diesem Segment sehen wir weiterhin einen großen Bedarf nach unseren Systemen, die auch bei kleinen Stückzahlen zu moderaten Kosten gefertigt werden können. Aktuell realisieren wir bereits Steer-by-Wire-Lösungen mit Straßenzulassung. Die Zukunftsaussichten sind rosig.

Wo sehen Sie Mobil Elektronik in Sachen Marktanteil? Wohin will das Unternehmen mittel- und langfristig steuern?

Stadie: In der Breite, in der Vielseitigkeit unserer Systeme sind wir unschlagbar. Wir entwickeln Applikationen für Prototypen genauso wie für die Großserie, für Traktoren genauso wie für Lkw, Hafenfahrzeuge oder Stapler. In Zukunft wollen wir das Thema Steer-by-Wire massiv ausbauen. Wir suchen fleißig Mitarbeiter im Vertrieb und in der Entwicklung. Wir werden kein Großkonzern werden, doch das müssen wir auch nicht. Mobil Elektronik ist komplett in Familienhand, konzern- und bankenunabhängig. Aktuell wachsen wir jährlich um zehn bis 15 Prozent, unser Umsatz lag im letzten Jahr bei 24 Millionen Euro. Wir werden weitere Branchen und Märkte erschließen.

Zur Person: Wolfgang Stadie

Wolfgang Stadie ist seit Anfang 2016 als Leiter Vertrieb & Marketing bei Mobil Elektronik tätig. Der gebürtige Westfale ist gelernter Maschinenbauingenieur. Seit etwa 20 Jahren arbeitet Stadie bereits im Vertrieb verschiedener Unternehmen der Sondermaschinenbaubranche. Seine beruflichen Stationen hatten dabei immer einen starken Projekt- und Customized-Fokus. Stadie ist ein leiden­schaftlicher Vertriebler, der es liebt, auf Sonderwünsche seiner Kunden einzugehen.