Es sind wahrlich gerade keine leichten Zeiten für einen Reisebusstart. Auch wenn es "nur" der große unter den kleinen Minibussen der Dortmunder Minibus-Schmiede ist, der als Sprinter Travel 75 Ende 2019 bereits vorgestellt wurde, so wurde er doch genauso von der Coronapandemie getroffen wie seine großen Brüder. Sein Verkaufsstart fiel genau in den ersten Lockdown und somit mitten in den kollabierenden Reisemarkt – über Verkaufszahlen will man da lieber erst gar nicht reden bei Mercedes. Busse standen still und wurden abgemeldet – wer denkt da schon an einen neuen Mini, wenn die Großbusse arbeitslos herumstehen? Verkauft wurde da schon eher die nunmehr zweiachsige Stadtvariante Sprinter City 75, die mit der gleichen, im eigenen Hause entwickelten Hochlast-Hinterachse mit serienmäßiger Luftfederung vorfährt wie der Reisewagen, die den beiden Bussen ein zulässiges Gesamtgewicht von bis zu 6,8 Tonnen beschert. Ein wichtiges Nutzlastsegment, das Daimler im Gegensatz zu Traton/Volkswagen nicht dem Wettbewerber Iveco alleine überlassen wollte. Das umso mehr, als der große Reisewagen, der dezidiert als kleingruppentaugliche Alternative zum Großbus Tourismo platziert wird, nunmehr die einzige pure Reisevariante des gut sortierten Portfolios der Dortmunder ist.
Wem der gut 8,5 Meter lange Schönling mit seiner großen Panoramascheibe und der raffiniert zugepfeilten Seitengrafik zu voluminös ist, der muss wohl oder übel auf die Baumuster Transfer 35 und 45 ausweichen, die sich nicht ganz so üppig ausstatten lassen wie das neue Topmodell. Die Vorgängerbaureihe hatte hier drei Modelle in petto mit dem Travel 45, 55 und 65 – allerdings war auch bei maximal 7,7 Metern und 5,5 Tonnen schon Schluss. Der Sechszylinder der bald auslaufenden Baureihe OM 642 mit 140 kW (190 PS) war auch damals schon nur gegen Aufpreis im 65er-Modell zu bekommen. Das Aggregat mit 440 Nm an maximalem Drehmoment wird konzernweit zeitnah durch den neuen OM 654 ersetzt, der schon in der E-Klasse als Vierzylinder mit 400 Nm werkelt – also vergleichbare Leistungsdaten wie der OM 642 hat. Der artverwandte OM-656-Sechszylinder als stärkster Mercedes-Seriendiesel aller Zeiten mit bis zu 340 PS und 700 Nm wird dem Vernehmen nach wohl nicht im Minibus Einzug halten. Nach dem Aussterben des Achtzylinders und des V6-Aggregats im Großbus wird dann auch die kleine Klasse dem allgegenwärtigen Trend zum Downsizing anheimfallen. Daher lassen wir uns gerne noch mal von dem Aggregat mit großer Laufkultur und ausreichend Power in Verbindung mit der adaptiven 7-Gang-Wandlerautomatik 7G-Tronic-Plus verwöhnen, solange es noch geht. Auch wenn man es heute nicht mehr allzu laut sagen darf, aber Hubraum und Kraft sind eben kaum zu ersetzen – zumal ohne unterstützende E-Power. Dazu später mehr.
Hohe Effizienz zeigt sich im guten Verbrauch
Die hohe Effizienz des Sechstöpfers zeigt sich vor allem im guten Verbrauch, der trotz einer Tonne mehr Gewicht nur rund einen Liter über dem des Travel 65 aus dem vergangenen Test liegt (und zudem deutlich unter dem der beiden zuletzt getesteten Sprinter City 65 und Mobility 45, die sich auf der schweren Stadtrunde 21,6 Liter beziehungsweise über Land 16,1 Liter genehmigten). Beim sanften Cruisen über die altehrwürdige tempolimitierte Solitude-Rennstrecke kann der Bus sogar die 10- Liter-Marke nach unten knacken. Und auf der Autobahn konnten wir auf Rolletappen bei 2.200 anliegenden Touren gute 12,7 Liter herausfahren. Mercedes setzt hier mittlerweile nur auf zwei recht lange Achsübersetzungen, die kurze 3,9er-Übersetzung wird nicht mehr angeboten. Einziger Wermutstropfen ist die etwas fummelige Lenkstockbedienung des Getriebes, die nicht so recht zu einem Nutzfahrzeug passen will. Das generelle Geräuschniveau des Wagens ist schön niedrig, von einer etwas rauschenden Außenschwingtür und zeitweise hörbaren, unschönen Lastwechselgeräuschen im hinteren Antriebsstrang einmal abgesehen. Grund hierfür ist ein Bauteil, das nicht von Daimler kommt und wie aus der Zeit gefallen scheint: die Wirbelstrombremse von Telma, die gefühlt seit 50 Jahren baugleich angeboten wird und mit 370 Nm Bremsleistung auch nicht gerade als Asphalttanker durchgeht. Die Wärmeenergie, die durch den zugeführten Strom entsteht, wird nicht genutzt – genauso wenig wie die potenzielle Rekuperationsenergie, die mittels E-Motor einfach zurückzugewinnen wäre und dem Bordnetz sicher sehr guttun würde. Unverständlich, warum es Daimler oder schwäbisch-clevere Zulieferer bis heute nicht schaffen, hier eine sinnvolle elektrifizierte Variante zu basteln, die ganz nebenbei noch Strom erzeugt, statt ihn sinnfrei zu "verheizen". Geeignete Bauteile dürfte es im Daimler-Konzernregal zuhauf geben!
Kräftig genutzt wurde dieses schon beim Cockpit, bei dem sich die Dortmunder weitgehend bei den Van-Kollegen bedient haben, mal abgesehen von dem eher unschönen Hartplastikaufbau, in dem die busspezifischen Tasten untergebracht sind, was im starken optischen Widerspruch steht zum sonstigen Hightech-Ambiente mit Lenkrad-Touchpads und großem 10,25-Zoll-MBUX-Monitor. Das dürfte eigentlich besser gehen heutzutage! Auch die große Panoramascheibe, die beste Aussichten für Fahrer und Fahrgäste ermöglicht, weicht vom üblichen Van-Baumuster ab. Hier ist sie mit einem sehr störenden Sensorgehäuse in der Mitte der Scheibe verbunden, wo sonst die Dachkante beginnt. Vorteil: Jetzt können fast alle Sicherheits- und Assistenzsysteme vom Van inklusive Notruftaste e-Call geordert werden – mit Ausnahme des Abbiegeassistenten. Hier ist der eigene, hinten breitere Karosserieaufbau im Weg. Der optionale aktive Spurhalteassistent hat uns allerdings weniger überzeugt, lenkt er doch nicht wie üblich aktiv in die Spur zurück, sondern gibt nur eine schwache Vibration im Lenkrad ab, um den Fahrer zu warnen. Der findet im Pkw-artig geschnittenen Cockpit einen sehr modernen Arbeitsplatz vor, der kaum Wünsche offenlässt. Ob die weit vorne unter der Scheibe angebrachten Becherhalter und das Ablagefach nun der Weisheit letzter Schluss sind, überlassen wir dem persönlichen Gusto – uns gefiele der optionale Getränkehalter direkt unterhalb der schicken Klimasteuereinheit, die Mercedes auch im Großbus Intouro zweitverwertet, da schon etwas besser. Und wenn wir schon dabei sind: Der Warnblinkschalter dürfte optisch ruhig etwas mehr hervorstechen.
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