Recht aktuell: Die entscheidende Frage der Sicht

Recht aktuell
Die entscheidende Frage nach der Sicht

Urteile gegen Lkw-Fahrer machen noch einmal klar: Sie können sich nicht darauf berufen, dass die Radfahrer ihrerseits die beschränkte Sichtmöglichkeit eines Lkw-Fahrers in Betracht ziehen müssen.

Recht aktuell FF 12/2021, Toter Winkel
Foto: Jan Bergrath

Der Rechtsabbiegeunfall geschah im Mai 2020 mitten in Köln. Der Fahrer eines Gliederzugs wollte am belebten Friesenplatz rechts abbiegen. Dabei überrollte er eine 55-jährige Radfahrerin. Am 14. September 2021 musste er sich vor dem Amtsgericht Köln wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Wichtigstes Beweismittel war dabei eine der Unfallstelle gegenüberliegende Überwachungskamera. In dem Video sei zu sehen, so der Pressesprecher des Amtsgerichts, "wie zwei Radfahrer rechts an dem Lkw vorbeifahren und sich in dem für sie gekennzeichneten Bereich positionieren, um auf Grün zu warten. Das spätere Opfer kommt als Dritte angeradelt, bleibt hinter den beiden anderen stehen. Als die Ampel umspringt, fahren die ersten beiden Radler vor dem Lkw los, das spätere Opfer jedoch bleibt auf Höhe des Lkw – für den Fahrer durch die A-Säule und den rechten Außenspiegel nahezu völlig verdeckt." Doch nicht nur das. Laut Urteil – sechs Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung – hätte der Fahrer die Radfahrerin 17 Sekunden lang sehen müssen, wie sie sich auf dem Radweg dem Lkw näherte und genau im toten Winkel stehen blieb. Eine detaillierte Besprechung findet sich im Blogbeitrag "Sehen und gesehen werden" auf eurotransport.de.

"Es ist unbefriedigend, dass hier oft einseitig Urteile gefällt werden", sagt Rechtsanwalt Matthias Pfitzenmaier. "In dem hier geschilderten Fall mag es sein, dass der Lkw-Fahrer die Radfahrerin hätte erkennen können. Dann hätte er aber andere Sichtfelder vernachlässigt. Die Sorgfaltspflichten, die das Gericht von den Fahrern verlangt, stehen oft im Widerspruch zur tatsächlich bestehenden Überforderungssituation." Zum bauartbedingten toten Winkel des MAN TGX äußerte sich das Amtsgericht Köln wie folgt: "Dieser Umstand ist bei der Urteilsfindung berücksichtigt worden. Das Gericht hat die Fahrlässigkeit darin gesehen, dass der Angeklagte in Kenntnis des toten Winkels nicht in ausreichendem Maße im Rückspiegel die sich annähernden Fahrradfahrer beobachtet hat. Diese hätte er entweder bei Einfahrt in den toten Winkel abzählen und dann in entsprechender Anzahl wieder abfahren lassen müssen, oder er hätte so langsam losfahren müssen, dass alle für ihn nicht sichtbaren Fahrradfahrer genug Zeit haben, den toten Winkel wieder zu verlassen."

Dazu folgt der Verweis auf ein Urteil des OLG Düsseldorf vom 23. Juli 2019 (1 U 170/18). Es handelt sich zwar um eine Entscheidung in einer Zivilsache, der Sorgfaltsmaßstab dürfte aber auf das Strafrecht übertragbar sein. "Trotz der technischen Schwierigkeiten muss nach Paragraf 9 Absatz 3 StVO von dem wartenden Lkw-Fahrer verlangt werden, dass er sich vor dem Rechtsabbiegen vergewissert, dass sich rechts neben seinem Fahrzeug keine Radfahrer eingeordnet haben. Er muss zumindest so lange mit dem Abbiegen warten, bis sichergestellt ist, dass Radfahrer, die möglicherweise im toten Winkel vor der Ampelanlage warten und dann bei Grün anfahren, in seinen Sichtbereich gelangt sind. Der Lkw-Fahrer kann sich nicht darauf berufen, die Radfahrer müssten ihrerseits die beschränkte Sichtmöglichkeit eines Lkw-Fahrers in Betracht ziehen und ihrerseits hierauf Rücksicht nehmen. Kann er den Raum neben seinem Fahrzeug nicht einsehen, so muss er sich so langsam vortasten, dass ein etwa vorhandener Radfahrer sich auf sein Fahrmanöver einrichten und das abbiegende Fahrzeug notfalls auf der Stelle angehalten werden kann."