Jonas und ich haben uns vor dem Gerichtsgebäude verabredet, und als ich ankomme, steht er schon da: Blaumann, Halstuch, Zigarette im Mund. Ich bin ein klein wenig überrascht, weil ich ihn aus unserem Gespräch in der Kanzlei ganz anders kenne. Ich weiß, nicht wenige Gerichte legen Wert darauf, dass man ihnen auch durch sein Äußeres, also mit der Kleidung, in der man erscheint, Respekt erweist. Bei manchen Gerichten herrscht sogar für die Verteidiger Krawattenzwang. Das Thema spreche ich auch direkt an. Allerdings kenne ich dieses Gericht im ganz hohen Norden, wo sowieso vieles entspannter ist, sehr gut und halte es daher nicht für nötig, Jonas sozusagen neu einzukleiden. Wir schaffen es auf den letzten Drücker zum Saal. Über den Fall können wir nicht mehr reden. Das haben wir auch oft genug im Vorfeld getan. Trotzdem ist Jonas ziemlich unruhig. Als wir vor der Gerichtstür stehen, werden wir gerade aufgerufen. Ich klopfe ihm auf die Schulter und bitte ihn, erst mal durchzuatmen, um zur Ruhe zu kommen. Ich sage ihm noch einmal, dass die Richterin ein bisschen streng wirkt. Juristisch ist sie aber recht gut drauf. Als ich gerade das letzte Wort gesprochen habe, geht die Tür auf. Ein geschätzt 40 Jahre alter Mann, weißes Hemd, weiße Krawatte, schwarze Robe, steht in der Tür und meint: "Kommen Sie doch rein, die Herren. Ich beiße nicht."
Ich bin völlig verdutzt. Das merkt der Richter und macht mich gleich darauf aufmerksam, dass er das Dezernat übernommen hat. Die Richterin ist jetzt beim Landgericht. Okay. Wir setzen uns, und ich packe meine Bücher aus. Das scheint der an sich freundlich wirkende Richter mit Argwohn zu betrachten. "So viel ist da nicht nötig für so einen kleinen Fall", meint er. "Liegt doch alles offen auf der Hand." – "Das sehe ich genauso", erwidere ich. "Eine in der Tat bösartige Messstelle." Der Richter schaut verdutzt: "Wieso das denn?" – "Nun ja", sage ich, "eigentlich ist das Ding ja eine ausgewiesene Kraftfahrstraße. Zwei Fahrspuren in jede Richtung. Eine bauliche Trennung durch erhöhte Leitplanken. Aber ein paar Hundert Meter vor der Messstelle fällt diese bauliche Trennung auf einmal weg. Da wird dann geblitzt." – "Na eben", meint der Richter. "Ist doch alles ganz klar. Keine bauliche Trennung gleich keine Kraftfahrstraße." Mir verschlägt es fast die Sprache. "Seit wann bitte", erläutere ich meine Auffassung, "geht es nicht mehr um die Beschilderung, sondern um das Umfeld? Mag ja sein, dass die Leitplanke oder der Mittelstreifen Voraussetzung für eine Kraftfahrstraße ist. Aber da kann doch mein Mandant nichts dafür, wenn hier eine Kraftfahrstraße nicht beendet wird, obwohl die Voraussetzungen für dieselbe nicht mehr vorliegen. Mein Mandant muss ja wohl nicht einschätzen, ob das hier berechtigterweise noch eine Kraftfahrstraße ist oder nicht." – "Aber sehen muss er es", behauptet der Richter. "Und das ist hier offenkundig, dass es keine Kraftfahrstraße ist. Er durfte nur noch 60 km/h fahren. 79 km/h ist er gefahren. Das Bußgeld ist berechtigt."
Verfahren wird ausgesetzt
Ich nehme mir ein Zettelchen, schreibe für Jonas drauf: "Der ist ja Hardcore, aber wir schaffen das!" Immerhin bin ich auch auf diese Argumentation vorbereitet und zitiere aus einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt. Da heißt es: Es obliegt gerade nicht dem Verkehrsteilnehmer, durch eigene Definitionshoheit zu entscheiden, welchen Regelungen er sich unterwerfen will. Ist eine Straße nicht mit einem Zeichen 331.1 (Kraftfahrstraße) versehen, dann ist es keine Kraftfahrstraße. Dabei spielt es keine Rolle, wie sie ausgebaut ist. "Und das, Herr Richter", erkläre ich, "muss auch umgekehrt so gelten!" Der Richter guckt etwas verdutzt und bittet um die Frankfurter Entscheidung. Minuten der Ruhe. Dann schaut er uns an und sagt: "Ich bleibe bei meiner Auffassung." Ich entgegne: "Okay, dann greifen wir auch noch zur Verkehrsrechtsbibel Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Auflage." – "Die haben wir nicht. Wir haben nur die 45. Auflage im Gericht", meint der Richter. "Macht nichts", erwidere ich. "Das steht in der 42., 43., 44., 45. und 46. Auflage wortgleich." Ich erhebe mich mit dem Kommentar in der Hand und lese vor: "Die Eigenschaft als Autobahn oder Kraftfahrstraße wird ausschließlich durch die rechtsgestaltenden Verkehrszeichen 330.1, 331.1 begründet und nicht begrifflich oder nach dem Ausbau der Straße; Beginn und Ende richten sich demgemäß nach dem Standort der Verkehrszeichen 330.1 und 331.1."
Der Richter schaut mich an. Ich betone: "Beginn und Ende! Und hier wurde die Kraftfahrstraße gerade nicht durch ein entsprechendes Verkehrszeichen beendet." Dem Richter scheint es immer noch nicht zu reichen. Langsam reicht es mir aber als Verteidiger. Ich weise auf eine Entscheidung des Bayerischen Oberlandesgerichts hin und frage, ob ich die auch zitieren soll. "Nein", sagt der Richter. "Danke schön, ich möchte das Verfahren lieber aussetzen." Eine passende Entscheidung des Amtsgerichts Weißenfels biete ich auch noch an. Der Richter benötigt anscheinend kein weiteres Material. Er schreibt sich nur die Fundstelle auf und meint, dass er es nachprüfen wird. Das Verfahren wird ausgesetzt. Offensichtlich ist der Richter nicht bereit, unserer Argumentation, die der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre entspricht, zu folgen. Es sei doch anerkannt, erkläre ich Jonas, als wir das Gericht verlassen haben, dass eine Kraftfahrstraße nicht vorliegt, weil es jeweils zwei Fahrbahnen in jede Richtung gibt und außerdem eben einen Mittelstreifen oder eine Mittelleitplanke. Sie muss auch als Kraftfahrstraße ausgeschildert sein. Und wenn das so ist, dann muss das umgekehrt genauso gelten. Ich bin etwas frustriert und der Verzweiflung nahe.
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