Lkw-Experte Roman Mathyssek: Die Trends in der Nutzfahrzeugindustrie

Lkw-Experte Roman Mathyssek
Die Trends in der Nutzfahrzeugindustrie

Lieferzeiten, China, alternative Antriebe, Automatisierung: Lkw-Experte Roman Mathyssek von der Unternehmensberatung Arthur D. Little spricht über Trends und Herausforderungen.

Die Trends in der Nutzfahrzeugindustrie
Foto: Arthur D. Little
Herr Mathyssek, Sie sind als Unternehmens­berater spezialisiert auf die globale Nutzfahrzeugindustrie. Angefangen haben Sie Ihre Laufbahn aber als Lkw-Analyst. Was ist genau der Unterschied?

Als Analyst liegt der Fokus auf der Identifizierung und Benennung von Potenzialen sowie von bevorstehenden Veränderungen. Ferner werden natürlich auch die Hersteller im Detail analysiert und verglichen. Das ist ein sehr gutes Fundament für die Beratung, wo es auch darum geht, kundenspezifisch Strategien zu erarbeiten und Potenziale zu nutzen. Jedoch bin ich zur Lkw-Industrie durch Interesse am Sektor gekommen.

Was sind denn die Schwerpunkte, auf die sich der Beratungsbedarf gegenwärtig konzentriert?

Momentan sind die Mandate wesentlich getrieben von zwei Themenblöcken: einerseits von der Bewältigung der Coronakrise, andererseits von Themen um Elektrifizierung, autonomes Fahren und Konnektivität. In dem Maße, wie die Krise ausklingen wird, spielen auch wieder Sujets wie Wettbewerbsanalyse, Markteintritte sowie Produkt- und Servicedefinition eine Rolle. Das Thema Kostenreduktion bleibt dennoch wichtig.

Wie kommt es, dass die Nachfrage nach Lkw derzeit geradezu durch die Decke geht?

Die Nachfrage wird hauptsächlich von der Wirtschaftslage getrieben, insbesondere von der Erwartung eines positiven wirtschaftlichen Ausblicks auf die nächsten Jahre. Aber nicht alle Märkte haben sich gleich schnell erholt. Zuallererst hat China extrem rasch angezogen, während sich der Rest der Welt noch in einem Nachfragetal befand. Inzwischen wächst auch die europäi­sche Wirtschaft wieder stark, ebenso wie Amerika und andere große Märkte.

Es gibt gepfefferte Lieferzeiten. Haben die ­Hersteller zu defensiv agiert?

Der Coronaschock kam sehr überraschend. Ferner gab es keine Präzedenz für eine Orientierung, wie stark der Einbruch sein könnte. So kommt es, dass erst mal so schnell wie möglich Kapazität abgebaut wurde, was auf die Lieferkette signifikante Auswirkungen hatte. Jetzt wurde die Talsohle ziemlich schnell durchschritten – und es ist ein regelrechter Boom da.

Gilt das für ganz Europa, vielleicht auch global?

Für Europa ein klares Ja. Aber die langen Lieferzeiten gelten auch für Nordamerika und die wichtigsten Märkte in Asien. Auch Südamerika steht zum Teil gut da. Auch wenn es dort Unterschiede zwischen den einzelnen Herstellern gibt.

Daimler Truck AG und Foton starten gemeinsame Produktion von Mercedes-Benz Lkw in China für China 

Daimler Truck AG and Foton start joint production of Mercedes-Benz Trucks in China for China
© Daimler Truck AG
Die westlichen Hersteller, sagt Roman Mathyssek, seien in China besser angekommen, als es die Zulassungszahlen vermuten lassen.
Welche Rolle spielt inzwischen Chinas Politik, sich nicht mehr mit der viel zitierten Rolle als Werkbank der Welt zufriedenzugeben?

Grundsätzlich gilt: Der Anspruch Chinas geht schon länger dezidiert darüber hinaus, kostengünstige Produkte in oft großen Mengen für den Weltmarkt zu produzieren. China ist auch ein Hightech-Standort geworden, der sich immer mehr durch innovative Technologien und Produkte auszeichnet.

Ist die Zeit des Kopierens in China vorbei?

Die chinesischen Lkw-Hersteller haben eine steile Lernkurve hinter sich, die allerdings ohne Joint-Venture-Partner so nicht verlaufen wäre. Aber gerade bei der Elektrifizierung des Triebstrangs oder dem autonomen Fahren gibt es in China beachtliche Erfolge. Mit einigen Produkten sind die Hersteller weltweit konkurrenz­fähig, als Beispiel wäre das Unternehmen BYD bei Stadtbussen zu nennen.

Was bedeutet das im globalen Rahmen?

Chinesische Firmen sind nicht nur ein immer stärkerer Spieler in Emerging Markets – vor allem in Afrika, wo diese Lkw inzwischen zunehmend etabliert sind. Es expandieren chinesische Hersteller auch noch auf eine gänzlich andere Art global, indem sie erhebliche Beteiligungen an führenden Herstellern erwerben. So geschehen bei Volvo AB sowie bei Daimler durch ­Geely-Gründer Li Shufu.

Wie schätzen Sie das Funktionieren der Joint Ventures in China ein?

China ist mit Abstand der größte Lkw-Markt der Welt, diese Größe und das Potenzial haben viele Hersteller schon vor mehr als 20 Jahren nach China gelockt. Für Hersteller, die in das Massensegment wollten, waren 50 : 50-Joint-­Ventures mit chinesischen Herstellern lange die einzige Option, auch wenn so oft unfreiwillig viel Know-how mit dem lokalen Partner geteilt werden musste. Die Joint Ventures, die jetzt aktiv sind, funktionieren besser. Das liegt an der Erfahrung aller Beteiligten und auch erheblich an Veränderungen in der Regulierung.

Welche Rolle spielen denn heute Lkw aus dem Westen im Reich der Mitte?

Die spielen schon länger eine größere Rolle, als die Zulassungsstatistik vermuten lassen würde – vor allem wenn es darum geht, den lokalen Herstellern zu zeigen, was technisch möglich ist. Durch veränderte Regularien werden Lkw aus Europa aber auch immer beliebter. Die lokale Produktion von ausgesuchten Modellen dürfte diesen Trend weiter beschleunigen, nicht zuletzt, weil so der Preis sinkt bei gleicher Qualität und Produktivität. Das setzt auch die lokalen Hersteller unter den Druck, besser zu werden.

Was haben ihrerseits die westlichen Hersteller in China gelernt?

Tendenziell würde ich an zwei Stichworte denken: Kooperationen und marktgerechte, lokal angepasste Entwicklung. Kooperationen werden global immer wichtiger, nicht nur innerhalb der Lkw-Industrie, sondern auch mit Firmen aus anderen Sektoren. Die Erfahrungen aus den China-Joint-Ventures können da wertvoll sein.

In Europa nimmt derzeit die Dekarbonisierung breiten Raum in der Diskussion ein. Arg viel Alternatives ist noch nicht zu sehen. Wie hoch werden denn die Strafzölle anno 2025 und erst recht im Jahr 2030?

Das im Einzelnen zu beziffern, ist momentan sehr schwierig, da man dazu den spezifischen Produktmix und den jeweiligen Ausstoß jetzt bereits kennen müsste für die Jahre 2025 und 2030. 15 Prozent CO2-Reduzierung bis 2025 und nochmals 15 Prozent bis 2030 sind natürlich mit Maßnahmen am Triebstrang und der Aero­dynamik niemals zu schaffen. Viel hängt also davon ab, was an alternativen Antrieben in diesem Zeitraum den Weg zum Käufer findet oder über verschiedene Anreize im Markt abgesetzt wird. Mich würde es eher überraschen, wenn die Vorgaben nicht erreicht würden.

Doch ruht der See im Moment noch ­ziemlich still, was die Verfügbarkeit von alternativen ­Antrieben anbelangt?

Das würde ich so nicht sagen. Viele Hersteller werden schon in den nächsten ein bis zwei Jahren Zero-Tailpipe-Emission-Lkw anbieten, wenn auch erst einmal in Kleinserien. Bis 2025 werden wohl vor allem batterieelektrische Fahr­zeuge ein wichtiger Hebel, um die EU-Vorgaben zu erreichen.

Sowohl batterieelektrische Antriebe als auch die Brennstoffzelle sind jeweils nicht unumstritten. Was glauben Sie, wohin wird die Technikreise am Ende gehen?

Vorteile der Batterietechnik liegen darin, dass diese Fahrzeuge schnell verfügbar sind und gerade im urbanen Raum kurzfristig in gewissen Transportbereichen anwendbar sind. Sicherlich profitieren die Lkw von der rasanten BEV-Entwicklung (BEV: batterieelektrische Fahrzeuge) bei den Pkw. Bei den Nachteilen sehen wir vor allem noch die Lebensdauer der Batterie, das Gewicht sowie die recht stark eingeschränkte und schlecht skalierbare Reichweite. Ein anderer Punkt bei BEV besonders für schwere Nutzfahrzeuge, ist die elektromagnetische Strahlung (EMS).

Das Twin-Brennstoffzellensystem von cellcentric für den schweren Lkw-Einsatz 

cellcentric twin-fuel-cell system for heavy-duty application
© Daimler Truck AG
Es werde noch dauern, prognostiziert ­der Berater, bis die Brennstoffzelle richtig Fuß fasst.
Wie bewerten Sie die Perspektiven der Brennstoffzelle für Lkw?

Grundsätzlich positiv. Wir gehen davon aus, dass sich Wasserstoff schlussendlich durchsetzen wird. Allerdings wird es wohl noch bis über 2025 hinaus dauern, bis diese Fahrzeuge tatsächlich in großen Stückzahlen produziert werden, denn es gibt momentan zahlreiche Herausforderungen. Sie brauchen idealerweise speziell für den Lkw entwickelte Stacks, die mit den anwendungsspezifischen Faktoren wie Vibrationen und Lastwechseln zuverlässig umgehen und über die Lebensdauer reibungslos funktionieren. Der Fortschrittsgradient war bisher nicht sonderlich gut. Aber viele Hersteller arbeiten jetzt an dedizierten Lösungen für die Anwendung im Lkw, sodass ein zuverlässiger Betrieb gewährleistet sein sollte, auch wenn es bis zur Serienreife noch dauern wird.

Warum spielt der Wasserstoffverbrenner – ­universell verwendbar und kostengünstig – in der gegenwärtigen Diskussion kaum eine Rolle?

Das ist in der Tat bedauerlich. Ich fürchte, dass es durchaus Strömungen gibt, die den Verbrenner grundsätzlich als Feindbild identifiziert haben. Da wird oft gar nicht mehr differenziert und auf den wirklichen Ausstoß geachtet. Unter Berücksichtigung aller Faktoren wäre der Wasserstoffverbrenner sicherlich die sinnvollste Option, wie der Dieselmotor ersetzt werden könnte. Auch wenn man fairerweise festhalten muss, dass er systembedingt etwas weniger effizient ist.

Was sagen Sie zum unbestritten hohen Energieaufwand für die Wasserstoffproduktion?

Das Argument gegen Wasserstoff, er sei nicht effizient, stimmt am Ende nur bei einer ausschnittweisen Betrachtung. Denn grüner Wasserstoff aus beispielsweise Fotovoltaik ist theoretisch unbegrenzt vorhanden und kann global an Weltklassestandorten produziert werden. Deshalb greift das Argument der niedrigen Effizienz schlicht zu kurz.

Traton schwört auf Batterieelektrik, Daimler und Volvo favorisieren für den Fernverkehr Wasserstoff. Was ist von diesen insgesamt kontroversen Festlegungen zu halten?

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Roman Mathyssek zum Wasserstoffverbrenner: „Sicherlich die sinnvollste Option, den Dieselmotor zu ersetzen.“

Momentan halten wir es für eher riskant, sich dogmatisch auf eine Technologie zu fixieren, auch wenn eine Dualstrategie ihrerseits Nachteile hat. Hersteller sollten immer einen Plan B haben, falls es zu einem technischen Durchbruch kommt. Daher sind Allianzen in diesem Bereich sehr wichtig. Aus Skalengründen ist es trotzdem sinnvoll, wenn sich langfristig eine einzige Technologie herausbildet. Die Koexistenz verschiedener Antriebe sehen wir eher als Übergangslösung. Um die Frage klar zu beantworten: Wir tendieren für schwere Nutzfahrzeuge oder als Gesamtlösung gegenwärtig schon stark in Richtung Brennstoffzelle oder Wasserstoffverbrenner.

Wie kommt es überhaupt, dass ausgerechnet große Konkurrenten wie Daimler und Volvo nun unter dem Zeichen der Brennstoffzelle eine ­Kooperation beginnen?

Ein wesentlicher Treiber war sicherlich das Risikomanagement. Wir sehen derzeit verschiedene Antriebsmöglichkeiten, um Klimavorgaben zu erreichen, wie Wasserstoff oder BEV. Die Entwicklung jeder dieser Antriebe ist mit sehr hohen Investitionen verbunden, gleichzeitig auch mit Unsicherheiten, denn aus Skalengründen wird sich langfristig eher nur eine Technologie durchsetzen und den Dieselmotor ablösen. Deswegen werden angesichts der hohen Ausgaben für die Entwicklung neuer Techniken die verschiedensten Schulterschlüsse gesucht. Dass sich die zwei größten westlichen Hersteller hier zusammengetan haben, war sicherlich ein guter Move. Das Vorantreiben von Partnerschaften gilt auch für andere Themenfelder mit unsicherem Umfeld.

Da dürfte auf einem der vorderen Plätze das ­weite Feld des autonomen Fahrens stehen.

Durchaus. Es ist zumindest in den USA wohl nur eine Frage der Zeit, bis das auf der Langstrecke kommt. Ich glaube aber, dass sich das autonome Fahren auch in Europa durchsetzen wird, ebenso wie in China und anderen Märkten. Je länger die Strecken und je besser die Straßeninfrastruktur, desto größer sind die Vorteile.

Aber auch da gibt es verschiedene Ansätze bei der Herangehensweise.

Im Wesentlichen sehen wir drei Ansätze: erstens den Aufbau eigener Fähigkeiten, wie es zum Beispiel Tesla vorantreibt und wie es auch Technologie-Player wie Google oder Tencent machen; zweitens den Kauf oder Einstieg bei Start-ups, wie es GM getan hat; drittens die Kooperation respektive das Sourcing der Komponenten von Zulieferern – so treiben Nvidia oder Intel oder auch Daimler das Thema voran.

Was steckt jeweils dahinter?

Die Ansätze unterscheiden sich stark in ihren strategischen Implikationen etwa hinsichtlich Wertschöpfungstiefe und Positionierung in der Wertkette. Zwei Fragen sind hier entscheidend, die von den OEMs offensichtlich unterschiedlich beantwortet werden. Erstens: Wie schaffe ich die Einführung am schnellsten und effizientesten? Und zweitens: Welcher Wert liegt langfristig in dieser Technologie?

Autonomes Fahren und alternative Antriebe bringen also ganz neue Allianzen zwischen den Herstellern selbst und den Zulieferern hervor. Es wird wohl auch mehr Standardisierung geben. Was bleibt da noch übrig an Differenzierung, von der die Marken ja doch leben?

Darüber, wie differenzierend die autonomen Fähigkeiten sind, gibt es, wie oben diskutiert, offensichtlich unterschiedliche Auffassungen in der Industrie. Mit Sorge sehe ich, ob einige nicht die Bedeutung und auch die Geschwindigkeit der Entwicklung etwas unterschätzen. Natürlich sind der Motor sowie der restliche Triebstrang Hauptfaktoren bei der Differenzierung, da sie für die Zuverlässigkeit und die Kosten essenziell sind. Auch die USA haben dieses global vorherrschende Modell sukzessive übernommen.

Kommt die Rolle rückwärts hin zum ­Komponenten-Lkw?

In den USA hat der Komponenten-Lkw jahrzehntelang gut funktioniert, auch wenn so den Herstellern viel Umsatz entgangen ist. Gerade bei BEV-Lkw, wo die Batterie extern eingekauft wird und gleichwohl einen wesentlichen Teil der Kosten, aber auch der TCO ausmacht, wäre das sozusagen die Renaissance dieses Modells. In Zukunft werden Marken noch stärker über Service, Qualität und Dienstleistungen differenziert.

Wie ernst zu nehmen sind neue Player wie ­Tesla oder Nikola samt Iveco, die allesamt bis jetzt mehr versprochen als gehalten haben?

Vergessen Sie nicht: Tesla hat bislang immer geliefert, auch wenn sie beim anvisierten Liefertermin das Ziel manchmal nicht ganz eingehalten haben. Die Hürde, die jedes Start-up in dieser Industrie am Ende zu nehmen hat, ist, neue (disruptive) Technik zu entwickeln und diese in eine sehr anspruchsvolle Anwendung wie den Lkw zu integrieren. Das wird manchmal unterschätzt, ist allerdings essenziell, damit am Ende ein wettbewerbsfähiges Produkt auf den Markt gebracht wird. Und genau da – mit der Inte­gration und Gesamtfahrzeugentwicklung – haben die etablierten Hersteller natürlich immense Erfahrung. Trotzdem sollte jedes Start-up ernst genommen werden; sollte ein Neuling einen technischen Durchbruch schaffen, so wäre das vielleicht auch ein interessanter Übernahmekandidat für einen etablierten Hersteller.

Ob Elektro-Lkw oder Wasserstoff-Truck: Beide sehen sich vor allem im Fernverkehr mit enormem Aufwand bei der Infrastruktur konfrontiert.

Komplexität und Kosten der notwendigen Infrastruktur werden klar gehebelt über die maximale Reichweite, die mit einem Tank beziehungsweise einer Ladung zurückgelegt werden kann. Hier sehen wir BEV-Lkw auch längerfristig eher im Nachteil gegenüber der Brennstoffzelle. Eine größere Batterie im BEV ist keine strukturelle Lösung, denn das bedeutet signifikante Anschaffungsmehrkosten, deutlich höheres Gewicht und schwieriges Packaging. Die Problematik der Erhöhung des zulässigen Gesamtgewichts wird vor dem Hintergrund der Straßeninfrastrukturrealität in vielen Ländern noch stark unterschätzt und dürfte keine dauerhafte Lösung sein.

Wie sieht es denn mit den BEV-Ladestellen im Fernverkehr aus, für die sich jüngst Daimler. ­Traton und Volvo zusammengetan haben?

Eine entsprechende Infrastruktur muss errichtet werden, und das wird teuer, wenn man bedenkt, dass schon ein Pkw-Schnelllader gegenwärtig circa 85.000 Euro kostet. Wenn nicht vorab entsprechend investiert wird, wird es schwer werden, Spediteure zu überzeugen. Andererseits stellen Ladestellen, speziell für den Fernverkehr, eine starke Belastung des Stromnetzes dar. Man sollte auch noch bedenken, dass heute die wenigsten Lkw an der Autobahnraststätte tanken, weil die Dieselpreise dort höher sind. Für den zukünftigen BEV-Lkw-Spediteur besteht auch immer die große Gefahr, dass der Besitzer der Ladeinfrastruktur die Notwendigkeit des BEV-Lkw, aufzuladen, weidlich ausnützt.

Traton meint trotzdem, dass Elektro-Lkw ­gerade auch beim autonom fahrenden Lkw im Fernverkehr vorzuziehen wären. Ist da die Pkw-Strategie der Mutter VW der Vater des Gedankens?

Skaleneffekte zu maximieren, ist sinnvoll und vollkommen verständlich. Man kann unter der Annahme von sehr günstigem Strom, einer entsprechend gut ausgebauten Ladeinfrastruktur und großen Fortschritten bei der Batterietechnik zu dem genannten Schluss kommen. Die Frage ist allerdings, wie wahrscheinlich dieses Szenario ist und welche Auswirkung das autonome Fahren auf das beabsichtige Laden in den Fahrerpausen hat. Es kann riskant sein, sich jetzt zu eindeutig festzulegen. Ich fürchte, dass es bei der Entscheidung für BEV oder die Brennstoffzelle knapp werden könnte, Fehlentscheidungen zu korrigieren. Deshalb raten wir von zu einseitigen Strategien ab. Es sollte nicht vergessen werden, dass es zur Einführung von Euro 4/5 die Diskussion um AGR oder SCR gab. Der eine oder andere Hersteller musste damals schnell umschwenken.

Es gibt ja auch gewisse Unterschiede bei der ­Verfügbarkeit des Lkw.

Das könnte in der Tat eine entscheidende Rolle spielen, ist aber nur einer von zwei wichtigen Punkten. Ein Wasserstoff-Lkw tankt schnell und hat dann eine hohe Reichweite, während ein batterieelektrischer Lkw alle paar Stunden für eine ganze Weile an die Ladestelle muss. Sollten eines Tages die Pausenzeiten der Fahrer nun keine Rolle mehr spielen, weil die Lkw ja autonom fahren, ist der Elektro-Lkw deswegen weiter im Nachteil. Fährt der Lkw echt autonom, dann kann er das theoretisch auch mit höheren Geschwindigkeiten als heute tun. Klar braucht auch der Wasserstoff-Lkw dann mehr Energie als bei niedrigerer Geschwindigkeit. Aber beim Elektro-Lkw nagt höherer Einsatz an Leistung um ein Vielfaches an der Reichweite.

Traton ist schon an die Börse gegangen, ­Daimler Trucks ist gerade dabei. Ist es der Zug der Zeit, dass sich die Lkw-Sparten emanzipieren?

Die Abspaltungen bringen Vorteile mit sich, was die Eigenständigkeit anbelangt. Obwohl man gerade bei neuen Technologien auch sieht, dass sich Pkw und Lkw annähern, Stichwort Elek­trifizierung, Digitalisierung, Konnektivität – da besteht viel Synergiepotenzial. Andererseits wird es durch Separierung für Investoren leichter, sich hier oder da zu beteiligen. Und es sind punktuelle Kooperationen leichter machbar, wenn die Lkw-Sparten für sich allein stehen.

Der viel beschworenen Konsolidierung zum Trotz ist nun mit Ford plötzlich eine achte ­Marke europaweit aufgetaucht. Was bedeutet das für die Nutzfahrzeuglandschaft?

Das dürfte jetzt schon mehr sein als ein Achtungserfolg, was Ford inzwischen erreicht hat, bisher vor allem in südosteuropäischen Ländern.

Was ist der Grund für diesen Schritt, den andere Größen aus fernen Landen nicht gewagt haben?

Die neue Lkw-Generation ausschließlich für die Türkei zu entwickeln, in der die europäischen Hersteller immer präsenter wurden, hätte sich nicht gelohnt. Daher lag die Expansion nahe, um mehr Märkte anzusprechen. Ferner haben sich die Marktanforderungen gerade in Ost­europa immer mehr angeglichen, weshalb diese Entscheidung auf der Hand lag. Für manche Marken kann das schon kurzfristig zu mehr Wettbewerb führen. Ich fürchte, dass die Bedeutung mancherorts womöglich etwas unterschätzt wird.

Zur Person Roman Mathyssek

Roman Mathyssek ist in Amerika, Benelux sowie Deutschland und Schweden aufgewachsen, studierte International Business mit Schwerpunkt Finanzen in Maastricht.

mathyssek, interview
Unternehmensberater Roman Mathyssek: "Die Coronakrise, aber auch alternative Antriebe, autonomes Fahren und Konnektivität sind die Themen der Stunde."

Seine Karriere als Analyst für die Lkw-Industrie begann in London; sie führte den heute 41-Jährigen über das Analystennetzwerk von IHS und die AVL-Tochtergesellschaft Strategy Engineers zu Arthur D. Little. Dieses traditionsreiche Haus, 1886 in Boston gegründet, begann als weltweit erste Unternehmensberatung und war an der Aufstellung der ersten R&D-Abteilung von GM (1911) ebenso beteiligt wie an der Auslegung der Experimente für das Apollo-Programm der USA in den späten 60er-Jahren.