JansBlog Totgeschwiegen

Jan Bergrath Foto: Jan Bergrath
Meinung

Unter dem Begriff Sozialdumping verstehen westeuropäische Gewerkschafter und Politiker in der Regel prekäre Arbeitsbedingungen von Lkw-Fahrern aus Osteuropa. Verwahrlosung und Alkoholismus kommen leider oft hinzu.

Wer sich einmal einen ungeschönten Blick auf die selbst empfundene Lebenswirklichkeit von Lkw-Fahrern vor allem aus Südosteuropa verschaffen möchte, dem empfehle ich einen Blick auf die Facebookseite Soferi.Profesionisti.EU. Dort findet sich eine Sammlung an Schnappschüssen vom Leben auf der Straße: Rangiermanöver, Unfälle, Pin-Up-Girls, Werbung und so weiter. Dazwischen eingestreut, wie etwa am 29. Oktober, finden sich Bilder von regelrechten Schnapsleichen, Lkw-Fahrern, die bewusstlos irgendwo auf einem Parkplatz zwischen Trailern, Flaschen und Einweggrill ihren Rausch ausschlafen.

Alkoholproblem unter osteuropäischen Fahrern

Unter dem Begriff Sozialdumping verstehen westeuropäische Gewerkschafter und Politiker in der Regel prekäre Arbeitsbedingungen von Lkw-Fahrern aus Osteuropa. In der öffentlichen Diskussion geht dabei völlig unter, was sich schon seit Jahren abseits der Autobahnen in einer Parallelwelt, jedenfalls für die sogenannten “Verbraucher“,auf Rastplätzen, in Industriegebieten und Kombi-Terminals wirklich abspielt: eine erschreckende soziale Verwahrlosung, gepaart mit einem erheblichen Konsum von Alkohol. Erst im vergangenen Jahre habe ich in meinem Blog-Beitrag "Ernüchternde Bilanz“ 60 Meldungen der lokalen Presse ausgewertet, die Vorfälle mit alkoholisierten Fahrer aus Osteuropa aufzeigen: Unfälle und Schlägereien, die sicher nur die Spitze des Eisbergs waren, weil hier die Polizei eingeschaltet wurde. Die Grauzone dürfte noch weitaus größer sein.

Tödlicher Unfall mit 3,09 Promille

Erst am 1. Dezember hat es wieder so einen Vorfall gegeben, der weitaus schlimmer hätte ausgehen können, als ein betrunkener Fahrer aus Polen seinen Sattelzug mitten auf der A9 abgestellt hatte, um seinen Rausch auszuschlafen. Tragisch dagegen endete der Unfall mit einem sogenannten „Polensprinter“ am 23. September auf der A67 bei Darmstadt. Ein 34-jähriger Pole fuhr mit seinem Lieferwagen mit hoher Geschwindigkeit auf die Gegenfahrbahn und kollidierte mit zwei Pkw. Drei Menschen aus den Niederlanden starben, die vier Insassen des zweiten Autos aus Nauheim wurden verletzt, der Unfallfahrer schwer. In seinem Fahrzeug entdeckte die Polizei Bierdosen. Wie eine spätere Blutprobe ergab, war er mit 3,09 Promille unterwegs.

Die Folgen des Nomadentums

Der belgische Hauptinspektor Raymond Lausberg war der erste Kontrollbeamte, der auf die schlimmen Folgen des wochenlangen Nomandentums von Lkw-Fahrern aus Osteuropa aufmerksam machte und eine Folge von nationalen westeuropäischen Verboten, die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit im Lkw zu verbringen, initiierte, denen sich mittlerweile Frankreich, Deutschland, die Niederlande und Großbritannien angeschlossen haben – jeweils mit ihren Eigenarten, was die Kontrollen betrifft. Doch das Problem des Alkoholismus bekommen diese Kontrollen auch nicht in den Griff. Denn rein rechtlich haben die Fahrer an diesen Wochenenden Freizeit, sie können tun und lassen, was sie wollen. Wer wie ich öfter an einem Sonntagnachmittag über die Autohöfe streift, sieht dann oft, wie in den abgelegen Ecken die Flasche kreist. Von Polizei ist weit und breit nichts zu sehen.

“Langeweile oder Frust über die Trennung von der Familie treiben viele Fahrer in den Suff“, sagt Lausberg. Nach Silvester 2011 wurde er auf die belgische Seite der Raststätte Lichtenbusch an der E40 gerufen. Dort war ein Fahrer in seinem Laster verblutet – nach einem Messerstich durch einen betrunkenen Kollegen. Erst jetzt beginnt dazu das Verfahren. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hat laut einer Meldung des Rundfunksenders BRF keine Tötungsabsicht bestanden. Den beiden Angeklagten wird aber unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft fordert aktuell 12 und 18 Monate Haft.

Mordprozess in Freiburg

Noch tiefere Abgründe tun sich bei einem weiteren Kriminalfall auf. In Freiburg steht derzeit ein rumänischer Lkw-Fahrer vor Gericht. Nach den jüngsten Medienberichten hat er mittlerweile gestanden, zwei junge Frauen ermordet zu haben. Für den deutschen Unternehmer, der ihn zuletzt beschäftigt hat, ein Alptraum, der ihm bis heute anonyme Drohungen einbringt.

Dokument der sozialen Verwahrlosung

Die Badische Zeitung verfolgt diesen Prozess, bei dem das Leben dieses Fahrers ausgebreitet wird. Für das zu erwartende Strafmaß wird es am Ende keine Rolle spielen, aber das Protokoll aus dem Gerichtssaal ist, jedenfalls für mich, zwischen den Zeilen ein Dokument der sozialen Verwahrlosung.

Zwei Jahre lang hat der Rumäne für eine bekannte Spedition aus Italien gearbeitet, für 1.500 Euro netto im Monat. Dieselbe Spedition, die auch in Köln einen Standort hat, wo die Fahrer, die unter der Woche Kombinierten Verkehr betreiben, unter erbärmlichen Umständen zwischen Fahrerhäusern und irgendwelchen Containern in einem Industriegebiet hausen. Zwei Jahre, so die gerichtsnotierte und nicht widersprochene Aussage, in der dieser Fahrer seine Frau und seine drei Kinder jeweils nur zehn Tage im Jahr gesehen hat und offenbar, so belegen es wohl die medizinischen Tests, dem Alkohol verfallen ist. Porno-Apps wurden auf seinem Handy entdeckt, der Besuch bei Prostituierten steht im Raum. Alles in allem, so mein Eindruck aus der Ferne, genau die Lebenswirklichkeit der oben erwähnten Facebook-Seite.

In Deutschland wollte er dann wohl neu anfangen, war laut Aussage seines neuen Arbeitgebers als Fahrer absolut zuverlässig, wollte seine Familie nachholen und nach drei Monaten im Lkw eine Wohnung finden.

Aber da hatte er schon eine Leiche im Keller. Auch die Ehe war bereits zerrüttet, die Frau kehrte nach Rumänien zurück. Nun wird ihm in Freiburg wegen eines weiteren grauenhaften Mordes der Prozess gemacht. Diese Tat ist durch nichts zu entschuldigen. Doch das Problem der Verwahrlosung, das mit dem Sozialdumping einhergeht, wird wahrscheinlich weiter totgeschwiegen.

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