Immer wieder kommt die Frage auf, ob die Polizei beim Auslesen des digitalen Tachos auch Geschwindigkeitsverstöße zur Anzeige bringen darf.
Die Frage von Lkw-Fahrer Frank Erler kommt per E-Mail: "Ist der digitale Tachograf nicht eigentlich dazu da, die Arbeitszeit zu erfassen? Ich habe im Internet gelesen, dass der Massenspeicher in Zukunft verstärkt von der Polizei ausgelesen werden soll, um Geschwindigkeitsverstöße zu ahnden. Dürfen die das überhaupt?"
Nach den Verordnungen VO (EG) 561/2006 und 3821/85 wurde der Tachograf hauptsächlich eingeführt, um die Arbeitsbedingungen im Gütertransport sowie die Straßenverkehrssicherheit zu verbessern. Neben den Lenk- und Ruhezeiten erfassen die digitalen Tachografen, die heute in den Lkw verbaut sind, für die letzten 24 Stunden sekundengenau die Momentangeschwindigkeit. Ausgelesen werden können bei einer Kontrolle das Datum, die Uhrzeit, die Dauer und die Höhe der Geschwindigkeit sowie der Name des zu schnell gefahrenen Fahrers und die Fahrerkartenkennung.
"Die Kontrollbehörden gehen in letzter Zeit dazu über, bei Kontrolle der Lenk- und Ruhezeiten auch noch zusätzlich die Geschwindigkeiten auszulesen", bestätigt Matthias Pfitzenmaier, Fachanwalt für Verkehrsrecht aus Heilbronn. "Da nach der einschlägigen Rechtsprechung für die Geschwindigkeitsüberschreitungen kein genauer Tatort feststehen muss, sondern es ausreicht, wenn der dokumentierte Verstoß entweder nachweislich auf einer Landstraße mit mehr als 60 km/h oder einer Autobahn mit mehr als 80 km/h erfolgt ist, ergibt sich aus der 24-stündigen Geschwindigkeitsdokumentation ein erhebliches Risiko für die Fahrer, Bußgelder zu kassieren."
Hohe Strafen drohen
Denn bereits ein zweimaliger Verstoß von 1 bis 15 km/h nach Fahrtantritt ist mit einer Geldbuße in Höhe von mindestens 120 Euro sowie der Eintragung eines Punktes ins Fahreignungsregister strafbewehrt. Pfitzenmaier kann die Zweifel von Erler nachvollziehen: "Es stellt sich tatsächlich die Frage, ob Bußgeldbescheide wegen einer
Geschwindigkeitsüberschreitung, die bei einer Kontrolle der Lenk- und Ruhezeiten und nicht zielgerichtet wegen eines konkreten Verdachts der Geschwindigkeitsüberschreitung ergehen, überhaupt rechtmäßig sind."
Aus beiden EU-Verordnungen ergibt sich eindeutig, dass das Ziel der Aufzeichnungen die Kontrolle der Lenk- und Ruhezeiten ist. Die Präambel der Verordnung 3821/85 enthält hinsichtlich der Geschwindigkeit lediglich folgenden Hinweis: "Eine vollautomatische Aufzeichnung weiterer Angaben über die Fahrt, zum Beispiel die Geschwindigkeit, kann erheblich zur Verkehrssicherheit und zum rationellen Einsatz des Fahrzeuges beitragen, sodass es zweckmäßig erscheint, die Aufzeichnung dieser Angaben gleichfalls vorzusehen."
"Die Auswertung eines Geschwindigkeitsverstoßes bei analogen Tachoscheiben war bislang gang und gäbe", folgert Pfitzenmaier. "Dies lässt sich (rechtlich) dadurch rechtfertigen, dass bei einer Kontrolle der Lenk- und Ruhezeiten durch bloßes Anschauen der Scheibe ein Geschwindigkeitsverstoß offenbar wurde. Bei einem solchen Gelegenheitsfund, also dem zufälligen Feststellen des Geschwindigkeitsverstoßes, herrschte nach überwiegender Ansicht der Rechtsprechung kein sogenanntes Beweisverwertungsverbot, sodass der Geschwindigkeitsverstoß geahndet werden konnte."
Gesonderter Ausdruck erforderlich
Beim digitalen Tacho nun, argumentiert Pfitzenmaier, sei aber zur Feststellung der Geschwindigkeitsüberschreitung ein besonderer Auswertemechanismus erforderlich, da die Geschwindigkeitsdaten nicht automatisch mit den Daten über die Einhaltung der Lenk- und Ruhezeiten ausgedruckt werden, sondern ein gesonderter Ausdruck des Kontrollbeamten erforderlich sei. "Es handelt sich dann nicht um einen Gelegenheitsfund, sondern um ein gezielt pflichtwidriges Ausspähen der Daten, da es für das Auslesen der Geschwindigkeitsdaten keine Rechtsgrundlage gibt. Es spricht daher vieles für ein bestehendes Beweiserhebungs- und Verwertungsverbot." Daher folgert Pfitzenmaier: Wenn also die Feststellung eines Geschwindigkeitsverstoßes durch Auslesen der Daten im digitalen Tacho bei der Gelegenheit einer Kontrolle der Lenk- und Ruhezeiten erfolgt, so ist das zum einen verdachtsunabhängig, zum anderen fehlt die entsprechende Ermächtigungsgrundlage.
"Schließlich erscheint auch problematisch, dass durch die permanente Aufzeichnung der Geschwindigkeit der letzten 24 Stunden der Fahrer bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung bei ordnungsgemäßem Betrieb des Digitachos gezwungen ist, ständig Daten zu sammeln, die gegen ihn verwendet werden können", erläutert Pfitzenmaier.
Angreifbare Argumentation
Das verstößt nach seiner Auffassung gegen den Grundsatz, dass sich niemand selbst belasten muss. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu zwar entschieden, dass sich die Pflicht zur Aushändigung einer Tachoscheibe nur auf die Aushändigung der Scheibe als solche bezieht und dass sich der Fahrer damit ja nicht unmittelbar selbst belastet. Gleichwohl führt die bloße Verpflichtung der Aushändigung praktisch zwingend zur Preisgabe von bußgeldrelevanten Verstößen, sodass auch diese Argumentation angreifbar erscheint.
Laut Pfitzenmaier liegt eine obergerichtlich gefestigte Rechtsprechung zum Thema Rechtswidrigkeit des Auslesens von Geschwindigkeitsverstößen beim digitalen Tacho noch nicht vor. "Daher wird es spannend sein, hier die künftige Entwicklung zu verfolgen und gegebenenfalls einen Musterfall auch durch den Europäischen Gerichtshof entscheiden zu lassen."