Fahrer vor Gericht: Plausibler Abstandsverstoß bleibt straffrei

Fahrer vor Gericht
Plausibler Abstandsverstoß bleibt straffrei

Manchmal reichen auch Andeutungen für die Verteidigung – verbunden mit dem festen Glauben daran, dass der Fahrer die Wahrheit sagt.

Plausibler Abstandsverstoß bleibt straffrei
Foto: Autobahnkanzlei Johannes Roller

Wir drehen jetzt die dritte Runde durch dieses Gewerbegebiet. Einen silbernen Actros fährt Tim*. Den suchen wir. Wir wollen Tim vor seinem Lastzug treffen und ihn dann mit zu seinem Gerichtstermin nehmen. Gerichte beraumen gerne paketweise Termine gegen Lkw-Fahrer an – Parkplätze für genau die gibt es aber nicht. Amtsgerichte sind in der City und dort einen Lkw-Parkplatz zu finden ist so wahrscheinlich wie der sprichwörtliche Gang des Kamels durchs Nadelöhr. Das Chauffieren von Fernfahrern vom Autohof zum Gericht ist übrigens Standard in der Autobahnkanzlei. Das Tatvideo kann man sich im Kanzleibus zusammen in Ruhe anschauen und ganz ohne Zeitdruck alles noch mal besprechen. Sich so stressfrei wie möglich auf den Termin einstellen, das ist mir extrem wichtig: keine Panik, nicht auf den letzten Drücker, solide vorbereitet. Schließlich geht es um viel.

Jeder Punkt ist letztlich für den Berufskraftfahrer "ein Achtel Berufsverbot". Nachdem Tim uns seinen Standort per Handy durchgegeben hat, geht alles seinen geplanten Gang. Wir haben noch gut eine Stunde Zeit. Genug, um bei einem Kaffee alles vorwärts und rückwärts durchzugehen.

Genaue Bestandsaufnahme der Ausgangslage ist wichtig

Das Video ist für die Verteidigung spektakulär unergiebig. Tim wird ein Abstandsverstoß auf der Autobahn vorgeworfen. 23,4 Meter Abstand zu dem vorausfahrenden Pkw bei einer Geschwindigkeit von 81 km/h. Auf dem Beweisfilm sieht man, dass Tim mit gleichbleibendem Abstand 200 Meter hinter dem Pkw herfährt. Und hinter Tim – gähnende Leere. Die Richterin wird sagen, er hätte abbremsen können. Aber das ist zu leicht gedacht. Der Sachverhalt ist komplizierter, und wie immer lohnt es sich, genau hinzuschauen und dem Mandanten zuzuhören. Zur Ausgangslage: Tim hatte 25 Tonnen Obstsaftkonzentrat geladen. 300 Meter vor der Messstelle ist eine Rechtskurve. An dem Ende dieser Kurve hat sich der Pkw sehr knapp vor ihn gesetzt, 20 Meter geschätzt. Abstandsklau könnte man das nennen. Abbremsen ging nicht sofort, weil sich der kurvenbedingt in Bewegung geratene Saft erst einmal wieder beruhigen musste. Nachdem das passiert war, sah Tim auf der Mittelspur einen Kollegen, der rechts blinkte und hinter ihm auf die rechte Spur wechseln wollte. Geistesgegenwärtig machte Tim das Richtige: Er bremste nicht ab, weil er Sorge hatte, mit dem hinter ihm einscherenden Lkw zu kollidieren.

Das war sehr umsichtig, bringt ihm aber als Dank das Bußgeldverfahren mit dem gefährlichen Punkt ein. Tims Schilderung klingt plausibel, nur beweisbar ist das kaum. Das abstandsraubende Überholen und Einscheren des Pkw ist auf dem Video nicht zu sehen. Dasselbe gilt für das Blinken des Lkw. Man erkennt höchstens eine Andeutung eines Lichtreflexes. Zudem sieht man auf dem Video nicht, dass der Lkw tatsächlich direkt hinter der Messstelle auf die rechte Spur fährt und 200 Meter später alle Beteiligten den gesetzlich vorgeschriebenen Abstand wieder einhalten. Ganz schlechte Karten also für die Verteidigung. Aber ich glaube ganz fest, dass Tim die Wahrheit sagt. Die Situation ist außerdem realistisch und, wie ich finde, völlig glaubwürdig. Ein paar Minuten später stehen wir vor dem Gerichtssaal. Tim ist aufgeregt. Ich spüre quasi, dass er Muffensausen hat. Kann ich verstehen.

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