Peter Schumacher, Leiter Elektronik und Fahrwerk Daimler Buses: "Die maximale Sicherheit gehört zu unseren Markenwerten"

Peter Schumacher, Leiter Elektronik und Fahrwerk Daimler Buses
"Die maximale Sicherheit gehört zu unseren Markenwerten"

Daimler setzt sich mit der Einführung von ABA4 und Side Guard Assist wieder einmal an die Spitze im Busmarkt. Wir wollten vom verantwortlichen Entwickler genauer wissen, was in den diversen Systemen an Know-How steckt und wo die Reise hingehen wird.

"Die maximale Sicherheit gehört zu unseren Markenwerten"
Foto: Thorsten Wagner, Montage: Monika Haug
Was sind die Highlights des erweiterten Notbremssystems ABA4?

Schumacher: Das fängt schon beim neuen, sogenannten Multimode-Radar an, bisher hat man ja eher von Short range- und Long range-Radar gesprochen. Der Vorgängersensor war im Grunde genommen ähnlich konstruiert beziehungsweise hatte ähnliche Eigenschaften, aber er musste die Umstellung von weitem Winkel bei kurzer Distanz und kleinem Winkel bei langer Distanz noch mechanisch bewerkstelligen. Der neue Sensor, der auf dem Pkw Bauteil basiert, schafft das jetzt ohne jede Beteiligung von mechanisch bewegten Baugruppen. Durch die höhere Auflösung des Sensors erreichen wir eine höhere auswertbare Reichweite, waren es bisher rund 200 Meter, so sind wir heute bei rund 250 Metern. Auch die valide Signalauswertung wird verbessert über das reine „weitere Sehen“ hinaus. Das bringt Vorteile vor allem für höhere Geschwindigkeiten – was das System früher erkennt, darauf kann es auch schneller reagieren. Natürlich spielen auch immer die Reflexionseigenschaften der Objekte eine große Rolle. 

Der Radar erkennt nun auch erstmals Fußgänger. Wie funktioniert das genau? 

Schumacher: Ja, dabei geht es um den gleichen High-end Multimode-Radar, der auch für ABA und ART zuständig ist, und nur mit diesen beiden Systemen zum Einsatz kommt. Dabei nutzt er den Öffnungswinkel im Nahbereich von 120 Grad, im Fernbereich sind es nur 18 Grad, also deutlich weniger. Die Umschaltung zwischen beiden Bereichen erfolgt ja elektronisch und damit viel schneller, als sich viele Objekte bewegen können. Fußgänger und ähnlich große Objekte können so bis auf eine Entfernung von rund 80 Meter erkannt werden. Ein Radarsystem hat gegenüber einem Videosystem den Vorteil, dass es sehr genau Richtung und Geschwindigkeit eines Objektes messen kann, aber nicht dessen Identität. Zudem erkennt der Radar den sogenannten Dopplereffekt, d.h. wenn die Laufzeitveränderung der Reflexion eines bewegten Objektes gemessen wird, kann das System Rückschlüsse auf dessen Geschwindigkeit ziehen. Wenn jetzt innerhalb eines bewegten Objektes nochmal unterschiedliche Bewegungen zu messen sind, zum Beispiel von Armen und Beinen gegenüber dem Rumpf, dann spricht der Radartechniker von "Mikrodopplern". Die Detektion funktioniert sowohl ins Längs- als auch in Querrichtung. Ein stehender Mensch wird daher vom System weniger oder gar nicht erkannt, weil dieser Effekt nicht vorhanden ist.

Welche Anpassungen mussten im Vergleich zum Lkw vorgenommen werden bei ABA4 und Fußgängererkennung?

Schumacher: Die Anpassungen beschränkten sich hauptsächlich auf die an die Bus-Bedürfnisse angepasste Warnkaskade, die wir hier wiederum geringfügig verändert haben. Bisher haben wir eine Warnbremsung nach der optischen und akustischen Warnung eingeleitet und die Verzögerung dabei von Null auf rund 30 Prozent der Bremsleistung gesteigert. Jetzt warnen wir  später, aber wir verlieren keine Zeit, da wir gleich mit einer Teilbremsung einsteigen und auf mittlere Verzögerung hochfahren, also etwas mehr als bisher – durch den leichten Ruck gleich zu Beginn motivieren wir den Fahrgast, sich festzuhalten falls er im Fahrzeug stehen sollte. Neu ist bei ABA4 auch die automatische Wiedereinschaltung, über die wir im Vorfeld viel diskutiert haben.

Wie kann man das System vorführen und welche Anpassungen sind für die Zukunft noch zu erwarten?

Schumacher: Selbstverständlich werden wir keine Vorführungen machen, die eine gewisse Geschwindigkeit überschreiten und so Menschen gefährden. Für die Entwicklung des Systems haben wir mit Laufrobotern gearbeitet. In Zukunft wird die Fußgängererkennung noch schneller und zuverlässiger funktionieren, wenn man Radar- und Videosysteme miteinander koppelt oder fusioniert. Heute haben Radar und Kamera noch unterschiedliche Aufgaben im Fahrzeug. Heute realisieren wir erst einmal Teilbremsungen mit der Fußgängererkennung. Neu ist hierbei, dass wir die Warnkaskade nicht abbrechen lassen, es sei denn, das Objekt verschwindet völlig aus dem Fahrkorridor. Aber diese Abstufung der Leistungsfähigkeit hatten wir ja bei jeder Stufe des ABA, der zu Beginn auch keine stehenden Hindernisse erkennen konnte, was heute kein Problem mehr ist. Das Ziel ist immer die Warnung des Fahrers, der ja diverse Möglichkeiten hat, um eine Kollision zu vermeiden. Die Entwicklung geht immer weiter, und das Thema Sicherheit gehört zu unseren Markenwerten.

Ganz neu ist ja auch der Abbiegeassistent Side Guard Assist. Wo lagen hier die spezifischen Herausforderungen?

Schumacher: Hauptsächlich haben wir ein anderes Packaging beim Bus gegenüber dem Truck, also Einbauorte und Anbringungspunkte. Die Funktion ist weitgehend identisch, es gibt grundlegend die langsamen und die hohen Geschwindigkeiten, die Grenze liegt bei 36 km/h. Darunter funktioniert das System als Abbiegeassistent, darüber als Spurwechselassistent – beide im Sinne eines fahrerunterstützenden Systems. In Abhängigkeit bietet der zweigeteilte Sensor an der rechten Fahrzeugseite andere Erfassungsbereiche und Modi – beide Sensoren besitzen 150 Grad Öffnungswinkel, durch den leichten Versatz der beiden Sensoren kommen wir dann auf 180 Grad Erfassung. Statistisch gesehen spielen die Unfälle auf der rechten Fahrzeugseite die überragende Rolle.

Wie genau läuft die Warnung des Systems nun ab und was passiert danach?

Schumacher: Wir haben sowohl im rechten Außenspiegel als auch im Fahrerdisplay eine gelbe Warnung in Dreiecksform wenn sich ein Objekt im toten Winkel rechts neben dem Fahrzeug befindet. Bei weiterer Annäherung oder einem Abbiegen des Busses wird diese Warnung rot und fängt an zu blinken, außerdem werden die Sitzvibratoren im Fahrersitz aktiviert für die haptische Warnung, analog zum SPA oder dem AtAs. Die Annäherungszone ist in drei Bereiche unterteilt. Wichtige Faktoren für die Warnung sind die Fahreraktivität, Blinken und der Abstand des Objekts. Schon das reine Blinken ohne zu lenken aktiviert z. B. die Warnung. Beim Bus ist die Abbiegekurve natürlich sehr interessant weil sie besonders anspruchsvoll ist durch seine Länge. Die Radarsensoren erkennen auch Objekte wie Ampeln oder Schildermasten, da haben wir nochmal dazugelernt. Theoretisch könnten wir eine Annäherung bis auf Lackstiftstärke zulassen, was wir natürlich nicht tun, wir haben hier einen Puffer von rund 30 Zentimetern eingebaut, weil ja nur die Pfosten, nicht aber die höher angebrachten Schilder selbst erkannt werden. Auf jeden Fall wird der Fahrer unterstützt und schwache Verkehrsteilnehmer werden geschützt durch das System. 

Die zusätzliche Funktion als Spurwechselassistent deckt zwar einen Bereich bis 15 Meter rechts hinter dem Fahrzeug ab, wäre aber auf der linken Seite auch nicht zur rückwärtigen Verkehrsüberwachung geeignet, die in Deutschland aufgrund der hohen Differenzgeschwindigkeit viel weiter reichen müsste. Er überwacht aber auf jeden Fall den Bereich, der den Fahrer beim Wiedereinscheren nach dem Überholvorgang unterstützt. Der Abstand, der nötig ist, um den Überholten genug Luft zu lassen, ist also in jedem Fall gegeben. 

Anderes Thema: Wie genau funktioniert der Attention Assist im Bus eigentlich genau?

Schumacher: Grundlegend werden ja rund 40 Signale vom System verarbeitet, dabei gibt es ein dominantes Signal, das ist bei uns nicht die Kamera, sondern das Lenkverhalten, das bei jedem Fahrer unterschiedlich ist. Deshalb steckt in dem Algorithmus eine gewisse Lernphase, in der es sich auf einen Fahrer adaptieren kann. Zusätzlich hat man einen "doppelten Boden" eingezogen, damit sich das System nicht auf einen übermüdeten Fahrer einlernt. Wir haben uns anfangs an die Pkw Forschung & Entwicklung angelehnt, da wir bei den Truck-Kollegen hier noch keine Erkenntnisse verwerten konnten. Tatsächlich sind die Truck-Kollegen einen etwas anderen Weg gegangen als wir damals. Grundlegend muss immer die Elektronik (EE)-Architektur passen, aber darauf aufbauend suchen wir natürlich immer nach möglichen hausinternen Synergien. Wir schauen uns derzeit auch das System der Truck Kollegen, sowie Systeme mit Kameraüberwachung an, das Thema wird natürlich weiterentwickelt. Nur so kann man die Müdigkeit des Fahrers direkter messen, die heutigen Verfahren sind wie gesagt eher eine indirekte Ableitung. Natürlich spielt bei den 40 Parametern auch die Tages- oder Nachtzeit eine Rolle oder die Bedienung von Hebeln und Schaltern. Interessanterweise kann man bei der Auswertung dieser Signale nicht von einer langsamen gegenüber einer schnellen Reaktion sprechen, es geht vielmehr um ein komplexes Muster aus langsamen und schnellen Reaktionen, das vom System bewertet wird. Daher kann man das System auch nicht überlisten, indem man für 30 Sekunden keine Lenkbewegungen hat. 

Man hat in der Entwicklung Bewertungsmodelle entworfen, die sich zum Beispiel an der "Sleepiness-Skala" nach Kalinska, die von 1 bis 9 reicht, orientieren. Um dies zu testen, haben wir Fahrer nach einigen Stunden Autobahnfahrt anschließend abends auf dem Testgelände in Papenburg  weiterfahren lassen. Gleichzeitig haben wir deren Gehirnströme auf insgesamt 30 Fahrten gemessen.  Wodurch die Messungen nochmals objektiviert wurden. Gleichzeitig wurden diese Fahrer ständig nach ihrem eigenen Müdigkeitsgefühl befragt. Die ersten Ideen zu diesem Thema hatten wir schon 2006. Erstmals  wurde es dann 2012 im Travego Edition 1 eingesetzt. Das System hat ein paar nutzfahrzeugbezogene Spezifika, wie die Fahrerkarte des Digitalen Tachografen. Nach einer regelmäßigen Pause kann ich das System z.B. neutralisieren und dann neu bewerten. Es kann dann wieder bis zu einer Stunde in Geradeausfahrt dauern, bis sich der neue spezifische Referenzwert ergibt, der sich auf den Fahrer bezieht. Was immer im Hintergrund vorhanden ist, ist der absolute Grenzwert, der immer als Rückfallebene einbezogen wird. Aus dem Feld bekommen wir kein Feedback bisher, dass das System zu häufig anschlägt. 

Wie warnt das System denn den Fahrer genau?

Schumacher: Er wird erst einmal durch ein optisches Signal einer Kaffeetasse gewarnt, gleichzeitig gibt es eine haptische Warnung durch die Vibrationsmotoren im Sitz, die für den Spurassistent (SPA) eingebaut sind. Auf eine akustische Warnung haben wir aus Gründen der Fahrgastaufmerksamkeit verzichtet. 

Welche weiteren Systeme oder Komponenten dürfen wir in Zukunft erwarten?

Schumacher: Wie im Pkw Bereich auch arbeiten wir natürlich an vielen weiteren Assistenzsystemen zur Erhöhung der aktiven Sicherheit im Straßenverkehr. Wir wollen den Fahrer bei Routinetätigkeiten entlasten und in schwierigen Situationen unterstützen.
Mit dem Mercedes-Benz Future Bus haben wir in 2016 gezeigt, was technologisch möglich ist. Die Serienentwicklung neuer Systeme schreitet gut voran. Um hier konkreter zu werden, bitten wir noch etwas um Geduld.