Jurytko: Der Wechsel in ein ganz neues Betätigungsfeld machte genau den Reiz der neuen Aufgabe aus. Ich freue mich sehr auf die Pionierarbeit, die vor uns liegt, und darüber, meinen Teil dazu beitragen zu dürfen. Es geht um eine technologische Weiterentwicklung, um ein Überführen von Forschungsarbeit in eine Kommerzialisierung. Was kann es Besseres geben, als mich mit meiner gesammelten Erfahrung aus 30 Jahren Berufsleben und großer Leidenschaft für diese Themen hier einzubringen? Ich habe ein tolles Team, das die Dinge anpacken, verändern und zum Erfolg führen will.
Ach, der Hemdkragen war bei mir schon vorher offen. Aber Spaß beiseite: Es stimmt schon, dass man sich in einem Start-up frei von manchen Konventionen macht, die man in der Konzernwelt vorfindet. Wir haben viele junge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und eine große Offenheit für neue Formen der Zusammenarbeit. Durch die Nutzung digitaler Tools sind wir flott unterwegs. Vieles geht auf Zuruf, wir kommen zu schnellen Entscheidungen, und ebenso schnell können wir Informationen teilen. Doch sollte man sich nicht täuschen: Auch im Start-up gelten klare Regeln, was Compliance oder Auditierungen angeht.
Aktuell sind wir in der Phase des Aufbaus – sowohl des Unternehmens als auch der Brennstoffzellen-Technologie. Es gibt die klare Vorgabe, bis Mitte des Jahrzehnts für die beiden Anteilseigner eine Serienproduktion von Brennstoffzellen-Systemen zu starten. Auf dem Weg dorthin wurden Meilensteine gesetzt, über die wir offen mit den Anteilseignern kommunizieren. Dazu wurden Regelkreise eingerichtet, in denen wir unsere Informationen synchronisieren – immer unter der Maßgabe, eine 100-prozentige Symmetrie der Informationsgehalte gegenüber Daimler und Volvo zu erreichen. Cellcentric hat jedoch eigene Gestaltungsspielräume und kann sehr frei über die Wahl der Mittel und der Prioritäten entscheiden.
Anfang Oktober waren wir auf der Messe F-Cell in Stuttgart, da war mein Eindruck, dass wir als Daimler-Tochter wahrgenommen wurden. Es sei mal dahingestellt, ob wir bei einer 50-Prozent-Beteiligung wirklich ein Tochterunternehmen sind oder nicht – die Verbindung zu den beiden großen Gesellschaftern wird von außen in jedem Fall gesehen.

Unsere Marktstrategie ist es, in erster Linie unsere beiden Shareholder zu beliefern. Das ist eine Verpflichtung und eine gewisse Sicherheit zugleich, wenn wir schon feste Abnehmer haben. Die Zusammenarbeit mit Drittkunden ist aber ebenfalls fester Bestandteil unserer Strategie. Abseits von mobilen Anwendungen liefern wir auch Komponenten für den stationären Einsatz. Dann kommen weitere Akteure ins Spiel: Mit dem Rolls-Royce-Geschäftsbereich Power Systems haben wir im November eine strategische Zusammenarbeit besiegelt. Auf Basis der Cellcentric-Systeme sollen CO2-freie und klimaneutrale Komplettsysteme zur Notstromversorgung für Rechenzentren zum Einsatz kommen.
Weilheim ist ein möglicher Standort für eine Produktionsstätte – aber nicht die einzige Option. Es stimmt aber: Weilheim ist unsere Präferenz. Final ist das Ganze noch nicht. Es gab bereits eine Dialogveranstaltung mit Bürgerinnen und Bürgern, in der der Bürgermeister die kommunale Planung und wir unser Unternehmen vorgestellt haben. Weitere Experten, auch von Umweltverbänden, waren vor Ort und haben ihre Einschätzung abgegeben. Der Bürgermeister hat weitere Bürgerinnen und Bürger nach dem Zufallsprinzip dazu eingeladen, in sogenannten Bürgerwerkstätten ihre Sichtweise einzubringen. Nach der Präsentation der Ergebnisse im Januar soll es eine Empfehlung an den Gemeinderat geben. Aktuell sind wir also in einer vorbereitenden Phase und im intensiven Austausch mit der Kommune.
Produktionsstückzahlen möchten wir nicht kommunizieren.
Wir wollen eine Fabrik im Gigawattbereich bauen, darunter kann man sich etwas vorstellen. Unsere Vision ist es, der Brennstoffzellen-System-Hersteller Nummer eins zu werden. Wir gehen davon aus, dass rund 400 neue Arbeitsplätze im Endausbau des Werks geschaffen werden. Was das Gewerbegebiet Rosenloh in Weilheim angeht, reden wir über ein 15 Hektar großes Areal. Die Planung sieht eine Aufteilung in zwei Abschnitte vor: eine hochautomatisierte Stackfertigung und eine teilautomatisierte Montage. Am neuen Produktionsstandort möchten wir die unterschiedlichen deutschen Cellcentric-Lokationen zusammenführen. Ziel sind Entwicklung und Produktion unter einem Dach. Das hätte viele Vorteile.
Aktuell arbeiten wir eher als Manufaktur. Wir sind in der Prototypenerstellung für Kundenfahrzeuge unserer Gesellschafter, aber auch an Rolls-Royce Power Systems haben wir schon Brennstoffzellen-Systeme ausgeliefert. An unserem Standort im Esslinger Stadtteil Pliensauvorstadt streben wir 2022 den Aufbau einer Vorserienfertigung an. Zug um Zug muss dann der Aufbau der Belegschaft erfolgen. Cellcentric sucht die gesamte Bandbreite an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller Qualifikationsniveaus, die uns auf unserem weiteren Weg unterstützen. Im nächsten Schritt gilt es dann, die Produktion am neuen Standort zusammenzuziehen und das Know-how dorthin zu überführen. Angestrebt ist ein Baubeginn 2023. Es ist aber auch nicht so, dass wir mit allen Aktivitäten bei null beginnen würden.
In Cellcentric bündeln Daimler Truck und die Volvo Group bereits 30 Jahre Erfahrung in der Entwicklung und Produktion von Brennstoffzellensystemen. Cellcentric entstand aus den brennstoffzellenorientierten Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionsabteilungen der Daimler AG, die in der heutigen Cellcentric-Organisation aufgegangen sind. Daher verfügen wir in Kirchheim, Esslingen, Stuttgart und im kanadischen Burnaby bereits über einen Expertenstamm von mehr als 300 hervorragend ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, also in der Phase der Prototypenentwicklung, haben wir in der Supply-Chain noch keine Einschränkungen. Wir machen uns aber schon darüber Gedanken, wie das später zu organisieren ist. Wir verfügen über ein gutes Lieferantennetzwerk und werden uns auch in Zukunft die internationalen Lieferströme genau anschauen. Unserer Ansicht nach muss das Produkt dort produziert werden, wo es am Markt verkauft wird. Das hängt nicht nur mit der Logistik, sondern vor allem auch mit Umwelt- und Kostengesichtspunkten zusammen.
Unser Produkt muss sich für den Kunden rechnen, er möchte für seinen grünen CO2-Fußabdruck auch eine Bestätigung über die Wirtschaftlichkeit seiner Entscheidung haben. Dann wird das Ganze ein Businesscase. Dazu braucht es auch die nötige Wasserstoffinfrastruktur, und es braucht in der Anfangsphase entsprechende Lenkungseingriffe des Staates. Ehe wir wirklich große Stückzahlen produzieren, wird es erforderlich sein, die Kostennachteile durch Anreize und über Förderprogramme auszugleichen.
Für die Brennstoffzelle ist es unerheblich. Sie läuft sowohl mit flüssigem als auch mit gasförmigem Wasserstoff. Zu dieser Frage positionieren sich bereits die Hersteller, darunter unsere Gesellschafter.
Unser Aggregat verfügt über eine Nettoleistung von 150 kW. In Prototypen-Fahrzeugen schalten wir zwei Systeme mit je 150 kW zusammen, was hinreichend Leistung bringt. Wollte man mehr Einheiten koppeln, ist das möglich, aber auch eine Frage des Bauraums und des Gewichts. Das alles geht zulasten des Ladevolumens und der Nutzlast. Das will daher gut überlegt sein. Bei stationären Anwendungen verhält es sich anders: Hier sind ohne Probleme auch Leistungen im Megawatt-Bereich möglich.
Wir werden uns nicht verschließen, was weitere Anwendungsfälle angeht, etwa die Entsorgung. Der Fernverkehr ist prädestiniert und unser primärer Fokus: Je schwerer die Last, je weiter die Strecke und je variabler und unplanbarer die Route, desto mehr ist die Brennstoffzelle die richtige Wahl.
Das sage ich gar nicht. Es wird ein Miteinander von Batterie und Brennstoffzelle geben. Überall dort, wo die Routen planbar sind und das Fahrzeug regelmäßig, auch über Nacht, geladen werden kann, sehe ich Einsatzmöglichkeiten für batterieelektrisch angetriebene Lkw. Wie hoch im Einzelnen die Hersteller ihre Anteile an batterie- und wasserstoffbetriebenen Lkw sehen, liegt aber nicht in unserem Ermessen, sondern im Auge der OEMs. Klar ist, dass es beide Antriebsarten braucht, wenn man sich die EU-Vorgaben von minus 15 und 30 Prozent CO2 bis 2025 und 2030 vor Augen hält.
Zur Person
- Dr. Matthias Jurytko (60) ist seit 1. Juni CEO von Cellcentric, dem Brennstoffzellen-Joint-Venture von Daimler Truck und der Volvo Group.Jurytko blickt auf eine mehr als 30-jährige Karriere bei Daimler zurück.
- 1990 trat er als Trainee ins Unternehmen ein und übte im Lauf der Jahre mehrere Führungsfunktionen aus: als Chef des Controllings bei Daimler Truck Powertrain, als Leiter des Werks Gaggenau und zuletzt als Leiter des Lkw-Werks Wörth.
- Jurytko studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Technischen Uni Karlsruhe und promovierte an der Uni Stuttgart.