Gerade sitzen wir in der Autobahnkanzlei noch in lockerer Runde mit Marie* und Karl* zusammen. Wir warten auf den Pizzaboten. Sie haben uns zum Dank eingeladen. Der Abstandsverstoß gegen die beiden wurde eingestellt. Plötzlich klingelt das Telefon. Was ich höre, verschlägt mir die Sprache. Am anderen Ende der Leitung ist Josef*. Der betreibt eine kleine Spedition mit vier Wagen. Ein grundehrlicher Typ, bei dem die Fahrtzeiten alle immer blitzsauber sind. Er schildert, dass er Regina* vor zwei Monaten eingestellt hat. "Sie hatte die Nase voll von ihrem alten Arbeitgeber", sagt er. Weil sie das Theater mit den Lenkzeiten nicht mehr mitmachen wollte, hat sie fristlos gekündigt. Nun habe sie jedoch ein noch größeres Problem.
Richter verkündet Freispruch
Bevor Josef mir alles Weitere aufgeregt und hastig am Telefon erzählt, bitte ich ihn, mit Regina in die Kanzlei zu kommen. "Die muss aber zwei kleine Kinder mitbringen", meint er. "Macht nichts", erwidere ich. "Hier sind drei außer mir in der Autobahnkanzlei, die sich kümmern." Kurze Zeit später sitzen wir an meinem Schreibtisch. "Erst mal durchatmen", rate ich. Regina zieht einen gelben Umschlag aus der Handtasche. "Das ist mein Untergang", klagt Regina. Ihr Mann hat sie vor zwei Wochen wegen einer anderen verlassen. Wo er ist, weiß sie nicht. Ihre Mutter kümmert sich um die Kinder. Josef teilt alles so ein, dass es passt. Das Schlimmste ist jedoch der Brief in dem gelben Umschlag: 7.000 Euro Bußgeld wegen Lenk- und Ruhezeiten soll sie bezahlen. "Wissen Sie, was das heißt", fragt sie und beginnt wieder zu weinen. Ich nehme den Umschlag. Unmengen an Verstößen sind auf drei Seiten aufgelistet. Mir springt sofort ins Auge, dass hier von Vorsatz ausgegangen wird. Ich rede über eine Stunde mit Engelszungen auf die beiden ein, zeige Verteidigungsmöglichkeiten und Strategien auf. Ein wenig kann ich sie beruhigen, denke ich. Aber von 1.200 Euro netto zu leben, voraussichtlich ohne die Unterstützung ihres Mannes, der alles mit seinem neuen Turteltäubchen durchbringt, ist sowieso schon schwer. Außerdem hat der alte Chef massiv Druck gemacht. Regina war das richtige Opfer für ihn: ihr Mann arbeitslos, die Finanzen in Schieflage. Sie konnte nicht riskieren, ihren Job zu verlieren. Daher tat sie, was der Chef ihr sagte, und überzog die Lenkzeiten. Doch als sie über 20 Stunden am Stück fahren sollte, reichte es ihr und sie kündigte. – Ich verspreche, am nächsten Tag gleich mit der Behörde zu reden. Die dortige Sachbearbeiterin informiert mich darüber, dass der ehemalige Arbeitgeber einen entsprechenden Bescheid bekommen hat. Ich weise auf die Drucksituation hin – zum einen die miserable wirtschaftliche Lage, in der sich Regina befindet, zum anderen darauf, dass sie selbst mit der Kündigung die Reißleine gezogen hat. Auf ihre Aufforderung hin bekommt die Sachbearbeiterin das Ganze zusätzlich schriftlich.
Es vergeht eine Woche mit vielen Telefonaten, dann liegt der geänderte Bescheid vor. Noch 1.400 Euro will der Staat. Immer noch zu viel, denke ich und lege Einspruch ein. Mir ist klar, dass der Ausgang des Verfahrens ungewiss ist. Der Richter, bei dem das landen wird: Er ist knallhart, aber juristisch korrekt. Es vergehen Wochen, bis die Sache bei Gericht landet. In der Zwischenzeit kehrt Ruhe ein, bis Regina nachts auf meinem Handy anruft. Sie habe gerade ihren ehemaligen Chef auf einem Autohof getroffen. Er hat mit einer Holzbohle die Tür ihres Lkw malträtiert und immer wieder geschrien: "Nimm das zurück, oder es passiert was!" Sie habe sofort die Polizei gerufen. Sie könne sich nur denken, dass damit die Vorwürfe gegenüber der Behörde gemeint seien. Ihr Exchef hatte ihr bereits in der Vergangenheit gedroht: Als sie ihm damals sagte, dass sie das mit den Fahrzeiten und dem Karteziehen nicht mehr mitmachen wird, hatte er gesagt: "Denk an deine Kinder." Nur aus Angst um ihre Existenz und ihre Kinder hat sie das eine Zeit lang mitgemacht. Der Angriff auf dem Autohof setzt bei ihr Energien frei. Sie will jetzt Anzeige erstatten. Ihr sei jede Entscheidungsfreiheit genommen worden. Der Satz "Denk an deine Kinder" hat sich wie zwei Hände um Hals und Gurgel gelegt. In der Verhandlung hört sich der Richter den Fall an. Regina ist gefasst. Der Richter ermahnt sie, die Wahrheit zu sagen. Eine falsche Anzeige sei auch eine Straftat. Ob sie die nicht lieber zurücknehmen wolle. "Nein", sagt Regina. "Wenn wir alle immer nur Angst haben, dann macht der das doch ewig so." Der Richter erhebt sich und verkündet Freispruch. Jetzt kommen mir die Tränen.
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