Lkw-Abbiegeunfälle: Und plötzlich stand die Radfahrerin da

Lkw-Abbiegeunfälle
Und plötzlich stand die Radfahrerin da

Bereits im September 2023 gab es in Köln einen vermeintlichen Abbiegeunfall zwischen dem Fahrer eines damals schwarzen 26-Tonners und einer Radfahrerin. Nun wurde das Verfahren gegen den Kölner Blumenhändler Tobias Baum eingestellt. Aber woher kam die Frau?

Und plötzlich stand die Radfahrerin da
Foto: Jan Bergrath

Das Lager der beiden „Blumenbrüder“ Jens und Tobias Baum an der Rhöndorfer Straße neben der Eisenbahnstrecke Richtung Süden ist noch eine letzte Idylle im Gewerbemischgebiet von Köln-Sülz. Fast italienisches Flair. 60 Jahre Tradition, der Vater war Fernfahrer. Tobias, 44 Jahre alt, verheiratet, Vater zweier Kinder, arbeitet seit 25 Jahren im Blumengeschäft. Morgens in der Frühe geht es zum Blumengroßmarkt in Köln-Riehl, lokale Erzeugnisse für die Kunden auf Wochenmärkten im Kölner Südwesten besorgen. Manchmal auch nach Holland für bestimmte Produkte. Immer dieselben festen Plätze an sechs Tagen die Woche. Sie bauen den Stand auf, die Mitarbeiter vor Ort, auch aus der Familie, verkaufen die Ware. Manchmal bleibt der Lkw stehen, manchmal holen Tobias oder sein Bruder Jens, 50, die sich dabei abwechseln, in der Zwischenzeit frische Ware.

Jan Bergrath

Der rote Actros ist neu im Fuhrpark. Den ehemals "bedrohlich schwarzen" haben sie in "freundlicheres" Weiß umlackiert.

Seit Januar haben sie nun einen zweiten Lkw, einen roten Actros 1840 von einem anderen Händler übernommen. Das entspannt seither das Geschäft. Sie hatten sich dennoch für den dreiachsigen Gigaspace mit gelenkter Hinterachse in schwarzer Lackierung entschieden. Weil es schick aussah. Nicht ahnend, dass unbeteiligte und unwissenden Zeugen diesen Lkw aus einem Straßencafé heraus einmal als bedrohend wahrnehmen würden.

Verdacht der fahrlässigen Körperverletzung

Praktisch eine Kreuzung vom Lager entfernt ist das Gebäude der Kölner Staatsanwaltschaft, die im Herbst 2023 ein Verfahren wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung gegen Tobias Baum eröffnet hatte. Der Grund: ein sehr tragischer Unfall ebenfalls nur wenige Kreuzungen entfernt im längst gentrifizierten Teil von Sülz, auf der Sülzburgstraße, der lokal beliebten Einkaufsmeile mit Geschäften und Gastronomie, bei dem eine junge Radfahrerin an einem Freitagnachmittag unter die Vorderachse des Actros geraten war. Auf den ersten Blick nach den in der Kölner Lokalpresse schnell veröffentlichten Bildern sah es auch nach einem klassischen Rechtsabbiegeunfall aus. Was sich aber sehr bald als Trugschluss erwies. Denn beim Versuch, die junge Frau schnell zu befreien und in ein Krankenhaus zu bringen, hatte die Feuerwehr den Lkw vorne angehoben, die Achse hatte sich gedreht, und wurde dann so wieder abgesetzt.

Was macht ein 40-Tonner in der Einkaufsstraße?

Auch ich wohne nicht weit entfernt, bin dort oft mit dem Rad unterwegs und kaufe meist beim REWE ein. Oder dem lokalen Markt auf dem Auerbachplatz. Den Unfall am 8. September an der zugegeben nicht ungefährlichen Kreuzung zur Berrenrather Straße hatte ich damals nur aus der Lokalpresse mitbekommen und mich zuerst über die Tatsache gewundert, dass die Kolleginnen und Kollegen die erste Meldung der Polizei, dass es sich um einen 40-Tonner handeln würde, einfach übernommen hatten, obwohl der dreiachsige Motorwagen ein 26-Tonner ist. Und das zahlreiche Zeugen zunächst davon sprachen, dass der Actros vor dem Unfall parallel zu der 28-Jährigen gefahren sein soll. Erst später, nach einem zufälligen Gespräch auf dem Marktplatz hatte ich in einem Brennpunkt im Magazin FERNFAHRER darüber berichtet und Zweifel bekundet, dass der Unfall sich so zugetragen haben könne, wie es beschrieben wurde. Auch im Austausch mit dem Pressesprecher der Staatsanwaltschaft.

Jan Bergrath

Tobias Baum lässt mit den Unterlagen das Verfahren Revue passieren.

Ausgestattet mit dem Active SideGuard Assist

Ich hatte explizit darauf hingewiesen, dass die Halter des Lkw, die ich natürlich schon kannte, aber vor einem ausstehenden Gerichtsverfahren namentlich nicht nennen konnte, sich ganz bewusst für den Active SideGuard Assist (ASGA) entschieden hatten, um genau diese Unfälle zu vermeiden, und dann die These formuliert, dass dennoch ein Gutachter mutmaßlich alles versuchen wird, dem Fahrer nachzuweisen, dass er die Radfahrerin und sei es nur für wenige Sekunden, hätte sehen und den Unfall verhindern können. Denn immer wieder habe ich in der Vergangenheit über klassische Abbiegeunfälle berichtet, den sogenannten „Toten Winkel“ und die seit Jahren diskutierte Problematik, dass ein Lkw-Fahrer nicht alle Spiegel seines Lkw gleichzeitig im Blick haben kann. Im Stand schon eher, wenn die Spiegel auch alle richtig eingestellt sind, im dynamischen Abbiegen eher nicht.

Die lange Zeit zwischen Unfall und Gerichtsverfahren

Nach jedem Lkw-Unfall, bei dem überwiegend Radfahrerrinnen oder auch Kinder die Opfer sind, reagieren reflexartig die Lobbygruppen wie der ADFC in den Städten mit einer immer größer werdenden Gruppe der Radfahrenden, fordern Verbesserungen der Infrastruktur, eigene Ampelschaltungen, Rechtsabbiegeverbote für Lkw, behaupten mitunter, dass die meisten Radfahrenden ja nicht wissen könnten, was ein Lkw an einer Kreuzung machen würde und fordern nicht zuletzt den verpflichtenden Einbau von Abbiegeassistenten, um diese Unfälle zu vermeiden. Die in der StVO hervorgehobene gegenseitige Rücksichtnahme fällt dabei in der Regel unter den Tisch. Und leider dauert es in der Regel hierzulande viel zu lange, bis durch ein Gerichtsverfahren die „Wahrheit“ über den Unfall beurteilt wird und dann als Randnotiz aus der Verhandlung vor den Amtsgerichten in den Medien erscheint. „Das war für uns eine extrem schwierige Zeit“, sagt Tobias Baum heute. Schon an Karneval 2024 hatten sich die Blumenbrüder daher entschieden, den Lkw für 20.000 Euro umzulackieren. Weiß mit stilisierten Pflanzen.

Ein Teil der Wahrheit kurz vor Weihnachten

Kurz vor Weihnachten rief Tobias Baum mich dann an, sein Anwalt hätte ihn darüber informiert, dass das Verfahren eingestellt worden sei. Anfang des Jahres wurde es mir von der Pressestelle der Staatsanwaltschaft bestätigt. Wortwörtlich hieß es: „Die Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren Anfang Dezember 2024 eingestellt, weil sich der für eine Anklageerhebung erforderliche Grad des „hinreichenden Tatverdachts“ nicht hat begründen lassen. Insbesondere musste offenbleiben, ob der Beschuldigte die Radfahrerin tatsächlich wahrgenommen hat bzw. wahrnehmen konnte. Der Beschuldigte hat erklärt, dies sei nicht der Fall gewesen. Auch die aufwendigen gutachterlichen Untersuchungen sind zu demselben Ergebnis gelangt. Die weiteren Erkenntnisse aus Zeugenbefragungen zu dieser Frage haben nichts Gegenteiliges ergeben. Vor diesem Hintergrund war das Verfahren einzustellen, da ein Sorgfaltspflichtverstoß des Fahrers nicht belegbar war.“ Natürlich war die Erleichterung bei Tobias Baum zu spüren und wir verabredeten uns, bei nächster Gelegenheit vor Ort über den genauen Hergang endlich offen zu sprechen und ihn dabei auch zu rehabilitieren. „Es gab in der gesamten Zeit so viele Vorurteile gegen uns. Und das vor allem auch von den vielen Menschen in Köln, die sich gar keine Gedanken machen, wie die Ware vom Erzeuger per Lkw überhaupt ins Geschäft oder auf den Markt kommt.“

Ein sehr detailliertes Gutachten

Und so zeigte mir Tobias Baum nun Mitte März, nachdem er einen Teil der nicht verkauften Ware ins Lager geschoben hatte, am Laptop das 78 Seiten lange Gutachten eines in Köln sehr renommierten Sachverständigen, der an vielen Gerichtsverfahren um Abbiegeunfälle beteiligt ist. Eine sehr aufwendige und sehr detaillierte Arbeit mit vielen Bildern und Grafiken. Alleine gut 20 Seiten sind den sich teils widersprechenden Zeugenaussagen gewidmet und der Frage, welche der vielen Radfahrerinnen, die an einem spätsommerlichen Freitagnachmittag auf der Sülzburgstraße unterwegs sind, es überhaupt hätte gewesen sein können. Eine blonde Frau, die Tobias Baum aus dem Lkw angeblich angehupt hatte, damit sie Platz machen solle, stellte sich als falsche Fährte heraus. Auch war er nicht an einem Café mit seinem schwarzen Ungetüm bedrohlich vorbeigerast, die Auswertung der Tachodaten ergab eine Geschwindigkeit um die 20 Km/h, eine typische Stadtfahrt. Bis er dann, im oben genannten Brennpunkt des FERNFAHRER ist es deutlich erkennbar, auf der Sülzburgstraße genau vor den Parkplätzen des REWE-Marktes verkehrsbedingt zu stehen kam. Und das Gutachten mit sehr vielen Grafiken aus Drohnenaufnahmen die Frage zu klären versucht: Woher kam die Frau?

Jan Bergrath

Blumen sind das Geschäft der beiden Brüder aus Köln.

Einfach nicht gesehen

Denn Tobias Baum hatte zu Protokoll gegeben, dass er die Radfahrerin schlicht und einfach nicht gesehen hatte und erst beim Anfahren durch Schreie der Passanten gewarnt wurde. Hier entfaltet das Gutachten seine Stärke zur „Entlastung des Fahrers“. Es ist ausgeschlossen, dass die Radfahrerin den Lkw nach den wenigen wirklich verwertbaren Zeugenaussagen links überholt hat. Vielmehr hat sie diesen, wie es heißt, verbotenerweise rechts überholt. Dann habe sie sich vor ihm mit ihrem Citybike, der Fahrradkorb hinten voll beladen mit Wasserflaschen, in einem nachweisbaren Winkel so hingestellt, dass Tobias Baum sie weder vom Sitz aus noch über den Spiegel rechts über der Windschutzscheibe habe sehen können. Damit ist auch der spätere Unfallhergang schnell erklärt: Beim gemeinsamen Wiederanfahren hat der Actros das Hinterrad des Fahrrades von hinten getroffen, was sich an den Spuren am Lkw belegen lässt. Die Radfahrerin ist ins Trudeln gekommen, das Rad möglicherweise nach rechts umgefallen, die junge Frau auf Höhe des Fußgängerüberwegs nach links gestürzt, die Füße in den Sandalen praktisch unter dem rechten Vorderreifen. Einen Helm trug die Frau nicht. Zum Glück hatte sie mit zunächst schweren Verletzungen den Unfall überlebt, wurde erst später zum Hergang befragt. Da er sofort gebremst hatte, konnte Tobias Baum am Ende wohl eine Tragödie verhindern. „Dennoch war ich völlig geschockt“, sagt er. Den Lkw hat er an diesem Tag nicht mehr gefahren, den Stand hat sein Bruder mit einem anderen Lkw abgeholt.

Die juristische Würdigung

In letzter Konsequenz hätte das Amtsgericht Köln nun also würdigen sollen, so steht es im Gutachten, ob Tobias Baum, der an dieser Stelle nicht damit hätte rechnen müssen, dass ihn die Frau angeblich rechts überholt haben soll, sie vielleicht doch für wenige Augenblicke in den rechten Rückspiegeln und kurz im Frontspiegel hätte sehen müssen. Die Juristen haben sich dafür entschieden, das Verfahren lieber einzustellen. Doch just an dieser Stelle kommt die größte Schwäche des Gutachtens zum Tragen: Denn der renommierte Gutachter zeigt zwar die Bilder der innenliegenden Bildschirme, die das Bild der deutlich erkennbaren MirrorCams übertragen, aber er spricht die ganze Zeit von normalen Spiegeln.

Schlimmer noch. Am Ende des Gutachtens heißt es wortwörtlich: „Zu weiteren technischen Einrichtungen des Fahrzeuges wie z.B. dem „Active Brake Assistant“ ist auszuführen, dass bei der Unfallaufnahme nicht ermittelt wurde, ob und wie diese Systeme funktionieren und ob diese eingeschaltet waren oder nicht. Nach den Bildern zu bewerten, verfügte der Lkw nicht über ein Seitenradar oder einen aktiven Abbiegeassistenten oder eine Seitenkamera. Der Abstandsradar ist abschaltbar und funktioniert auch erst ab einer bestimmten einstellbaren Geschwindigkeit, wobei diese Einstellungen bei der Unfallaufnahme nicht festgehalten wurden. Insofern sind diese Systeme im Nachhinein nicht mehr untersuchungsfähig.“

Wo fuhr die Radfahrerin am Ende wirklich?

Ich kann nachvollziehen, dass die Kolleginnen und Kollegen der Lokalpresse einen 26-Tonner nicht von einem 40-Tonner unterscheiden können, und dass ein geschulter Fachjournalist wie ich natürlich sofort die MirrorCams am Lkw erkannt hat. Aber dass ein renommierter und in Köln oft beauftragter Gutachter dies anhand der Bilder nicht erkannt hat und sich dabei am Ende eine Falschaussage leistet, kann ich nicht nachvollziehen. Denn auch im Stand warnt der ASGA, hier ein kurzer Film dazu. Aber wer am Ende keine Fragen stellt, bekommt auch keine Antworten.

Tobias Baum ist vor allem erleichtert, dass ihn keine Schuld trifft. Seit dem Unfall fährt er noch umsichtiger und nutzt am Freitagnachmittag nun den kleinen Umweg über den Sülzgürtel. Und so ist es am Ende meine Interpretation, dass die Radfahrerin sich an dieser Stelle nie und nimmer rechts an dem stehenden Lkw vorbeigeschlängelt haben kann. Sonst hätte der ASGA den Fahrer gewarnt. Es ist daher nicht auszuschließen, dass sie, was ich vor Ort immer wieder persönlich beobachtet habe, den Lkw auf dem Gehweg vor dem REWE überholt hat, unerkennbar für den ASGA, und genau in der Lücke zwischen den parkenden Pkw und der damals noch hohen Hecke des beliebten Biergartens vor den stehenden Lkw auf die Straße gefahren sein könnte. Denn plötzlich stand sie da. Die „Wahrheit“ wird hier wahrscheinlich nicht mehr ermittelt werden.