Scania Touring Viel Reisebus für wenig Geld

Scania Touring, weiss Foto: Karl-Heinz Augustin 10 Bilder

Messerscharfer Blick mit Xenon-Licht und gepfeilten LED-Tagfahrleuchten, tiefgezogener ausladender Frontspoiler, V-förmige mattschwarze Frontblende und mittendrin ein riesiger Markenschriftzug - der Scania Touring tritt extrovertiert auf wie frisch vom Autotuner. Ein wenig aggressiv schaut er drein, so aggressiv wie die Firmenpolitik: 238.500 Euro für einen wuchtigen, knapp 14 Meter langen dreiachsigen Hochdecker mit Komplettausstattung, das ist ein Ding.

Umgerechnet kostet der lange Dreiachser keine 15 Euro pro Kilo - kein Filet-, sondern ein Schnitzelpreis. Wem der Betrag zu hoch und 14 Meter zu lang sind, der greift zum Zweiachser für 190.000 Euro.

Hinter dem Touring steckt ein Politikum: Die Schweden lassen den Hochdecker in China bauen. Entwickelt und verkauft als Scania, auch mit Scania-Antriebskomponenten, doch gebaut in China vom dortigen Großanbieter Higer, eng verwandt mit der auch hier bekannten Marke King Long. Der riesige Markenschriftzug verdeckt nur mühsam, dass es sich passend zur Lackfarbe um weiße Ware handelt, deren Herkunft erst eine aufwendige Plakette auf der Flanke auflöst.

Kaum Auswahl an Ausstattung

Wie's beim Discounter üblich ist: Auswahl gibt es nicht. Der Bus ist nur in Einheitsgröße und mit Einheitsausstattung zu haben. Zur Wahl stehen Motorleistung, drei Farben für die Vorhänge, jeweils ein gutes Dutzend Lacke und Polsterstoffe für geduldige Individiualbesteller. Über Lieferzeiten schweigt sich Scania aus. Der übliche Touring wird weiß sein, die Farbe der Vorratsbusse. Man kann auf die ausladende Fahrerschlafkabine verzichten und statt des mickrigen 15-Zoll-Monitors am Mitteleinstieg für stolze 53 Euro einen 17-Zöller erwerben, der in die Serienausstattung gehört, das war's schon.

Busunternehmer müssen den Touring nehmen, wie er ist - oder die Finger davon lassen. Für seinen Niedrigpreis bringt der Scania eine Menge mit: Xenon-Lampen etwa und eine ganz ungeniert aufgesetzte Dachklimaanlage, Schlafsessel und Bordküche, Toilette, einen Diesel mit 324 kW (440 PS) und ein automatisiertes Getriebe. Mehr braucht man ohnehin nicht.

Oder doch? Seitlich verstellbare Sessel und Klapptische sind im Touring ebenso Fehlanzeige wie ein Kühlschrank vorn im Armaturenbrett, hier sitzt er oberhalb der Küche. Individualisierung schätzt man bekanntlich nicht in China. Und wer einen Bus über die halbe Welt von der chinesischen Küste bis zum belgischen Hafen Antwerpen schippert, der kann sich auch keine individuellen Ausstattungsmerkmale leisten. Der Superpreis ist deshalb auch Trostpflaster, das war einst mit dem frühen Mercedes Tourismo aus der Türkei nicht anders.

Innenausstattung: Leder trifft Plastik

Der stattliche Scania hat ja auch was. Weit mehr als zwei Meter Stehhöhe, das ist üppig. Und die leicht wellige Decke gerät fast außer Sichtweite. Die Sitze asiatischer Herkunft sind angenehm gepolstert und geben guten Seitenhalt. Nun ja, die Kopfstützen drücken langen Fahrgästen ein wenig zwischen den Schulterblättern, die Gurtschlösser baumeln an der Seite, die Rückenlehnen tragen Hartplastik. Das Interieur wirkt mit seinen grauen Verkleidungen für Seitenwände und Luftkanäle zusammen mit den dunklen Sitzen trist.

Aber die Lederbezüge aus den Häuten chinesischer Rinder lassen den Bus duften wie ein Schuhgeschäft der gehobenen Sorte. Die indirekte Beleuchtung durch Röhren oben ist so effektvoll wie die Nachtbeleuchtung mit blauen Lichtleitern unten. Das Kontrastprogramm findet sich im Einstieg: schlichte Trittstufenbeleuchtung, einfache Deckenlampen über Fahrer und Begleiter sogar ohne Abdeckung, links wie rechts Mikros der einfachen Sorte - alles eine Kostenfrage. Gespart hat man auch am Fußraum vor dem Begleiterplatz. Dessen Sicherheitsgurt ist für kräftig gebaute Europäer gar ein fesselndes Erlebnis, da schlicht zu kurz.

Verarbeitung: Hauptsache es hält - wenn auch nicht das, was es verspricht

Üppig geht's dagegen auf dem Fahrerplatz des Touring zu, hier können sich selbst Riesen strecken. Das Scania-Lenkrad liegt gut in der Hand, sein dicker Kunststoffkranz ist griffig wie echtes Leder. Die Instrumente einschließlich des Displays sind nach bekannter Art des Hauses leicht ablesbar und informativ. Generell gibt die Bedienung des Touring keine Rätsel auf. Nur an Ablagen hapert's ein wenig. Wer die beiden Deckel in der Frontkuppel öffnet, der findet wider Erwarten keine Staufächer, sondern jede Menge Bauschaum und willkürliche Verschraubungen, als hätten chinesische Monteure etwas zu eifrig am Reiswein genippt.

Das Kopfschütteln wiederholt sich nach dem Öffnen der Stauklappe hinter der Vordertür: Rund um die Bohrung für einen Ablauf lagen beim Testwagen noch die Original-Bohrspäne. Sie hatten sich auf dem langen Weg von der Fabrik zum Test in Rostklumpen verwandelt und bereits flächendeckend den Boden des Busses attackiert. Der deplatziert wirkende Standard-Waschwasserbehälter aus dem Lkw gleich dahinter fiel da schon nicht mehr in Betracht. Schlampereien, die mit einem Günstigpreis weder zu erklären, noch zu entschuldigen sind.

Gute Fahreigenschaften

Die angenehmen Seiten des Scania Touring werden deutlich, wenn er sich in Bewegung setzt. Der Motor arbeitet sanft wie ein Lamm und packt doch an wie ein Ochse. Weich läuft der Diesel, so butterweich und leise, dass man ab und zu vernehmlich die Hinterachse mahlen hört. Die Motorleistung von 324 kW (440 PS) klingt nicht gerade spektakulär, die Wahrheit aber ist ein wuchtiges Drehmoment von 2.300 Newtonmeter (Nm) zwischen 1.000 und 1.300 Umdrehungen. Bei diesen 1.300 Touren hat der Diesel schon annähernd seine Höchstleistung erreicht. Dank 12,7 Liter Hubraum schüttelt er sie lässig aus dem Kurbelgehäuse.

Dazu passt die aktuelle Ausgabe der automatisierten Schaltung Scania Opticruise. Sie verzichtet endlich auf das lästige Kupplungspedal fürs Anhalten und Anfahren. Passend zur Durchzugsstärke der Maschine schaltet das Getriebe meist bei etwa 1.500 Touren, überspringt auch gerne den einen oder anderen Gang der zwölf Stufen. Überflüssig ist die Power-Stellung des Getriebes, sie bringt nur unnötig hohe Drehzahlen und damit Nervosität ins Geschehen. Zumal der Fahrer über die Kick-down-Stellung des Gaspedals mit einem klaren Druckpunkt bei Bedarf jederzeit Leistung abfordern und per Lenkstockhebel manuell eingreifen kann. Generell schaltet das Getriebe komfortbetont und hat es nicht sehr eilig, der Scania gibt nicht den Springinsfeld. Nur beim Zurückschalten in den unteren Gängen ruckt es manchmal ein wenig, an der Feinabstimmung arbeitet Scania noch.

Der Antriebsstrang hat Klasse, der Touring hätte sich das nervöse Zittern der Außenspiegel vor den deftigen Steigungen auf der Redaktionsstrecke zwischen Stuttgart und Nordschwarzwald ersparen können. Hinzu kommt eine offensichtlich gute Aerodynamik des Hochdeckers. Sie macht sich durch kaum wahrnehmbare Windgeräusche sowie einen sehr niedrigen Autobahnverbrauch bemerkbar. Hier gleitet der Scania entspannt mit rund 1.300 Umdrehungen bei Tempo 100 im zwölften Gang dahin. Der Diesel murmelt nur leise, die Türen zischeln kaum, die Abrollgeräusche sind minimal.

Der Touring ist wendig und sparsam

Ohnehin fährt der Scania komfortbetont und gleichzeitig stabil. Er kennt weder eine übergroße Seitenneigung in Kurven noch lästige Nickschwingungen. Etwas unwirsche Reaktionen und leichte Poltergeräusche des Fahrwerks bei kurzen Bodenunebenheiten fallen kaum auf. Auch ist der Fahrer in Windeseile mit dem Bus vertraut und fühlt sich wohl am Steuer. Schlägt er über die Stränge, bremst ihn das serienmäßige ESP frühzeitig und sanft wieder ein.

Beim Einfahren in die enge Tankstelle zeigt der lange Touring trotz überschaubarem Einschlag der Vorderachse überraschende Wendigkeit. Der vergleichsweise große Achsabstand von Achse zwei zu drei und der üppige Einschlagwinkel hinten machen es wett. Allerdings müsste er deshalb fast das Tieflader-Warnschild "Heck schwenkt aus" tragen, der Scania ist mit Vorsicht zu genießen. Im speziellen Manövriermodus des Getriebes funktioniert das Rangieren perfekt. Zentimeterweise zirkelt der lange Hochdecker, wenn es richtig eng zugeht. Bei verwinkelten Tankstellen ist dies hilfreich, da es den Einfüllstutzen für Diesel nur auf der linken Seite gibt.

Doch der Scania ist ein seltener Gast an der Zapfsäule. 32,3 Liter schluckt er im Mittel, angesichts eines Testgewichts von 22 Tonnen, drei Achsen und der anspruchsvollen Teststrecke ein prima Wert. Zumal bei Scania kein Zuschlag für Adblue fällig ist.

Ein letzter Blick auf den davonziehenden Touring zeigt analog zum Bug ein Heck, an dem ein Designer kräftig Hand angelegt hat. Oben ziert ein Heckflügel den Bus, in der Mitte rahmen ihn üppige Leuchten mit LED-Lampen ein, unten ein weiterer Spoiler. Indes wirkt der untere Bereich des Touring in direkter Rückansicht wegen eines starken Einzugs, als hätte man ihm das Gebiss genommen. Biss aber, den hat der spannende Discount-Hochdecker Scania Touring nun wirklich.

Fazit

Licht und Schatten liegen eng beieinander

Das Fazit zum Scania Touring fällt nicht leicht, seine Eigenschaften klaffen weit auseinander. Er sieht attraktiv aus. Er fährt sich prima, ist billig und sparsam. Die Einheitsausstattung muss man akzeptieren oder woanders einkaufen. Der Service läuft über Scania und das Ersatzteillager in Belgien. Die Profis sollten spezifische Teile für Omnibusse beherrschen. Wie's mit bustypischen Knackpunkten wie der Elektrik  in der Praxis aussieht, muss sich zeigen. Zum Niedrigpreis addiert sich die Frage, zu welchem Preis man den Discountbus später in Zahlung geben kann? Stichwort Rückgabe und Discounter: Einen Bus in der Verarbeitungsqualität des Testwagens hätte man bei Aldi vermutlich anstandslos umtauschen können.

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
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