Notbremssysteme Verkehrskonferenz zur Unfallvermeidung

MAN rot notbremsen Foto: MAN Presse

Die Verkehrsminister der Bundesländer haben Empfehlungen beschlossen, um die zunehmende Zahl von Lkw-Unfällen am Stauende mit verbesserter Technik zu verhindern.

Der 11. Oktober, ein Dienstag, ist so ein Tag, der jeden Berufskraftfahrer zum Nachdenken bringen müsste. Auf der A 5 kracht ein Lkw in ein Stauende, auf der A 65 und der A 81 ebenfalls. Die Fahrer werden leicht oder schwer verletzt. Auch auf der A 10 rast ein Lkw ungebremst in das Heck eines im Stau stehenden Kollegen. Der Fahrer stirbt im komplett zerstörten Lkw. Vor allem auf den deutschen Transitachsen sind diese Unfälle gegen den positiven Trend der Vorjahre wieder deutlich gestie-gen. Die Landesverkehrswacht Niedersachsen hat das zusammen mit Experten aus dem Landesverkehrsministerium hauptsächlich für die A 1, die A 2 und die A 7 ermittelt. Dort gab es 2015 unter den insgesamt 430 Unfällen mit Lkw aller Gewichtsklassen 146 Unfälle mit Lkw über 7,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht (zGG). 81 davon wurden durch Lkw-Fahrer verursacht.

Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) hat nun die Zahlen einer Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes (Destatis), ebenfalls aus 2015, über die bundesweit insgesamt 1.707 Unfälle mit Personenschaden und Lkw-Beteiligung genau betrachtet. 566 davon waren Unfälle mit Lkw, bei denen ein umgangssprachlich "Notbremsassistent" genanntes AEBS-System (Advanced Emergency Braking System) Einfluss hätte nehmen können.

AEBS verpflichtend für Neufahrzeuge

Diese sind seit November 2015 in der Stufe 1 für nahezu alle Neufahrzeuge ab acht Tonnen zGG verpflichtend (ausgenommen sind zum Beispiel Baustellenfahrzeuge mit Blattfederung). Stufe 2 gilt ab November 2018. Diese beiden Stufen ergeben sich aus der Durchführungsverordnung 347/2012/EC und der entsprechenden UNECE-Regelung 131 über die AEBS-Vorschriften. Sie wurden allerdings, wie an der Kennung der Verordnung leicht zu sehen ist, 2012 auf dem damaligen Stand der Technik für die Zukunft festgelegt. Sie bestimmen, was die Systeme unter idealen Bedingungen, also bei einem gut abgestimmten Lastzug mit optimalen Reifen auf trockener Fahrbahn, leisten müssen. Der Unterschied zwischen den Stufen liegt im Detail: Bei Stufe 1 muss der Lkw auf ein rollendes Hindernis abbremsen und vor einem stehenden Hindernis die Geschwindigkeit deutlich reduzieren. 

Die Stufe 2 verlangt mehr: Sie bedeutet die Bremsung auf ein vom AEBS erkanntes stehendes Ziel, die automatische Geschwindigkeitsreduzierung von 80 km/h auf 60 km/h (Stufe 1 auf 70 km/h) und weiterhin die Bremsung auf ein bewegtes Ziel. Das heißt: Bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 80 km/h darf keine Kollision auf ein mit konstanter Geschwindigkeit von 12 km/h fahrendes Zielfahrzeug erfolgen (in der Stufe 1 noch 32 km/h). Aber Achtung: Von einem gesetzlich definierten Stehenbleiben vor einem stehenden Hindernis oder gar einem Stauende ist in der Verordnung keine Rede.

ABA3 führt selbstständige Vollbremsungen aus

Nun haben fünf der sieben Hersteller ihre jeweiligen AEBS-Systeme (mit Radar oder Radar-Kamera-Messung) mittlerweile über die Vorgaben hinaus optimiert. Etwa Mercedes: die Marke führte bereits 2006 im Actros den ersten Active Brake Assist (ABA) ein. Das aktuelle System entspricht der dritten Generation (ABA3) und kann seit 2012 deutlich mehr als es Stufe 2 vorschreibt. Es führt laut Hersteller selbstständig eine Vollbremsung auf vorausfahrende und stehende Hindernisse aus. Der jetzt auf der IAA vorgestellte ABA4 bremst sogar für Fußgänger. Als Serienausstattung bietet Mercedes allerdings nur die gesetzlich geforderte Stufe 2 an. Alle anderen Systeme kosten einen Aufpreis.

Volvo und Renault Trucks – hier ist das Volvo-System baugleich verbaut – bremsen mit ihren jeweils aktuellen Baureihen den Lkw unter idealen Bedingungen bis zum Stillstand ab. Auch MAN schafft das seit Juli 2015 mit der Generation 2 des EBA. Scania wiederum verfügt laut Aussage aus Södertälje mit dem AEB ebenfalls "über eine höhere Performance, als es die Regularien (Stufe 2) erfordern, besonders bei stationären Zielen und sollte eine Kollision auf ein stationäres Ziel verhindern – falls dies möglich ist". Das gilt sowohl seit 2015 für die R-Baureihe als auch für die neue S-Baureihe. Eine Garantie, dass es nicht zu einem Aufprall kommt, gibt es jedoch nicht. Nur Iveco und DAF sprechen für ihre aktuellen Modelle zwar von einer Bremsung im Sinne der Stufe 2 des Gesetzgebers, haben aber einen Stillstand vor einem Stauende nicht vorgesehen.

Todesfälle hätten durch optimales System verhindert werden können

Zum einen, weil es der Gesetzgeber ebenfalls nicht vorgesehen hat, und zum anderen, so die eigene Angabe, weil man in der eigenen Philosophie die Gefahr von Fehlbremsungen und die damit verbundenen Auswirkungen auf die nachfolgenden Lkw als schwerwiegender einschätzt. Fakt ist aber, dass die dort bislang verbaute Lösung von Zulieferer Wabco die Leistung der Systeme der Wettbewerber nicht erreicht. Erst das auf der IAA von Wabco vorgestellte OnGuardMAX wird die beiden Hersteller – ab Einbau in die Lkw – auf den aktuell bestmöglichen technischen Stand bringen.

Zurück zu den 566 Unfällen aus der Statistik des DVR. Dessen Experten haben nun folgende neue Rechnung aufgestellt: Von den 104 AEBS-relevanten Unfällen mit Todesfolge hätten 37 mit einem Notbremsassistenten der Stufe 2 und sogar 98 mit einem optimalen System verhindert oder zumindest deutlich abgemildert werden können. Bei den anderen Unfallkategorien sieht es ähnlich aus. Bei Unfällen mit Schwerverletzten wären statt 701 Personen nur 559 (mit AEBS Stufe 2) beziehungsweise 671 (optimales AEBS) schwer verletzt worden. Ein ähnliches Bild zeichnet sich bei den insgesamt AEBS-relevanten Unfällen mit 527 Leichtverletzten ab: minus 178 mit AEBS Stufe 2 und sogar minus 473 mit optimalem AEBS.

Empfehlung soll in Gesetzgebung übernommen werden

Anders gesagt: Die verheerende Bilanz des schwarzen Dienstags hätte es so wohl nicht gegeben, wenn in allen Lkw die bestmög­lichen AEBS verbaut gewesen wären. Doch sind nach der Meinung eines Unfallexperten von Volvo bei allen derzeit durch Deutschland fahrenden Lkw nur etwa 20 Prozent überhaupt mit einem AEBS-System ausgestattet. Vorbildlich beim Einbau von AEBS-Systemen sind demnach die Unternehmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. 

Wegen der steigenden Unfallzahlen haben die Verkehrsminister der Bundesländer bei ihrer Jahreskonferenz beschlossen, eine deutliche Verbesserung der vorhandenen AEBS-Systeme zu empfehlen und vor allem eine permanente Abschaltung zu unterbinden. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt soll nun auf internationaler Ebene durchsetzen, dass diese Empfehlung in die Gesetzgebung aufgenommen wird. Allerdings wird es wohl mit oder ohne eine möglicherweise in Zukunft geänderte Verordnung aus Brüssel noch mindestens acht bis zehn Jahre dauern, bis nahezu alle Lkw mit den bereits optimal wirkenden AEBS-Systemen ausgestattet sind.

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
FF 12 2016 Titel
FERNFAHRER 12 / 2016
7. November 2016
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7. November 2016
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