JansBlog Tod am Stauende

Foto: Autobahnpolizei Köln
Meinung

Ein schwerer Unfall auf der A5 zeigt, dass immer noch viele Lkw ohne Notbremsassistenten auf Deutschlands staugefährdeten Transitautobahnen unterwegs sind.

Der 64-jährige Fahrer eines ungarischen Transportunternehmens hatte vermutlich keine Chance, als er in den frühen Morgenstunden des 3. Oktobers mit unglaublicher Wucht bei Bickenbach auf der A5 in das Heck eines Sattelzuges raste. Rund anderthalb Stunden zuvor hatte sich nach einem Unfall ein Stau gebildet. Das Fahrerhaus des Ungarn wurde wie zu einer Flunder zusammengedrückt. Warum der Fahrer den Stau übersehen hat, müssen die laufenden Ermittlungen klären. Nur eines steht fest: Der Renault T des auf Luftfrachtverkehre spezialisierten Frachtführers war, wir mir Renault Deutschland auf meine Nachfrage mit großer Betroffenheit schrieb, im Jahr 2014 zugelassen und folglich noch nicht mit einem Notbremsassistenten ausgestattet.

Jeden Werktag mindestens ein Stauendeunfall  

Seit der verpflichtenden Einführung der lebensrettenden Fahrerassistenzsysteme in neuen Lkw ab November 2015 beschäftigt mich die Frage, warum es weiterhin jeden Werktag zu mindestens einen, oft sogar bis zu drei dieser fatalen Unfälle kommt. Insbesondere auf den Transitrouten wie der A2, der A3, der A4, der A6 und der A8. Ich erhalte jeden Tag die Meldungen der lokalen Medien, und es ist jedes Mal dasselbe schreckliche Bild: eingedrückte Fahrerhäuser, schwer verletzte Fahrer, die von der Feuerwehr aus dem Haufen Blech geschnitten werden und noch lange an den Folgen einer wahrscheinlich kurzen Unaufmerksamkeit leiden müssen. In den seltensten Fällen stellen die Sachverständigen nach Auswertung der Daten des Tachos fest, dass der Fahrer vorher gegen die Lenk- und Ruhezeiten verstoßen hat. Als eine der möglichen Ursachen stellt sich immer öfter Ablenkung heraus. In meinem Blog "Wenn Blicke töten“ bin ich dieser Ursache bereits nachgegangen.

Wenn es ganz besonders schlimm ist, geraten auch immer wieder Pkw dazwischen, so wie im letzten Jahr auf der A6 bei Nürnberg. Durch eine fatale Entscheidung hatte ein deutscher Fahrer den Notbremsassistenten seines Lkw übersteuert, der Lkw war nahezu ungebremst auf einen stehenden Sattelzug gerast. Von der fünfköpfigen Familie, die dort in der Falle saß, überlebte nun der Vater: schwer verletzt und bis heute vollkommen traumatisiert.

Mutmaßungen in den sozialen Medien

Viele deutsche Lkw-Fahrer posten mittlerweile diese Unfälle auf Facebook, ich mache es auch gelegentlich, ein wenig in der Hoffnung, dass abschreckende Bilder die Kollegen, ähnlich wie bei der Anti-Raucher-Kampagne, zur Vorsicht mahnen. Offenbar vergebens. In den Kommentaren sind allerdings zwei Tendenzen zu erkennen: Zum einen wird der Vorwurf laut, dass die Fahrer, die in einen Stauendeunfall verwickelt sind, permanent oder kurz zuvor diesen Notbremsassistenten deaktiviert hätten. Und zum anderen, dass es immer wieder die Fahrer aus Osteuropa sein sollen, die viel zu dicht auffahren, viel zu schnell und extrem gefährlich überholen und immer wieder anderen Lastzügen ins Heck rasen. Offizielle, wenn auch seltene Zahlen von Abstandskontrollen verweisen immer wieder auf ein Verhältnis der Abstandssünder aus Deutschland und dem Ausland von etwa 50 zu 50. Doch diese Kontrollen sind Stichproben. Die nächtliche Realität auf den Autobahnen sieht offenbar anders aus. Vergeblich fordern deutsche Fahrer konsequentere Kontrollen der Polizei.

Bekanntes Muster – die Kettenreaktion

Vielfach sind es Kettenreaktionen in Dreiergruppen, die Unfallmeldungen wie jetzt von der A3 bei Würzburg lesen sich dann oft so: "Nach derzeitigem Ermittlungsstand hatte zunächst ein 65 Jahre alter Lkw-Fahrer seinen Sattelzug verkehrsbedingt im stockenden Verkehr abbremsen müssen. Ein von hinten herannahender zweiter Lkw-Fahrer bremste seinen Laster anschließend ebenfalls stark ab. Der 46-Jährige mit dem Sattelzug dahinter erkannte die Situation offenbar zu spät und fuhr in den zweiten Sattelzug. Der Aufprall war so heftig, dass das Führerhaus des 40-Tonners abgerissen wurde und der 46-Jährige darin eingeklemmt war.“

Das Blatt wendet sich

Bereits im FERNFAHRER 1/2017 hatte ich anhand einer Abstandskontrollean der A2 eine Statistik der Polizei in Niedersachsen aus dem Jahr 2015 zitiert. Untersucht wurden 151 Verkehrsunfälle auf Autobahnen und mehrspurigen Bundesstraßen mit schwer verletzten oder getöteten Personen und Lkw-Beteiligung. 85 dieser Unfälle wurden demnach von Lkw-Fahrern verursacht. Davon gingen 55 auf das Konto von deutschen Fahrern, also rund 65 Prozent. Bei Unfällen am Stauende ergibt sich ein ähnliches Bild: 61 Unfälle, 49 von Lkw-Fahrern verursacht, darunter 34 Deutsche, entspricht 69 Prozent. Dieses Blatt hat sich nun gewendet. 2016 wurden in Niedersachsen erstmals mehr Unfälle von ausländischen Lkw verursacht. Also bin ich Frage nachgegangen, ob es dafür eine Erklärung gibt.

Weniger Notbremsassistenten in ausländischen Lkw

Es gibt sie wahrscheinlich dank der Hilfe von Dr.-Ing. Erwin Petersen, Vizepräsident der Landesverkehrswacht Niedersachsen und ausgewiesener Experte für Fahrerassistenzsysteme. Vielleicht bin ich nun der möglichen Antwort auf dieses Phänomen wieder ein klein wenig näher gekommen. Seinem Vortrag, den er am 8. November beim Zukunftskongress Nutfahrzeuge hält, darf ich hier ein wenig vorgreifen.Petersen hält es für durchaus möglich, dass dieser für Niedersachsen bewiesene Umstand, für den es allerdings noch keine bundesweite Erhebung gibt, darauf zurückzuführen ist, dass Lkw aus dem europäischen Ausland eine deutlich geringere Ausstattungsrate mit Notbremsassistenten haben. Akribisch hat Petersen für die Jahre 2015 und 2016 analog zu den Marktanteilen der sieben europäischen Lkw-Hersteller errechnet, wie viele Lkw mit einem zulässigen Gesamtgewicht über 12 Tonnen die Sicherheitstechnik an Bord haben müssten.

Die Zahlen belegen es: Ende 2016 erreichten die in Deutschland zugelassenen Lkw im Mittel eine Ausstattungsquote von 45 Prozent in den Fernverkehrsfahrzeugen (gegenüber 27 Prozent im Jahr 2015). Dabei zeigt sich deutlich der Unterschied vom Marktführer mit 65 Prozent zum Marktsiebten mit 25 Prozent – was Petersen auf den technologischen Vorsprung zurückführt, Die Lkw aus dem EU-Ausland sind im Mittel jedoch nur mit 36 Prozent (gegenüber 16 Prozent im Jahr 2015) ausgestattet. Der Marktführer kommt hier auf 46 Prozent, der Marktsiebte auf 25 Prozent.

Mit anderen Worten: Ungeachtet der Frage, ob ein Fahrer seinen elektronischen Schutzengel vor einem Unfall deaktiviert hatte oder nicht – die Gefahr, dass ein Lkw aus Osteuropa ohne einen Notbremsassistenten in ein Stauende rast, ist schlicht und einfach größer.

Wenn Literatur auf Wirklichkeit trifft

Auf dem fiktiven Stauendeunfall eines rumänischen Kühlzuges auf der A4 bei Frechen basiert die Handlung von Jan Bergraths neuem Faction-Thriller "Spur der Laster“. Es ist der achte Kriminalroman des langjährigen FERNFAHRER-Autors. Am 11. Oktober wird das Werk auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Das zugrunde liegende Thema ist der Dumpingwettbewerb in der internationalen Logistik, ausgelöst durch eine "Geiz-ist-Geil"-Mentalität der Verbraucher, die sich im Grunde nicht dafür interessieren, wie die Waren in den Laden kommen. Insbesondere das Sozialdumping mit Lkw-Fahrern aus den mittel- und osteuropäischen Ländern findet praktisch in einer Parallelwelt statt – auf den Autobahnen und Autohöfen. "Spur der Laster" ist in Köln und im Logistikzentrum Köln-Eifeltor angesiedelt.  

Kontrast Verlag, ISBN: 978-3-941200-59-3, Preis: 9,90 € (D), 10,20 € (A)

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