Hilfskonvoi nach Albanien Über den Tellerrand geschaut

Abenteuer Hilfskonvoi nach Albanien Foto: Volker Hammermeister 24 Bilder

17 Züge, 4.600 ­Kilometer, Polizei-Eskorte und ­Ministerempfänge: Dieser private Hilfskonvoi bricht alle Rekorde.

Frage: Was haben Akademiker, Unternehmer und Fernfahrer gemeinsam? Zum Beispiel diese Idee: Man gehe auf die Ochsentour und klappere in ganz Deutschland Altenheime, Krankenhäuser oder Arztpraxen ab. Dann wird erklärt, worum es geht. Es öffnen sich meistens bereitwillig die Türen zu den Abstellkammern, Kellern und Archiven. Dort findet sich, was das Herz begehrt: Rollstühle, Gehhilfen, Krankenhausbetten, ausrangierte ­Küchen, Behandlungsstühle oder Röntgengeräte. Das hat die Wohlstandsgesellschaft in Deutschland ausgemustert, eigentlich immer im funktionsfähigen Zustand, weil etwa die Rollstühle aus hygienischen Gründen pro Patient nur einmal verwendet werden dürfen.

In Deutschland ausgemustert, am Balkan wertvolle Hilfe

Die Sachen sind jetzt eher ein Problem, denn sie müssten entsorgt werden. Und da klopfen diese Engel an. Allen voran und unglaublich engagiert das Organisationstalent Hermann Munzel aus Weyhe bei Bremen. Der hatte die Idee: Warum nicht einsammeln, was niemand mehr braucht oder benutzen darf, und es dorthin bringen, wo Menschen es dringend benötigen, weil es einfach an allem so gnadenlos klemmt, etwa in Mazedonien, im Kosovo oder in Albanien?

Super Idee, aber nicht ganz unproble­matisch. Denn wer fragt, muss die Sachen sofort abtransportieren. Der Entsorger wartet schon. Dann stellt sich direkt die Frage: ­Wohin damit? Es sind Transportkapazitäten ­nötig und Lagerräume. Die Fahrt in die ­Empfängerländer ist da nur die Spitze des Eisbergs. Das ist übers Jahr jede Menge ­Arbeit, braucht einen sehr langen Atem, hält einen dafür aber geistig sehr flexibel.

Hilfstransporte als Therapie

Hermann, auf der Straße wird geduzt, ist Psychiater in einer Gemeinschaftspraxis. Er blickt auf ein langes Berufsleben zurück. "Das gibt dir zwar Routine, gleichzeitig habe ich aber auch das Gefühl, ich werde immer dünnhäutiger." 20 bis 30 Patienten täglich sind ein unglaublicher Schlauch. Und Hermann betreut sie oft über Jahre, ganze ­Lebensabschnitte lang. "Der Stress des ­modernen Lebens oder Existenzängste, weil der Job bedroht ist, fordern ihren Tribut." Das geht dem 60-Jährigen an die Nieren und lässt ihn nicht mehr zur Ruhe kommen. Hermanns Lösung ist jedoch weder Alkohol noch Drogen, Spielsucht, Flucht in virtuelle PC-Welten oder Medienrausch. Er schaltet an seinem Feierabend am besten ab, indem er Hilfstransporte organisiert. Dabei unterstützt ihn die ganze Familie. Seine Frau Tina sowie die Töchter Lisa und Lena sind ebenfalls im psychologischen Fach tätig.

Hermann kennt auch die Leidenschaft. Er fährt mit Hingabe Motorrad und Lkw. Den Führerschein hat er beim Bund gemacht und damit später sein Studium finanziert. Er fuhr über sechs Jahre lang regelmäßig für eine Spedition und legte seine Vorlesungen und Seminare an der Uni so, dass er Job und Ausbildung kombinieren konnte. Als Fern­fahrer war er bald so weit, dass er die neuen Kollegen einweisen durfte. Als Motorrad­fahrer liebt er die Ziele in der Ferne. Da bot der Verein "Eurobiker" den richtigen Rahmen. Es ging darum, Grenzen zu überwinden und andere Kulturen kennenzulernen. Das war dann irgendwann nicht mehr genug.

Motorradclub hilft tatkräftig mit

Die Idee der Hilfstransporte wurde 2004 geboren. Die Güter schleppte am Anfang nur ein einziger Sattelzug. Der war bald ­damit über­fordert. 2011 gründete Hermann dann den Verein Biker-Brummi-Hilfe e. V., um mit einer kleineren Organisa­tion spontaner reagieren zu können. Ende Mai 2014 und elf Charity-Aktionen ­später sind es nun schon 17 Lastzüge mit 40 Tonnen an Bord, die in das Dreiländereck Mazedonien, Kosovo und Albanien rollen.

Wer solche Rekorde aufstellt, muss mit Folgen rechnen. Die aktuelle Hilfsaktion steht unter der Schirmherrschaft des deutschen Außenministers und des Europäischen Parlaments. Vor Ort organisieren Freunde aus den Motorradclubs die Details der ­Aktion, etwa die "Eurobiker Charity Croatia", die "Bären von Kumanovo" oder die "Eurobiker Kosovo" mit ihren Präsidenten Zlatko Blasevac, Jovica Ginovski und Isaja Bujar, der wenige Tage vor dem Start der Aktion bei einem Unfall ums Leben kam. Der Konvoi wird an den Entladestationen herzlich empfangen. Minister sprechen Grußworte, Kameras surren, Blitzlichtgewitter. Die Adressaten der Hilfe sind Krankenhäuser, Altenheime oder Einrichtungen für geistig behinderte Menschen. Ein besonderes Projekt ist die Fußball-Akademie in Zllakuqan, Kosovo, für die Geld gesammelt wurde. Diese Ausbildungsstätte liegt besonders Dr. Vilson Mirdita, Botschafter des Kosovo a. D., am Herzen, der die Tour von Anfang an begleitet.

Biker regeln die Formalitäten

Die organisierten Biker im ehemaligen Jugoslawien sind mit ihren dicken Maschinen, den schweren Lederjacken und breiten Schultern durchaus von der robusten Sorte. Aber sie stehen in diesen Ländern auch für eine Struktur, die funktioniert. Ohne sie klappt einfach kein Hilfstransport von außen. Hermann: "Die haben manchmal mehr zu sagen als die Polizei." Die Motorradfahrer verhandeln mit den Zöllnern, organisieren Unterkünfte und das Abladen bei den Hilfeempfängern. Viele Kriegsveteranen stecken in der schwarzen Kluft und tragen ihr Logo auf der Jacke. Relativ junge Fahrer und Fahrerinnen mit aktiver Kriegserfahrung – eine ungewohnte Begegnung.

Die Hilfsgüter wurden in Deutschland ausrangiert, das heißt, sie haben Gebrauchsspuren, manchmal auch deutliche. Allerdings sind sie tausendmal besser als alles, was im Land ist. Wer eine Einrichtung wie das Bezirkskrankenhaus in Kumanovo (Mazedonien) besucht, bekommt eine Vorstellung davon. Auf den ersten Blick spricht die Architektur des Neubaus aus den 80er-Jahren durchaus an.

Krankenhäuser in schlechtem Zustand

Aber dann fallen die vielen elektrischen Leitungen auf, die einfach aus den Fenstern hängen und sich wie ein Spinnennetz an der Fassade verknoten. Daran pendelt dann noch eine Außenleuchte im Wind. Der Kabelstrang ist an den nächsten Baum genagelt und verschwindet irgendwo in einer Baracke. Im Hof stehen ehemalige Rettungsfahrzeuge und rosten im hohen Gras vor sich hin. Die Scheiben sind blind vor Dreck. Treppenstufen des Gebäudes sind zerschlagen, Geländer abgerostet. Innen verschlissene Möbel, Farbe, die sich über dem Operationstisch von der nassen Decke schält, jahrzehntealte Desinfek­tionsgeräte, eine Patienten­toilette, die man Menschen nicht zumuten möchte. Nur ein Narkosegerät für fünf OP-Säle. Hier wurde 30 Jahre lang nichts investiert, gar nichts. Der Hilfstransport aus Deutschland ist die erste Unterstützung überhaupt.

Dann fällt auch nicht ins Gewicht, dass die Helfer beim Ausladen nicht die größte Sorgfalt walten lassen. Da splittert schon mal Holz und etwas zerschellt auf dem Boden. Hermann: "Das kriegen die hin. Das wird alles wieder repariert." Es sind einfach andere Maßstäbe als in Deutschland, ein tiefer Blick über den Tellerrand und eine kulturelle Erfahrung für jeden Teilnehmer.

Teilnehmer aus allen Schichten

Polizisten wechseln sich entlang der rund 4.600 Kilometer langen Strecke ab. Sie eskortieren den Tross und sorgen an den Mautstationen für freie Durchfahrt. Sie wissen vermutlich nicht, dass hinter dem Steuer eines Mercedes-Zugs ein deutscher Kollege sitzt, Patrick Gralla – mit 29 Jahren ­einer der jüngeren Teilnehmer, der älteste ist 76. Patrick hat Urlaub genommen. Er ist bei der Bereitschaftspolizei in Bremen. Seine Freundin kennt Lena, die Tochter von Hermann Munzel. So ist er zum Konvoi gekommen. Er fährt schon die zweite Tour. Im letzten Jahr ging’s nach ­Bosnien. Da blieben Erinnerungen, die nachdenklich machen: "Rote Schilder mit Totenkopf am Straßenrand, die vor einem verminten Feld warnen." Oder Einheimische, die auf einem Spaziergang oberhalb eines Sees völlig entspannt erzählen, wo sie einst den Serben aufgelauert haben.

Auch Dieter Wienberg kennt Familie Munzel, "schon lange, über unsere Kinder". Er besitzt einen großen Kartoffelhof, aber ist nur noch selten auf dem Acker. Er sitzt lieber an einem Steuer seiner zwei Lkw, mit denen die Kartoffeln transportiert werden. Ist die Ernte vorbei, stapeln sich in seinen Hallen Spenden für die Hilfstransporte.

Michael Faste ist ebenfalls Unternehmer, Chef einer Druckerei in Kassel. Er fährt den perfekt restaurierten Volvo F12 1220 und findet es gut, dass er als bekennender Oldiefan seine Leidenschaft mit einem sinnvollen Auftrag verbinden kann. Für die Image-Initiative Vtop ist das Engagement im Verein im wahrsten Sinne des Wortes Ehrensache und der Konvoi passt zum selbst gesetzten Ziel, das Ansehen der Fahrer in der Öffentlichkeit zu verbessern. Vilson Mirdita, Botschafter a. D. des Kosovo, betont den kulturellen und sozialen Aspekt: "Hier kommen Menschen über die Landesgrenzen hinweg zusammen." Aber er erkennt auch eine politische Chance für den Unruheherd Balkan. "Die Völker müssen übergeordnete Regeln akzeptieren. Die könnten von der EU kommen. Die Situation stabilisiert sich, wenn die Leute Arbeit haben, statt herumzusitzen und auf dumme Gedanken zu kommen." Der Konvoi ist ein richtiger Schritt auf einem langen Weg.

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